XL

Verschiedenheit unsres Gedichts von den Werken der Alten – Mangel an sinnlichem Reichthum

[216] Wenn wir so eben von einer gewissen Aehnlichkeit dieses Göthischen Gedichts mit den Werken der Alten redeten, so ist es unmöglich, nur irgend lange bei derselben zu verweilen, ohne noch stärker an den mächtigen Contrast erinnert zu werden, in welchem es mit denselben steht. Zwar ist es unläugbar in einem hohen und ächt antiken Style gedichtet; allein diess hindert nicht, dass es nicht sowohl in der Behandlung des Stoffs, als selbst in der Art der Darstellung den Charakter unserer Zeit auf eine gleich unverkennbare Weise an sich trägt. Vielmehr finden wir, wenn wir genauer[216] in diese Vergleichung eindringen, statt einer blossen Nachahmung des Alterthums eine überraschend schöne Vereinigung der wesentlichsten Vorzüge der alten Kunst mit den Fortschritten und Verfeinerungen neuerer Zeiten.

Den ersten Unterschied treffen wir in der Art der Darstellung und dem Tone des Vertrags an.

Die Alten zeichnen fast durchaus nur Gestalten, Bewegung und Handlung; ihre ganze Kunst ist lebendig, mannigfaltig und sinnlich. Die Begebenheiten, welche sie schildern, haben immer etwas Grosses und Glänzendes; sie reissen durch das Heroische in den Unternehmungen und die Wichtigkeit des Erfolgs zu enthusiastischer Bewunderung mit sich fort. Der Glanz, worin sie schon dadurch erscheinen, wird noch durch die beständige Mitwirkung überirrdischer Mächte erhöht. Menschen und Götter sind auf demselben Schauplatz mit einander vermischt; der natürliche Lauf der Ereignisse wird alle Augenblicke durch überraschende Wunder unterbrochen; und als wäre der Olymp selbst noch nicht gross und mächtig genug, so schwebt noch über Menschen und Göttern das furchtbare Schicksal, dessen Aussprüchen beide gehorchen müssen.

Die Personen, die sie aufführen, theilen nicht allein grossentheils zugleich denselben Glanz, sind Heroen, die zwischen dem Olymp und der Sterblichkeit in der Mitte stehen, sondern sie sind auch meistentheils nur nach ihren äussern Gestalten, ihren Handlungen, ihren Reden individualisirt, nicht, wie so oft bei den neueren Dichtern, nach ihren innern Charakterformen und Gesinnungen. Dadurch besitzt z.B. Homer eine so grosse Menge von Figuren, ohne gerade eine gleich grosse Anzahl bestimmt unterschiedener Charaktere aufzustellen. Was diese letzteren selbst betrift, so zeichnen die Alten entweder nur sehr stark und wesentlich von einander unterschiedene, nur die Hauptseiten der Menschheit, oder, wo sie in feinere Nüancen eingehn, unterscheiden sie dieselben wieder nur nach der äusseren Bildung. So findet man z.B., wenn man die Reihe idealischer Formen in den Werken ihrer Bildhauer durchgeht, die Hauptfiguren, einen Apoll und Bacchus,[217] eine Venus und Diana, selbst noch einen Jupiter und Neptun durch die wesentlichsten und auffallendsten Charakterzüge von einander gesondert; aber vergleicht man hernach diejenigen, welche näher zusammen gehören, z.B. die Heldenstatuen, so kennt man wohl ihre Züge wieder, aber ihren Charakter würde man vergeblich in hinlänglicher Bestimmtheit einzeln anzugeben versuchen. Indess werden wir auch zu diesem Versuche durch sie nicht eingeladen; nur ihre Züge sollen zu unsrer Einbildungskraft, nicht ihr Ausdruck gerade zu unsrem Geiste sprechen.

Könnte indess den Alten auch so noch etwas an sinnlichem Glanz und Reichthum mangeln, so wäre ihre Sprache allein mehr als hinlänglich, es zu ersetzen. So mahlerisch ist dieselbe in allen ihren Ausdrücken, so voll und üppig in dem Fluss ihrer Perioden, so wohlklingend in ihren rhythmischen Verhältnissen.

Alles diess zusammengenommen giebt der alten Kunst ein Leben und eine Fülle, eine sinnliche und einfache Grösse, eine so helle und glänzende Beleuchtung, dass ihr hierin die neuere niemals gleichzukommen vermag, wenn sie uns auch vielleicht dafür durch einen reicheren Gehalt für den Verstand und die Empfindung, eine feinere geistige Individualität und durch Töne, die unmittelbarer in unser Inneres eingreifen, entschädigen sollte.

Zwar kennen wir einige neuere Dichter, und unter diesen steht wiederum Ariost an der Spitze, welche in der Mannigfaltigkeit ihrer Figuren und der Bewegung ihrer Handlung vielleicht mit Recht mit den Alten wetteifern können. Allein in ihnen wird diese lebendige Sinnlichkeit durch das Feuer geweckt, von welchem ihre Empfindung entflammt ist. Sie sind mehr eigenmächtige Schöpfer einer bunten und gestaltenreichen Feenwelt, als treue Mahler einer reichen Natur. Es fehlt ihnen selbst an dem ruhig bildenden Sinn, ihren Werken an der reinen Objectivität, an der innern Nothwendigkeit der Formen.

Um den Vorzug dieser Objectivität, dieser Bestimmtheit und lichtvollen Klarheit der Schilderungen nun kann unser Dichter mit jedem andren streiten; mit jedem hält er in diesem[218] Punkt die Vergleichung aus. Aber stellen wir ihn unmittelbar demjenigen zur Seite, an den seine Gattung und sein Ton sonst am nächsten erinnert, dem Homer, so entbehrt er freilich jenes heiter stralenden Glanzes, jener unaufhörlich strömenden Fülle von Leben und Bewegung.

Er hat nicht Götter und Heroen, er hat nur Menschen hinzustellen; er hat keine Handlung, die das Glück von Nationen, von verschiedenen Völkerstämmen, das Schicksal der ganzen bekannten Welt entscheidet, an der Himmel und Erde zugleich Theil nehmen und über die der Olymp selbst sich in Partheien spaltet; was in seinem Stoff gross und weltverändernd ist, sind Begebenheiten, das, worin er Würde und Erhabenheit legen kann, Gesinnungen. Zwischen beiden steht seine Handlung mitten inne und seine Kunst muss nur suchen, von dem Glanze der ersteren derselben zu borgen und die Grösse der letzteren (damit sie lebendig und objectiv erscheinen) in derselben auszuprägen. Nicht sowohl also in der Welt, als in dem Inneren des Menschen muss er seine Stärke finden, und da dadurch unsre ganze Stimmung eine andre Richtung erhält, so tritt auch nun das Schicksal, dieser übermenschliche Gegenstand, ohne den keine dichterische Wirkung möglich ist, in veränderter Gestalt auf. Wenn dasselbe bei den Alten aus einer unsichtbaren Höhe herab mit seinen Schlägen Menschen und Götter überrascht, so gleicht es hier mehr einer Macht, die aus dem Innern der Menschheit, aber aus ihren nie ergründeten Tiefen entspringt, und flösst uns einen um so geheimnissvolleren Schauder ein, als wir es näher mit uns verwandt fühlen.

In den Personen, welche der Dichter uns darstellt, herrscht zwar Bestimmtheit der Zeichnung und Mannigfaltigkeit der Gestalten. Aber nicht allein dass jede einzelne sich in ein anspruchloseres und bescheidneres Gewand hüllen muss, so kann er auch überhaupt nicht nur keine grosse Anzahl derselben in Handlung setzen, sondern, indem er auf Reichthum der Figuren Verzicht thun muss, auch nur eine schöne Stufenfolge von Charakteren schildern.

Seine Sprache endlich ist zwar durchaus dichterisch und ausdrucksvoll, und wo der Gegenstand es verlangt, auch[219] gross und kühn; aber der Reichthum und die Pracht ihrer älteren Schwestern bleibt ihr darum nicht weniger fremd.

Vermag er indess nicht, den Alten gleich, durch sinnlichen Reichthum zu glänzen, so hat er es in seiner Gewalt, desto mehr durch einfache Wahrheit zu gelten; kann er die Sinne nicht gleich mächtig reizen, so kann er seine Dichtung desto tiefer in unsre Empfindung verweben, und wie viel er durch diesen Vorzug wiedergewinnt, werden wir gleich sehen, wenn wir nur erst noch jenen wenigstens scheinbaren Mangel in einem einzelnen Beispiel näher betrachtet haben. Dann wird sich zugleich unfehlbar zeigen, wie dieser letztere gerade durch jene höhere Vortreflichkeit nur noch sichtbarer hervortreten muss.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 216-220.
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