XXIX

Schilderung Herrmanns und Dorotheens

[192] Herrmann und Dorothea sind beide durchaus so gehalten, dass keine dieser beiden Gestalten vor der andern hervortritt. Wie sie in der Handlung, in der sie der Dichter zeigt, Eins sind, wie ihre ganze Seele nur gegenwärtig mit einander beschäftigt ist, so sind sie auch nur gleichsam als ein einziges Individuum geschildert. Ueberall erscheinen sie nur immer in Beziehung auf den andren, überall sieht man in dem einen auch den andren zugleich mit, und ihre beiderseitige Natur schmilzt eben so fest und vollkommen zusammen, als ihre Herzen unzertrennlich verbunden sind.

Aber (denn auch darin ist die Ordnung der Natur so schön beobachtet) Herrmann tritt überhaupt mehr und von Anfang allein auf; wir lernen Dorotheen nur durch ihn kennen, durch das ganze Gedicht erscheint sie immer nur als ihm bestimmt oder angehörend, und wenn sie am Ende einen Augenblick eine eigne Selbstständigkeit gewinnt, so geschieht es nur, um durch diesen Muth und diese Kraft der weiblichen Anhänglichkeit noch mehr Adel und Würde zu geben. Darum bleiben wir hier nur bei Dorotheens Schilderung stehen. Herrmann, als die Hauptfigur des Gedichts, zeichnet sich von selbst; indess werden wir doch bald sehen, dass auch er seine eigentliche Grösse von der Einbildungskraft des Lesers nur dadurch gewinnt, dass wir seine Gestalt in Dorotheens Wesen, wie in einem reineren Medium, wieder erblicken.

So tragen und heben beide Figuren sich immer nur gegenseitig; und indem die Phantasie, den fixen Punkt aufsuchend,[192] an dem das Ganze befestigt ist, immer von der einen zur andren hinüberschwanken muss, indem das Bild beider, wie ein Licht zwischen zwei Spiegeln, immerfort von der einen in die andre zurückgeworfen wird, erhalten sie immer schwellende und unendliche Umrisse.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 192-193.
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