XVI

Mittel, wodurch unser Dichter diese, der bildenden Kunst nahe kommende Objectivität erlangt

[164] Wir haben schon oben bemerkt, dass der Dichter, gerade weil er auch unmittelbar auf den Verstand und das Herz einzuwirken vermag, mehr als ein anderer Künstler Gefahr läuft, weniger ausschliessend die Einbildungskraft zu beschäftigen. Wenn er aber auch diesen Fehler vermeidet und sich streng in dem Gebiete der Kunst erhält, so hat er es doch immer in seiner Gewalt, mehr den Geist und die Empfindung in Bewegung zu setzen und die leichte und reine Wirkung auf die Sinne zu verschmähen. Von beiden Seiten betrachtet, kann er sich daher gegen den Künstler überhaupt und gegen den bildenden insbesondere in einer Art von Gegensatze befinden.

Wir erwähnen hier der Kunst überhaupt und der bildenden insbesondere als beinahe gleichbedeutend; wir scheuten uns schon im Vorigen nicht, den Styl unsres Dichters dem Styl der bildenden Kunst verwandt zu nennen, ohne darum den Vorwurf zu fürchten, dass er, was allemal fehlerhaft ist, eine ihm fremde Gattung nachahme. In der That aber ist auch die bildende Kunst mit der Kunst überhaupt äusserst nah und näher, als die Dichtkunst verwandt. Denn sie ist rein darstellend und sinnlich; und diese beiden Eigenschaften sind auch im allgemeinen Begriffe der Kunst die herrschenden. Wenn man daher von einem Gegensatze der Poesie mit der Kunst spricht, so kann man an keine andren Merkmahle derselben, als an diese beiden, also an die Seite denken, von welcher die Kunst überhaupt der bildenden insbesondere am nächsten kommt.

Herrmann und Dorothea nun ist nicht bloss von einem solchen Gegensatze frei, der reine, ächte und allgemeine[164] Kunstsinn, welcher diess Gedicht beseelt, zeigt auch vielmehr, dass das Genie des Dichters, der es schuf, auf das innigste mit dem Genius aller Kunst verwandt und mit dem Gepräge gestempelt ist, welches die Kunst überhaupt, nicht diese oder jene einzelne ausschliessend bezeichnet – ein Vorzug, welcher ihm künftig (wir dürfen diess mit Sicherheit von der Gerechtigkeit der Nachwelt hoffen) unter allen neueren Dichtern eine vorzügliche Stelle anweisen wird. Denn in der That hat bis jetzt keine Nation einen andern aufzuweisen, der ihm hierin auch nur überhaupt nahe käme.

Unstreitig liegt der Grund hiervon darin, dass er mehr, als ein andrer die bildende Kraft der Phantasie in Bewegung zu setzen, mehr bloss den Gegenstand hinzustellen und damit seine ganze Wirkung hervor zubringen versteht. Indess ist diess immer noch nicht bestimmt und klar genug; auch andere Dichter sind gleich treue Mahler der Natur, ohne dass man ihnen doch darum diesen Vorzug in gleichem Grade einräumen darf. Man muss auch hier auf die Stimmung des Gemüths, in dem Dichter und in seinem Leser, zurückgehn; in ihr, in der Empfindung, mit der wir diesen Dichter und einen andren verlassen, liegt der feine, aber wichtige Unterschied. Auch hier zeigt es sich wieder, dass man es als den Grundirrthum aller bisherigen falschen ästhetischen Raisonnements ansehen kann, dass man im Objecte aufgesucht hat, was allein im Subjecte verborgen ist, wenigstens nur an diesem eigentlich beschrieben, in jenem bloss empfunden werden kann.

Da, wo ein solcher allgemeiner Kunstsinn vorwaltet, ist es durchaus klar, heiter, ruhig und leicht in der Seele; die Phantasie allein ist thätig und hier auf den äussern Sinn bezogen, wie er, was er vor sich sieht, treu und still in sich aufnimmt. In diesem Zustande ist sie nie verwirrt, weil sie jeden Umriss deutlich von dem anderen absondert, nie unruhig oder trübe bewegt, weil sie bloss beschaut, bloss Gestalten, Leben und Bewegung vor sich erblickt, nie schwer oder drückend, weil sie in dieser Verbindung am leichtesten ihre bloss idealische Natur beibehält. Wo hingegen[165] die besondere Natur der Dichtkunst (insofern die selbe nemlich, wie nun nach dem Vorigen klar seyn muss, der Kunst überhaupt entgegengesetzt werden kann) das Uebergewicht hat, da ist die Einbildungskraft entweder wirklich nicht rein oder allein thätig oder sie verliert doch durch die enge Verbindung, die sie nun mit dem Geist oder dem Herzen eingeht, von ihrer leichten und bloss objectiven Natur. Das Gemüth ist nun nicht mehr bloss mit dem Gegenstande beschäftigt, in jedem Augenblick wird zugleich die eigne Betrachtung oder die Empfindung rege, es ist ein unaufhörliches Uebergehen zu dem Subject, es ist mehr die Wirkung des Gegenstandes, als der Gegenstand selbst, dessen wir uns bewusst sind.

Das Eigenthümliche der Behandlung in dem einen und dem andren Falle zu zeigen, ist, wie wir schon im Vorigen bemerkten, schwer; indess giebt es doch Einen hierbei äusserst wichtigen Punkt, der schon bei einiger Aufmerksamkeit leicht ins Auge fällt. Wenn man die Poesie mit der Sculptur vergleicht, als welche am meisten dem reinen Begriffe der Kunst entspricht, so ist Ein Unterschied in beiden sogleich auf den ersten Anblick sichtbar. Die Sculptur (vorzüglich in dem einfachsten Fall, bei dem wir hier stehen bleiben, wo sie bloss eine einzelne Figur aufstellt) kann allein durch die Form, und da die Form immer nur auf der ganzen Gestalt ruht, allein durch das Ganze wirken; und wenn bei einer Statue wirklich nur ein einzelner Theil, ein Arm oder ein Fuss, gut gearbeitet, das Uebrige aber vernachlässigt ist, so gilt sie nur als ein schöner Arm, ein schöner Fuss, und der Begriff des Schönen wird nicht von diesem einzelnen Theil auf das Ganze übergetragen.

Der Dichter hingegen braucht nicht die ganze Figur hinzustellen; er kann nur den Theil zeichnen, und indem er die Schilderung desselben der Empfindung seines Lesers wichtig macht, diesen nöthigen, das Fehlende selbst auszumahlen. Sobald es ihm nun gelingt, z.B. in der Schilderung einer weiblichen Gestalt durch einen einzelnen Zug das Herz desselben zu gewinnen, so vollendet alsdann seine Phantasie von selbst nach demselben Maassstab und in demselben[166] Charakter auch die ganze übrige Figur und kommt also dem Dichter dadurch auf halbem Wege entgegen. Freilich ist aber auch die Schilderung dann minder objectiv; die Gestalt zeichnet sich dem Blick weniger bestimmt, die Empfindung ahndet mehr ihren Charakter, als dass ihre Umrisse dem Auge sichtbar würden.

Was wird daher der Dichter thun müssen, wenn er dem allgemeinsten und reinsten Begriff der Kunst treu bleiben will? Er wird das Ganze und nicht bloss einzelne Theile schildern, den Gegenstand zeichnen, nicht die Empfindung erregen müssen. Zwar thut er diess letztere doch und will es auch thun, allein nur durch den Eindruck des Ganzen, nicht durch den Effect einzelner Theile, nur durch den Gegenstand selbst, nicht unmittelbar durch einzelne ihm abgewonnene Züge; und gerade dadurch geschieht es reiner und besser.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 164-167.
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