XXXVIII

Schlichte Einfalt und natürliche Wahrheit unsres Gedichts

[210] Die erste Eigenschaft, die wir bis jetzt vorzugsweise an dem Göthischen Gedichte gewahr wurden, war seine reine und vollendete Objectivität; wir fügen nunmehr eine zweite hinzu, seine schlichte Einfalt und seine natürliche Wahrheit.[210]

Beide sind gewissermassen mit einander verwandt. Die erstere beruht auf einem rein beobachtenden und bestimmt bildenden Sinn, auf der Fähigkeit, die Natur in aller ihrer Wahrheit aufzufassen und in der ganzen Bestimmtheit ihrer Formen, der ganzen Festigkeit ihres Zusammenhanges wieder darzustellen. Einem solchen äussern Sinn muss ein ähnlicher innrer entsprechen. So wie jener sich in der äussern Natur vorzugsweise an ihrer Gesetzmässigkeit und ihrer Realität erfreut, so muss dieser dieselben Eigenschaften in dem Innern des Gemüths und dem Charakter der Menschheit aufsuchen. Er kann daher nur bei ihren grössesten, einfachsten und wesentlichsten Formen verweilen.

Wer sich in dieser Stimmung befindet, wird überall nur die Natur mahlen, nur sie in ihrem innern Charakter und ihrer äussern Gestalt. Er wird daher auch den Menschen am liebsten von den Seiten betrachten, von welchen er geradezu mit ihr übereinstimmt, lieber da, wo er als Gattung erscheint, als da, wo er in einer entschiedenen Eigenthümlichkeit auftritt. Die Einfachheit des Stoffs, den er schildert, wird auf seine Schilderung selbst übergehen. Er wird immer innerhalb des Tons ruhiger Darstellung bleiben, immer nur, indem er einen Theil an den andern anfügt, das Ganze hinzustellen bemüht seyn, nie mit seinem Ausdruck hinter der Sache zurückbleiben, aber auch nie mit demselben darüber hinausgehn. Er wird immer den treffendsten und kräftigsten in seiner Macht haben, nie aber einen bloss kühnen oder glänzenden suchen.

Das Gepräge einer solchen Einfachheit und Wahrheit nun trägt das gegenwärtige Gedicht in einem auffallenden Grade an sich. Es ist überall nur die Sache, die wir vor uns erblicken, und sie immer in ihrer wahren und nackten Gestalt. Aber noch mehr, als im Ton und der Sprache fällt diese Einfachheit in den Gesinnungen und Charakteren auf.

Es ist kaum möglich, ein einzelnes Beispiel für eine Behauptung herauszuheben, für die eigentlich alles zugleich spricht. Allein wenn es dennoch eines Beispieles bedarf, so erinnere man sich an die Schilderung der Mutter Herrmanns. Unter allem, was in der Natur einfach genannt werden[211] kann, ist kaum etwas andres, was diesen Namen in höherem Grade verdiente, als die Liebe einer Mutter zu ihrem Kinde. Aus der natürlichsten Verbindung entsprungen, durch die natürlichsten Verhältnisse fortgepflanzt, auf die natürlichste Sorgfalt für unmittelbares Glück und unmittelbare Zufriedenheit beschränkt, bietet sie – so ehrwürdig und schön sie auch in der Wirklichkeit erscheint – der dichterischen Einbildungskraft kaum eine einzige Seite dar, von welcher sie dieselbe durch eine hervorstechende Eigenthümlichkeit auszeichnen könnte. Nur der Dichter, der seiner Stärke gewiss ist, die Natur bloss als Natur geltend zu machen, darf sich an die Schilderung eines Gefühls wagen, das er nur, indem er es in seiner ganzen Grösse, in seiner durchgängigen Wahrheit auffasst, aus dem Gewöhnlichen herauszuheben und dichterisch zu halten im Stande ist. Denn unter allen andren ist keins, was so sehr, als diess entweder jede dichterische Behandlung verschmäht oder nur in dem reinsten und höchsten Style der Kunst eine glückliche Wirkung verspricht.

Aber wieviel einfacher wird dieses Bild mütterlicher Zärtlichkeit noch unter den Händen unseres Dichters! Er schildert nicht den Zustand heftiger Leidenschaft, nicht die qualvolle Furcht vor einem drohenden oder den zerreissenden Schmerz über einen erlittnen Verlust; auch bei ihm ist das mütterliche Herz um das Glück des Sohnes besorgt, aber diese Besorgniss entspringt mehr aus der Aengstlichkeit der Liebe, als aus der dringenden Lage der Umstände. Er zeigt uns nicht die Sorgfalt für die ersten Jahre der Kindheit, für den erst stammelnden Säugling – eine Lage, die durch die zarte Unschuld, die liebliche Anmuth, die abhängige Hülflosigkeit dieses Alters einen eigenthümlichen Reiz gewinnt. Er schildert uns die Mutter mit dem erwachsenen Sohn, also in Verhältnissen und Empfindungen, die, um unsrem Herzen wichtig zu werden, nichts als ihre einfache Wahrheit, ihre tiefe Innigkeit besitzen. In dem Charakter dieser Mutter selbst hat er alle Einfalt einer schönen und reinen, aber schlichten Natur vereinigt, sie überall sonst nur als die hülfreiche Gattin, die geschäftige Hausfrau[212] gezeichnet und diess Bild noch durch die Züge verstärkt, die er von einer gewissen kindischen Naivetät in ihrer früheren Jugend erzählt.

Gerade aber durch diese Kühnheit, seinen Gegenstand schlechterdings da aufzunehmen, wo er bloss Natur ist, führt er ihn auf eine Stufe einfacher Erhabenheit, von der wir sonst kaum einen Begriff haben. Wenigstens erinnern wir uns bei keinem andren Dichter einer Schilderung einer Mutter, die an Natur und Wahrheit, an Grösse und Schönheit der Gesinnung mit dieser verglichen werden dürfte. Wie gross und edel irgend einer der in diesem Gedichte aufgestellten Charaktere erscheinen mag, so darf diese Mutter keinem derselben weichen. Sie ist durchaus gut, durchaus verständig, durchaus zart und fein empfindend; nirgends zeigt sie einen Mangel, nirgends einen Misklang. Ihr Charakter ist ganz idealisch: denn nirgends wird man eine einengende Schranke in demselben gewahr; und er ist zugleich ganz natürlich: denn sein Wesen besteht bloss in dem, was dem Menschen zugleich mit der Menschheit eingepflanzt ist.

Darum ist die Liebe dieser Mutter nicht bloss stark und innig, sondern zugleich auch so zart, darum ihr Sinn so fein, die innersten Gefühle ihres Herrmanns mitten aus seinen halb verstellten, halb verwirrten Worten zu enträthseln, darum ihre Schonung für jede Denkungsart so schön, ihr Sinn für jede Eigenthümlichkeit in der Menschheit so gross und menschlich. Zu der Liberalität, die sonst nur Philosophie und Nachdenken, zu der Feinheit, die nur mühsam erworbene Menschenkenntniss verschaft, gelangt sie allein auf dem Wege der einzigen Empfindung, welcher sie ganz und ausschliesslich angehört.

Einer solchen Liebe der Mutter muss eine gleiche Zärtlichkeit des Sohnes entsprechen. Diese hat uns auch der Dichter gezeichnet; wir sehen seine starke Anhänglichkeit, sein grosses und zuversichtliches Vertrauen; aber er scheut sich sogar nicht, uns hier in das kleinste Détail einzuführen, uns zu erzählen, dass z.B. der Sohn sich nie vom Hause entfernte, ohne seine Mutter vorher davon zu unterrichten.

Dass Züge dieser Art nicht kleinlich, nicht gemein werden,[213] ist das Verdienst der Kunst und hierin besteht ihre Grösse. Zwar pflegt man das Einfache an sich gross zu nennen. Aber es ist diess nie von selbst, immer allein durch die Ansicht oder die Behandlung, immer nur dadurch, dass man es als Natur, also in der Wahrheit, der Realität, dem Zusammenhange darstellt, welche dieser eigen sind.

Wovon wir also zuerst ausgingen, darauf allein kommt alles an, überall, im Aeussern und Innern, in den sinnlichen Formen und in den Veränderungen unsres Gemüths, nur die Natur aufzusuchen und darzustellen.

Dadurch nun, dass unser Dichter, immer hiermit beschäftigt, das menschliche Gemüth und seine Gesinnungen so klar und offen darlegt, erlangt er eine Einfachheit und Wahrheit, bringt er uns seinen Stoff mit einer Innigkeit ans Herz, die nur ihm allein angehört. Er greift in unsre eigensten Gedanken und Empfindungen ein, und indem er alle Falten unsres Herzens aufdeckt und uns in den Kreis unsres gewöhnlichen Alltagslebens zu begleiten scheint, erhält er sich immer auf der nothwendigen poetischen Höhe. Nur selten hat ein andrer unter den Neuern so sehr die strenge Wahrheit und die schlichte Einfalt der Natur mit der vollkommensten Begeisterung der Kunst gepaart, und nie – könnte man sagen – ist einer in einem so durchaus prosaischen Gange in so hohem Grade poetisch gewesen.

Wir bleiben schlechterdings in demselben Kreise, in welchem wir einmal zu leben gewohnt sind; aber wir werden mit diesem ganzen Kreise auf eine ungewohnte Höhe erhoben: die Wirklichkeit in und um uns leidet kaum eine Veränderung in ihrer Beschaffenheit; aber sie ist gar nicht mehr Wirklichkeit, sie ist nur reines Erzeugniss der dichterischen Einbildungskraft.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 210-214.
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