Abschnitt II.

[144] Es scheint ein übermüthiges Unternehmen, wenn die Skeptiker die Vernunft durch Gründe und Beweise widerlegen wollen, und doch ist dies das grosse Ziel ihrer Untersuchungen und Kämpfe. Sie suchen Einwürfe sowohl gegen die reinen Vernunft-Beweise, wie gegen die, welche die Thatsachen und das Dasein betreffen.

Der Haupteinwand gegen alle aus dem blossen Denken entnommenen Beweise wird von der Vorstellung des Raumes und der Zeit entlehnt. Beides sind Vorstellungen, welche im gewöhnlichen Leben und bei sorgloser Auffassung völlig klar und verständlich erscheinen; aber bei einer gründlichen wissenschaftlichen Untersuchung, deren Hauptgegenstand sie sind, führen sie zu durchaus verkehrten und widersprechenden Folgerungen. Es giebt keinen priesterlichen Glaubenssatz, der zur Zähmung und Unterjochung der widerspenstigen Vernunft erfunden worden, und der den unbefangenen Sinn mehr als die Lehre von der unendlichen Theilbarkeit des Raumes mit seinen Folgen verwirrt, so pomphaft sie auch von den Mathematikern und Metaphysikern mit Triumph und Jubel entwickelt werden. Eine wirkliche Grösse, die unendlich kleiner ist als jede bestimmte Grösse, und die unendlich kleinere Grössen als sie selbst in sich enthält, und so fort ohne Ende, das ist ein so dreistes und wunderbares Werk, dass jeder Beweis für seine Unterstützung zu schwach bleibt; denn es verletzt die klarsten und natürlichsten Grundsätze der menschlichen Vernunft.A13 Was aber die Sache[144] noch mehr verwickelt, ist, dass dieser anscheinend widersinnige Satz auf eine Reihe der natürlichsten und klarsten Beweisgründe gestützt werden kann, und dass man die Vordersätze nicht zugeben kann, ohne auch die Folgerung anerkennen zu müssen. Nichts kann überzeugender und genügender sein als die Beweise für alle Lehrsätze über Kreise und Dreiecke. Erkennt man aber diese an, so kann man nicht bestreiten, dass der Winkel zwischen der Kreislinie und ihrer Tangente unendlich kleiner ist, als jeder geradlinige Winkel; dass ferner bei einer Vergrösserung des Durchmessers des Kreises ins Unendliche, dieser Berührungswinkel immer kleiner wird, und zwar ohne Ende, und dass der Berührungswinkel zwischen andern krummen Linien und ihren Tangenten noch unendlich kleiner sein kann, als der zwischen der Kreislinie und ihrer Tangente, und so immer fort ohne Ende. Der Beweis dieses Satzes erscheint ebenso unerschütterlich als der, dass die drei Winkel eines Dreiecks zwei rechten gleich sind, obgleich der letztere Satz natürlich und leicht ist, und jener voll Widerspruch und Verkehrtheit. Die Vernunft scheint hier in eine Art von Staunen und Beklemmung versetzt zu sein; auch ohne die Angriffe des Skeptikers kann sie sich selbst und dem Boden, auf dem sie wandelt, nicht mehr vertrauen. Sie sucht ein helles Licht, was bestimmte Stellen erleuchtet, aber dieses Licht grenzt an die tiefste Dunkelheit; zwischen beiden steht sie selbst so verblendet und verwirrt, dass sie kaum noch über irgend Etwas sich gewiss und mit Ueberzeugung auszusprechen vermag.

Das Widersinnige solcher dreisten Behauptungen der strengen Wissenschaften wird bei der Zeit wo möglich noch greifbarer als bei dem Raume. Eine unendliche Zahl von wirklichen Zeittheilen, die einander folgen, und wo einer den[145] andern vernichtet, erscheint als ein so offenbarer Widerspruch, dass man meinen sollte, kein Mensch mit gesundem Verstande könnte ihn je zulassen, und doch wird er durch die Wissenschaft bewiesen.

Dennoch kann die Vernunft nicht ruhn und still stehen, selbst in Bezug auf den Skeptizismus, in den sie durch diese anscheinenden Widersprüche und Verkehrtheiten gedrängt wird. Es ist völlig unbegreiflich, wie ein klarer Begriff Bestimmungen enthalten könne, die ihm selbst oder einem andern klaren Begriffe widersprechen; es ist dies ein so widersinniger Satz, als sich nur erdenken lässt. Es giebt daher nichts Skeptischeres, nichts Zweifelhafteres und Bedenklicheres, als den Skeptizismus selbst, der aus einigen paradoxen Sätzen der Geometrie oder Grössen-Lehre entspringt.A14

Die Skeptischen Einwürfe gegen die moralische Gewissheit oder gegen die Beweise von Thatsachen sind entweder populär oder philosophisch. Die ersten werden aus der Schwäche des menschlichen Verstandes abgeleitet; ferner aus den widersprechenden Meinungen verschiedener Zeiten und Völker; aus dem Wechsel unsers Urtheils nach Krankheit[146] und Gesundheit, Jugend und Alter, Glück und Unglück; aus dem fortwährenden Widerspruch in jedes Einzelnen Meinungen und Ansichten und aus mancherlei andern Erwägungen gleicher Natur. Bei diesen Einwürfen brauche ich mich nicht lange aufzuhalten; sie sind nur schwach. Im gewöhnlichen Leben urtheilen wir fortwährend über Thatsachen und Dasein, und können ohne diese Hülfe nicht bestehen, deshalb vermögen jene Einwürfe, so verständlich sie auch sind, doch diese Ueberzeugung nicht zu entkräften. Was den Pyrrhonismus oder die auf das Aeusserste getriebenen Grundsätze des Skeptizismus niederschlägt, ist das Handeln, die Thätigkeit und die Beschäftigung des gewöhnlichen Lebens. In den Hörsälen mögen diese Sätze blühen und triumphiren, wo ihre Widerlegung schwer oder unmöglich ist; sobald sie aber die Dämmerung verlassen und durch die Gegenwart der wirklichen Dinge, die unsere Leidenschaften und Empfindungen erwecken, mit den mächtigsten Prinzipien unserer Natur in Gegensatz gerathen, verschwinden sie wie Rauch und lassen den entschiedensten Skeptiker in gleicher Lage wie andere Sterbliche.

Der Skeptiker thut deshalb besser, in seinem Gebiete zu bleiben und die philosophischen Einwürfe darzulegen, welche aus der tiefern Untersuchung sich ergeben. Hier hat er reiche Gelegenheit zu Triumphen; hier kann er mit Recht zeigen, dass alle unsere Gewissheit über Thatsachen, welche über das Zeugniss der Sinne und das Gedächtniss hinaus liegen, sich nur aus der Beziehung von Ursache und Wirkung ableitet; dass man keinen andern Begriff von dieser Beziehung habe, als den von zwei Dingen, die häufig mit einander verbunden sind; dass kein Beweisgrund dafür besteht, weshalb Gegenstände, die erfahrungsmässig häufig mit einander verbunden gewesen sind, auch in andern Fällen ebenso verbunden sein werden; dass nur die Gewohnheit oder eine Art Natur-Instinkt zu solcher Annahme führt. Allerdings kann man solchem Instinkt nur schwer widerstehen, aber er kann, wie andere Instinkte, täuschen und betrügen. Hält sich der Skeptiker innerhalb dieser Betrachtungen, so zeigt er seine Kraft, oder vielmehr seine eigene und unsere Schwäche, und zerstört, wenigstens zur Zeit, alle Gewissheit und Ueberzeugung. Man könnte diese Erörterung noch weiter fortsetzen, wenn sie zu einem dauerhaften Vortheil oder Nutzen für die Gesellschaft führte.[147]

Denn es ist der wichtigste und niederschlagendste Einwand gegen den übertriebenen Skeptizismus, dass kein dauerhafter Nutzen aus ihm hervorgehen könne, wenn er sich in seiner vollen Stärke und Kraft erhält. Man braucht einen solchen Skeptiker nur zu fragen: was er wolle, und was er mit all diesen sinnreichen Erörterungen beabsichtige? Er wird dann sofort in Verlegenheit gerathen und keine Antwort haben. Ein Kopernikaner oder Ptolemäer, der Jeder sein eigenes astronomisches System vorträgt, kann hoffen, seinen Zuhörern eine feste und bleibende Ueberzeugung beizubringen. Ein Stoiker und Epikuräer entwickelt Grundsätze, welche nicht allein vorhalten, sondern auch ihre Wirkung auf Benehmen und Betragen äussern. Aber ein Pyrrhonianer kann von seiner Philosophie weder einen bleibenden Einfluss auf die Seele erwarten, noch dass dieser Einfluss, wenn er Statt hätte, ein wohlthätiger für die menschliche Gesellschaft sein würde. Im Gegentheil, er muss anerkennen, wenn er überhaupt etwas anerkennen will, dass, wenn seine Grundsätze allgemein und dauernd zur Herrschaft kämen, alles menschliche Leben untergehen müsste. Jede Rede, jede Handlung würde sofort erlöschen, und die Menschen würden in gänzlicher Betäubung verharren, bis die unbefriedigten Bedürfnisse der Natur ihrem elenden Dasein ein Ende machten. Man braucht allerdings einen so schrecklichen Ausgang nicht zu fürchten; die Natur ist immer mächtiger als das Denken. Ein Pyrrhonianer kann sich und Andere eine Zeit lang durch tiefe Beweise in Staunen und Verwirrung bringen; aber der erste und einfachste Vorfall des Lebens wird alle seine Zweifel und Bedenken verjagen und ihn im Punkte des Handelns und Beschliessens mit den Philosophen aller andern Sekten, so wie mit denen, die sich nie mit philosophischen Untersuchungen abgegeben haben, gleich stellen. Wenn er aus seinem Traum erwacht, wird er der Erste sein, der in das Gelächter über sich mit einstimmt, und der anerkennt, dass alle seine Einwürfe nur unterhaltend sind und nur die launische Natur des Menschen offenbaren. Der Mensch muss handeln, folgern und glauben, obgleich er trotz der sorgfältigsten Untersuchung sich über die Grundlagen dieser Thätigkeiten nicht vergewissern, noch die gegen sie erhobenen Einwürfe zu widerlegen vermag.[148]

A13

Man mag über die mathematischen Punkte streiten, wie man will, so bleiben sie doch physische Punkte, d.h. Raumtheile, welche weder in der Wahrnehmung noch Vorstellung noch weiter getheilt oder verkleinert werden können. Diese dem Vorstellen oder der Wahrnehmung gegenwärtigen Bilder sind untheilbar, und die Mathematiker müssen sie deshalb als unendlich kleiner gelten lassen, als irgend einen wirklichen Raumtheil. Dennoch erscheint dem Verstand nichts gewisser, als dass eine unendliche Zahl von ihnen einen unendlich grossen Raum bildet. Um wie viel mehr muss dies von der unendlichen Menge jener unendlich kleinen Raumtheile gelten, die noch als unendlich theilbar angesehen werden.

A14

Vielleicht kann man diesen Widersinnigkeiten und Widersprüchen entgehen, wenn man nichts der Art, wie abstrakte oder allgemeine Begriffe im strengen Sinne zulässt. Sie sind in Wahrheit nur Einzelvorstellungen, an ein allgemeines Wort geknüpft, was gelegentlich andere Einzelvorstellungen wachruft, welche in gewisser Hinsicht der der Seele gegenwärtigen Vorstellung gleichen. So stellt man sich, wenn man das Wort Pferd hört, sofort ein schwarzes oder weisses Thier von bestimmter Grösse und Gestalt vor. Da indess das Wort auch für Thiere von anderer Farbe, Grösse und Gestalt gebraucht wird, so sind diese der Seele nicht gegenwärtigen Vorstellungen leicht herbeizurufen; unser Denken und Schliessen geht dann ebenso vorwärts, als wenn sie wirklich gegenwärtig wären. Räumt man dies ein (denn es scheint begründet), so folgt, dass alle Vorstellungen von Grössen, deren sich die Mathematiker bedienen, nur Einzelvorstellungen sind, welche die Sinne oder die Einbildungskraft darbieten, und die deshalb nicht ohne Ende theilbar sein können.

Diese Andeutung wird vorläufig genügen; ich will sie hier nicht weiter verfolgen. Alle Freunde der Wissenschaft sind dabei interessirt, dass sie mit ihren Schlüssen nicht dem Unwissenden zum Gelächter und Spotte werden, und diese Andeutung scheint die leichteste Lösung der Schwierigkeiten zu bieten.

Quelle:
David Hume: Eine Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes. Berlin 1869, S. 144-149.
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