XVII

Erläuterung des Gesagten an der Schilderung der Gestalt Dorotheens

[167] Um zu sehen, wie unser Dichter die Aufgabe einer wahrhaft künstlerischen Schilderung gelöst hat, wollen wir einmal das Gemählde vergleichen, das er uns von Dorotheens Gestalt giebt.

Nachdem Herrmann sie nur mit wenigen Zügen (S. 29.) so gezeichnet hat, wie er sie zuerst antraf, wie sie ihre schwangre Verwandte rettet und die Ochsen lenkt, die den Wagen führen, beschreibt er sie (S. 116. der neuen Ausgabe.) den Freunden, die unter den übrigen Ausgewanderten Nachricht von ihr einzuziehen abgeschickt sind.


Und Ihr werdet sie bald,

sagt er,

vor allen andern erkennen;

Denn wohl schwerlich ist an Bildung ihr eine vergleichbar.

Aber ich geb' Euch noch die Zeichen der reinlichen Kleider.
[167]

Also nur nach den Kleidern wird die Gestalt geschildert. Dadurch gewinnt der Dichter einen doppelten Vortheil. Er ist gewiss, bloss dem Auge zu mahlen, durch keine Nebenvorstellung die Aufmerksamkeit von der Gestalt abzuziehen, auf welche sie geheftet seyn soll; und zugleich kann er auf diese Weise die ganze Figur in allen ihren Umrissen zeichnen. Wählte er dagegen die Bildung selbst, so konnte er immer nur einzelne Theile schildern, die Gestalt nur beschreiben, nicht unmittelbar vor die Augen stellen. Auch zeigt er sie uns in der That vom Haupte bis zu den Füssen und wählt lauter solche einzelne Züge aus, welche die äussern Umrisse bezeichnen, die Wölbung des Busens, die Schlankheit des Wuchses, die Form des Kopfes. Vorzüglich sorgt er dafür, dass der Phantasie in dem ganzen Contour schlechterdings keine Lücke bleibe. Er zeichnet genau, wie über der Brust um den Hals sich das Hemde zur Krause faltet, wie das Kinn daran anstösst und sich der Kopf darüber erhebt, und auch abwärts vollendet er die Figur bis zum Knöchel herunter.

Allein diess ist ihm noch nicht genug; er will sie der Einbildungskraft nicht bloss zeigen, er will sie ihr unauslöschlich fest einprägen. Er verändert also die Stellung. Jetzt haben wir sie im Gehen gesehn; eine Strecke weiter zeichnet er sie uns (S. 140.) sitzend. Dieselbe Beschreibung kehrt mit denselben Worten zurück, nur mit den Veränderungen, welche diese Lage erfordert. Jetzt ist es, als hätten wir sie im Leben wirklich vor uns gesehen, wo auch dieselben Gestalten in mannigfaltigen Bewegungen erscheinen; jetzt hat sich uns diess Bild für die ganze Folge des Gedichts fest eingeprägt; wo sie nun auftritt, steht es vor uns da, begleitet alle ihre Worte, Gebehrden und Handlungen.

Die Wirkung, welche nun der Dichter durch diese einfache Schilderung hervorbringt, ist unendlich grösser, als wenn er unmittelbar in dieselbe mehr Gehalt gelegt, mehr das Herz seines Lesers dafür interessirt, mehr, wie sonst der Dichter so oft thut, bei der Gestalt zugleich auch den innern Charakter beschrieben hätte. Man kann es nicht genug wiederholen: die Hoheit, die Grösse, der innre Gehalt,[168] das, was man in einem Gedicht eigentlich Seele nennt, muss in dem Ganzen der Erfindung, der Handlung, der Personen, der Darstellung und des Tons liegen; es muss das Resultat der lebendigen Schilderung auf das gehörig gestimmte Gemüth seyn.

Der Dichter hat es daher immer nur mit diesen beiden Dingen zu thun: mit der anschaulichsten Darlegung seines Stoffs und mit der lebendigsten Stimmung des Lesers; diese beiden aber erreicht er, sobald er den Leser durchaus in die Mitte seiner Handlung versetzt; um alles Uebrige kann er schlechterdings unbekümmert bleiben. Er ist ja nur dadurch wahrer Künstler, dass er gerade das Höchste und Beste seines Geschäfts seinem Genie überlassen und sich für das, was er eigentlich, sich selbst bewusst, dabei thut, nur mit der verständigen Anordnung und der kunstmässigen Ausführung, also nur mit dem technischen Theile desselben zu beschäftigen braucht. Vor allen andren aber gilt diess von dem epischen Dichter, und es muss dem aufmerksamen Leser schon bei dem, was wir vorhin sagten, von selbst aufgefallen seyn, wie passend eine Schilderung, die nur Contoure, aber diese in der grössesten Vollständigkeit zeichnet, für eine Gattung der Dichtkunst ist, deren ganze Wirkung nur auf nie stillstehender Bewegung und ununterbrochener Stetigkeit beruht.

Ehe wir aber diese Stelle verlassen, müssen wir noch einen Augenblick bei den einzelnen Beiwörtern verweilen, mit welchen die einzelnen Theile der Gestalt bezeichnet sind. Kein einziges derselben hat für sich ein grosses und unverhältnissmässiges Gewicht; alle sind von der Art, wie sie sich für das blosse ruhige und uneingenommene Beschauen des blossen Sinnes schicken; alle zeigen die Bildung des Mädchens nur in reinlicher Zierlichkeit, in freier und heiterer Anmuth. Selbst die Stärke, die, mit der Leichtigkeit verbunden, den Hauptcharakter desselben ausmacht, ist gerade dahin verlegt, wo sie nur auf die Rüstigkeit des physischen Baus und ganz und gar auf keine Nebenvorstellung führen kann: in die Wölbung der Brust, die trefliche Grösse, die Länge und Schönheit des Haars. Dadurch ist die[169] Stimmung, welche diese, so wie überhaupt der Ton in allen Schilderungen dieses Gedichts hervorbringt, derjenigen ähnlich, in der wir gleichsam mit naturhistorischem, physiologischem Blick die Natur betrachten; und diese Stimmung ist ungleich poetischer, als die ihr entgegengesetzte sentimentale, bei der wir in der Natur eigentlich nur uns selbst sehen. Denn sie führt eine zwar langsamer, aber inniger eindringende Wärme und eine minder feurige, aber höhere und dauerndere Begeisterung mit sich.

Fragen wir aber weiter nach: wie kam der Dichter dazu, dass er gerade diese Art der Schilderung wählte? so ist die einfache Antwort die: weil es ihm nicht möglich war, eine andere anzuwenden. Herrmann ist es, der seine Geliebte beschreibt, und er ist der Mensch nicht, dessen Herz mit dem Ausdruck seiner Empfindung die einfache Darstellung dessen, was er gesehen oder vernommen hat, unterbricht; er beschreibt sie seinen Freunden, um sie sicher und schnell aus dem Haufen herauszufinden, und muss daher die Merkmahle auswählen, an denen sie dieselbe ohne Fehl wiederzuerkennen im Stande sind. An welchen andern nun ist diess leichter, als an den Umrissen der Gestalt, dem Schnitt und der Farbe der Kleidung?

Dass diess aber so ist, dass Herrmann diesen Charakter hat, ist wieder in andren Umständen, in andren Charakteren gegründet und diese wieder in andren und in dem Ganzen, so dass diese einzelne Schilderung mit allem zusammenhängt und durch alles bestimmt wird. Derselbe Geist also, den sie athmet, beseelt auch das Ganze, und was wir von ihr bewiesen haben, gilt zugleich von allen übrigen und von dem ganzen Gedicht selbst.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 167-170.
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