XXI

Zwiefache Gattung beschreibender Gedichte in Rücksicht auf ihre grössere oder geringere Objectivität – erläutert an Homer und Ariost

[178] Alle beschreibenden Gedichte stellen eine Reihe von Bildern, ein verbundenes Ganzes von Gestalten auf. Der Unterschied, den wir, geleitet durch die bisherigen Betrachtungen, hier unter ihnen festzusetzen im Begriff sind, besteht darin, ob sie mehr durch die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Figuren oder durch die Gestalt der einzelnen und die Verbindung aller zu einer Einheit zu wirken bestimmt sind, ob der Dichter seine Gruppen mehr als Massen oder mehr als Ganze behandelt hat, mehr durch Farbe und Colorit oder durch Form zu gewinnen strebt?

Auf diese Weise lässt sich dieser Unterschied objectiv angeben; subjectiv bestimmt läuft er darauf hinaus, ob es dem Dichter mehr auf eine gewisse bestimmte Thätigkeit der Einbildungskraft oder nur auf Thätigkeit überhaupt ankam? ob ihm mehr daran lag, dass sie gerade nur dieses oder jenes Bild oder bloss überhaupt in einem gewissen Ton und Rhythmus Bilder erzeugte?

Man sieht leicht, dass hier bloss die Frage ist: ob er mehr bildend oder mehr stimmend (musikalisch) wirkt? und dass dieser Unterschied sich bloss daraus ergiebt, dass man die allgemeine Eintheilungsformel, nach welcher sich alles entweder auf das Erzeugte, das Object, oder auf das Erzeugende, das Subject, bezieht, auf diesen einzelnen Fall, die verschiedene Möglichkeit der dichterischen Darstellung einer Handlung, anwendet.

Um diese zwiefache Gattung unmittelbar in einem Beispiel wiederzuerkennen, vergleiche man den Ariost und den Homer. Diess Beispiel wird gerade darum vorzüglich beweisend seyn, weil es kaum möglich seyn dürfte, bei gleich[178] grosser Verschiedenheit eine grössere Aehnlichkeit zwischen zwei durch so viele Jahrhunderte getrennten Dichtern anzutreffen. Wo lebt, seit Homer, in einem anderen Dichter eine solche Fülle und ein solcher Reichthum von Gestalten, wo eine solche nie stillstehende, sich immer wieder aus sich selbst erzeugende Bewegung, wo strömt ein so unversieglicher Quell ewig neuer und überraschender Erfindungen, als in den Gesängen Ariosts ? Welcher andere neuere Dichter erscheint nicht, von diesen Seiten mit ihm verglichen, arm und dürftig, ernst und feierlich, trocken und schwer? Wenn die höchste Bewegung und die lebendigste Sinnlichkeit das Wesen der Dichtkunst ausmachen, und niemand anstehen wird, dem Homer hierin den [höchsten] Rang einzuräumen; so gebührt dem Italiänischen Sänger unstreitig gleich die erste Stelle nach ihm.

Und doch welche ungeheure Verschiedenheit; wie stark gezeichnet vorzüglich der eben geschilderte Unterschied! Im Homer tritt immer der Gegenstand auf, und der Sänger verschwindet, Achill und Agamemnon, Patroklus und Hektor stehen vor uns da; wir sehen sie handeln und wirken und vergessen, welche Macht sie aus dem Reiche der Schatten in diese lebendige Wirklichkeit heraufgerufen hat. Im Ariost sind die handelnden Personen uns nicht weniger gegenwärtig; aber wir verlieren auch den Dichter nicht aus dem Auge, er bleibt immer zugleich mit auf der Bühne, er ist es, der sie uns zeigt, ihre Reden erzählt, ihre Handlungen beschreibt. Im Homer entsteht Begebenheit aus Begebenheit, alles hängt fest mit einander zusammen und erzeugt sich selbst eins aus dem andern. Ariost knüpft seine Fäden nicht nur lockrer zusammen, sondern wenn sie auch noch so fest verbunden wären, so zerreisst er sie selbst wie in muthwilligem Spiel und lässt immer mehr die Herrschaft seiner Willkühr, als die Festigkeit seines Gewebes blicken; er unterbricht sich mit Fleiss, springt von Geschichte zu Geschichte über, scheint (und darin liegt zum Theil seine grösseste Kunst versteckt) nur nach Laune an einander zu reihen, ordnet aber im Grunde nach den innern Gesetzen der Sympathie und des Contrastes der Empfindungen, die er in seinem Zuhörer weckt.[179]

Aber dieser Unterschied liegt bei weitem nicht bloss in der Composition des Ganzen; wir finden ihn eben so gut in jeder einzelnen Schilderung, in jeder einzelnen Stanze wieder. Homer beschreibt eigentlich nie; die Phantasie seines Lesers befindet sich nie in dem Zustande, wo sie, wie sonst der Verstand, bloss die einzelnen Züge, die ihr gezeigt werden, aufnimmt, an einander reiht und so ein Ganzes zusammensetzt; wie sie dem Sänger folgt, stehen die Gestalten vor ihr da, sie hat sie nicht von ihm empfangen und doch auch nicht allein erzeugt; auf eine unerklärbare Weise ist beides zugleich und auf einmal vor sich gegangen. Ariost beschreibt immer, zeigt uns immer absichtlich Zug für Zug; und obgleich die Einbildungskraft durch ihn gleichfalls frei und lebendig beschäftigt und ächt dichterisch gestimmt wird; so hat sie doch nie gleich rein bloss den Gegenstand und noch bei weitem weniger immer nur das Ganze vor sich; auch den Theil, auch die einzelnen Züge des Gemähldes hat der Dichter so behandelt, dass sie für sich die Phantasie gewinnen und sie von dem Ganzen abziehen. Im Homer ist durchaus bloss die Natur und die Sache, im Ariost immer zugleich auch die Kunst und die Person, sowohl die des Dichters, als die des Lesers. Denn wenn der Leser sich selbst vergessen soll, darf er nicht an den Dichter erinnert werden,

Beide besitzen einen hohen Grad der Objectivität, beide zeichnen sinnliche und lebendige Gestalten; aber nur in Homer leuchtet das Streben nach der vollendeten Darstellung Eines Gegenstandes hervor. Beide sind treue Mahler der Welt und der Natur, aber Ariost gefällt mehr durch den Glanz und den Reichthum seiner Farben, Homer zeichnet sich mehr durch die Reinheit der Formen, durch die Schönheit der Composition aus.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 178-180.
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