XXXVII

Kurze Vergleichung dieser Schilderung mit dem im Vorigen Gesagten – Reine Objectivität derselben – so wie des ganzen Gedichts

[209] Wer nach dieser Schilderung Dorotheens, der wir mit Fleiss Schritt für Schritt gefolgt sind, ihr Bild in den verschiednen Momenten, die wir bezeichnet haben, zurückruft und sich dann an dasjenige erinnert, was wir diesem Gedicht eigenthümlich nannten, der wird sich nicht enthalten können, unsre Behauptung aufs pünktlichste und genaueste wahr zu finden.

Der Dichter hat die Gestalt des Mädchens nirgends eigentlich beschrieben; er hat sie selbst vor uns hingestellt. Er hat nie einzelne Theile für sich herausgehoben, sondern immer nur auf die Schilderung des Ganzen hingearbeitet; er hat nirgends überflüssige Farben aufgetragen, sondern immer nur die Umrisse der Formen gezeichnet; er hat nie gesucht, Viel und Mannigfaltiges, sondern immer nur Eins und ein Ganzes darzustellen. Dadurch hat er die Einbildungskraft seines Lesers genöthigt, sich ganz in den Gegenstand zu versenken, und ihr weder Freiheit noch Zeit gelassen, sich mit etwas andrem oder mit sich selbst zu beschäftigen, sie gezwungen, denselben durchaus rein und allein aus sich selbst zu erzeugen.

Um diess Letztere in vollem Maasse zu erreichen, hat er ihr den Grad und die Farbe ihrer Stimmung von Augenblick zu Augenblick vorgeschrieben und doch dabei verstanden, weder sich selbst je von seinem Stoff zu entfernen noch auch sie je von demselben ab in sich zurückzuführen. Denn statt, wie der lyrische Dichter da, wo er Schilderungen braucht, zu thun pflegt, unmittelbar Empfindungen zu erregen, die auf die Schilderung selbst zurückwirken, stimmt er seinen Leser vielmehr immer nur durch andere Bilder, immer durch Gestalten und Handlungen, die er jenen an die Seite stellt oder vor ihnen vorausgehn lässt, und indem er auf diese Weise durchaus objectiv bleibt, verwebt er alle einzelne Theile seiner Composition aufs festeste in einander.[209]

Die Kunst, wodurch er der Einbildungskraft seines Lesers diese vollkommne Objectivität und Gesetzmässigkeit einflösst und doch eigentlich mehr sie zu stimmen, als seinen Gegenstand ängstlich und Zug für Zug zu beschreiben beschäftigt ist, besteht bloss darin, seine eigne zu erwärmen und zu begeistern. Sobald seine Natur dichterisch genug ist, d.h. objectiv genug, um seinem Gegenstand auch dann noch, wenn er ihn ganz aus der Wirklichkeit heraushebt, die Form derselben zu erhalten (die Form, in welcher allein er durchaus sinnlich angeschaut werden kann), gesetzmässig genug, um in der unruhigsten innern Bewegung doch noch den Bedingungen getreu zu bleiben, welchen alles wirkliche Daseyn unterworfen ist, und mächtig genug, um in seine eigne Begeisterung auch andre mit fortzureissen – so entflammt seine Einbildungskraft (und diess ist das unbegreifliche Geheimniss der Kunst) von selbst die seines Zuhörers, nicht bloss überhaupt auch schöpferisch, sondern es gerade auf dieselbe Weise zu seyn. Indem er allen, die sich ihm nähern, denselben Zauber mittheilt, der ihn selbst fesselt, hat er es eigentlich nur für sich und mit seinem Gegenstande zu thun, ihn nur aus sich zu erzeugen und auf sich wirken zu lassen.

Dadurch gelangt er zu der reinen und hohen Objectivität, die wir nun stufenweis beschrieben haben; dadurch nöthigt er unsre Einbildungskraft, nicht bloss überhaupt bildend zu verfahren, nicht bloss überhaupt sinnliche Gestalten hervorzurufen, sondern ununterbrochen fort allein an der Erzeugung des Einen Gegenstandes zu arbeiten, der ihn selbst begeistert, und sich mit ihm nur durch die vollendete Darstellung dieser Einen Form zu befriedigen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 209-210.
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