Abtheilung VI.
Ueber die Wahrscheinlichkeit.4

[53] Obgleich es in der Welt nichts der Art wie Zufall giebt, so hat doch unsere Unkenntniss der wirklichen Ursache eines Ereignisses denselben Einfluss auf den Verstand und erzeugt eine gleiche Art von Glauben oder Meinung.

Es giebt allerdings eine Wahrscheinlichkeit, die aus der Mehrzahl der Fälle auf einer Seite sich bildet, und wenn diese Mehrzahl wächst und die entgegengesetzten übertrifft, so nimmt die Wahrscheinlichkeit verhältnissmässig zu und erzeugt für die Seite, wo die Mehrzahl Statt hat, einen höhern Grad von Glauben oder Zustimmung. Wenn ein Würfel auf vier Seiten mit derselben Figur oder Zahl von Zeichen versehen ist, und auf den zwei andern mit einer andern Figur, so würde das Werfen jener Figur wahrscheinlicher sein als letzterer, und hätte er 1000 Seiten in derselben Weise gezeichnet und nur eine mit einer andern Figur, so würde die Wahrscheinlichkeit noch viel grösser und dieser Glaube oder die Erwartung des Ausganges noch[53] fester und sicherer sein. Diese Art von Denken oder Schliessen scheint vielleicht längst bekannt und selbstverständlich; aber bei näherer Betrachtung bietet sie Stoff zu interessanten Untersuchungen.

Offenbar betrachtet die Seele bei Berechnung des Erfolgs eines solchen Würfelns das Werfen jeder einzelnen Seite als gleich wahrscheinlich. Es ist das Wesen des Zweifels, dass er alle einzelnen Fälle, die er einschliesst, völlig gleich macht. Wenn aber eine grössere Zahl von Fällen denselben Erfolg mit sich führen, als die andern, so kommt die Seele öfter auf diese Erfahrung zurück und trifft ihn öfter bei Durchgehung der verschiedenen Möglichkeiten oder Zufälle, von denen das Endergebniss abhängt. Dieses Zusammentreffen mehrerer Erwägungen in demselben Ergebniss erzeugt unmittelbar durch eine unerklärliche Natur-Einrichtung die Wissensart des Glaubens, und giebt diesen Erfolg den Vorzug vor seinem Gegner, der nur von einer geringem Zahl von Erwägungen unterstützt ist, und der Seele sich nicht so oft darbietet. Wenn man zugiebt, dass der Glaube nur eine festere und stärkere Vorstellung eines Gegenstandes in Vergleich mit blossen Erdichtungen der Einbildung ist, so wird dies den hier betrachteten Vorgang erklären. Das wiederholte Eintreten derselben Aussichten oder Einblicke steigert die Vorstellung, giebt ihr eine höhere Stärke und Kraft, macht ihren Einfluss auf Leidenschaften und Erregungen fühlbarer und erzeugt, mit einem Worte, diese Zuversicht oder Gewissheit, welche das Wesen des Glaubens und Dafürhaltens ausmacht.

Es verhält sich mit der Wahrscheinlichkeit der Einzelfälle, wie mit dem Zufall. Es giebt Vorgänge, welche in ihrer bestimmten Wirkung völlig gleichförmig und beständig sind, und man kennt kein Beispiel von einem Ausbleiben oder einer Ausnahme bei denselben. Das Feuer hat den Menschen immer verbrannt, und das Wasser immer erstickt. Die Erzeugung der Bewegung durch Stoss und Schwere ist ein allgemeines Gesetz, das bis jetzt keine Ausnahme gestattet hat. Aber es giebt andere Vorgänge, die sich unregelmässiger und unsicherer zeigen; so hat der Rhabarber nicht immer purgirt und das Opium nicht jeden Menschen, der es eingenommen hat, eingeschläfert. Allerdings suchen Philosophen in solchen unregelmässigen Fällen den Grund nicht in der Unregelmässigkeit der Natur, sondern sie[54] nehmen an, dass irgend eine geheime Ursache in der besondern Verbindung der Theile den regelmässigen Vorgang gehemmt hat. Unsere Betrachtungen und Schlüsse bei einem solchen Vorgange werden jedoch durch dieses Prinzip nicht betroffen. Indem man gewöhnt ist, das Vergangene auf das Zukünftige bei allen Schlüssen zu übertragen, so erwartet man da, wo die Vergangenheit ganz regelmässig und gleichförmig gewesen ist, den Erfolg mit der grössten Zuversicht und giebt der entgegengesetzten Annahme keinen Raum. Wo aber verschiedene Wirkungen aus anscheinend genau gleichen Ursachen angetroffen worden sind, da müssen all diese verschiedenen Wirkungen auch der Seele, bei Uebertragung der Vergangenheit auf die Zukunft, vorkommen und in die Betrachtung eintreten, wodurch man die Wahrscheinlichkeit des Ausganges bestimmen will. Obgleich man den, der am häufigsten befunden worden, den Vorzug giebt, und an das Eintreten dieser Wirkung glaubt, so kann man doch die andern Wirkungen nicht übersehen und muss jeder nach Verhältniss ihres öftern oder seltenern Eintretens ein besonderes Gewicht und Ansehn beilegen. So ist es für alle Länder Europa's wahrscheinlicher, dass im Januar einiger Frost eintritt, als dass den ganzen Monat weiches Wetter anhält; obgleich diese Wahrscheinlichkeit nach Verschiedenheit des Klima's wechselt, und in den nördlichen Ländern sich der Gewissheit nähert. Hier zeigt es sich deutlich, dass man bei Uebertragung der Vergangenheit auf die Zukunft, um die Wirkung einer Ursache zu ermessen, alle verschiedenen Folgen in demselben Verhältniss überträgt, wie sie in der Vergangenheit bemerkt worden sind. Man nimmt z.B. an, dass die eine hundertmal, die andere zehnmal und die dritte nur einmal eingetreten ist. Da eine grosse Zahl von Erwägungen hier auf denselben Erfolg zusammentrifft, so verstärken und befestigen sie ihn in dem Vorstellen, erzeugen die Empfindung, welche man Glauben nennt, und geben ihm den Vorzug vor dem entgegengesetzten Erfolg, der nicht durch eine gleiche Zahl von Erfahrungen unterstützt wird und dem Denken bei der Uebertragung der Vergangenheit auf die Zukunft nicht so oft sich darstellt. Wenn Jemand versuchen will, diese Vorgänge der Seele aus irgend einem der vorhandenen philosophischen Systeme zu erklären, so wird er die Schwierigkeit bemerken. Ich bin für meine Person zufrieden, wenn die gegenwärtigen Andeutungen das Interesse[55] der Philosophen erwecken und sie erkennen lassen, wie mangelhaft alle bisherigen Systeme diese interessante und bedeutende Frage behandelt haben.

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Locke theilt die Gründe in beweisende und wahrscheinliche. In diesem Sinne ist es nur wahrscheinlich, dass alle Menschen sterben müssen, und dass die Sonne morgen aufgehn wird. Um aber dem Sprachgebrauch mehr treu zu bleiben, muss man die Gründe in beweisende, gewisse und wahrscheinliche eintheilen. Unter gewisse verstehe ich solche, der Erfahrung entlehnte Gründe, die keinen Raum für Zweifel oder Bedenken übrig lassen.

Quelle:
David Hume: Eine Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes. Berlin 1869, S. 53-56.
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