Abschnitt III.

[149] Es giebt in der That einen milderen Skeptizismus oder eine akademische Philosophie, die sowohl dauerhaft wie nützlich ist und zum Theil aus diesem Pyrrhonismus oder übertriebenen Skeptizismus hervorgeht, wenn seine masslosen Zweifel durch natürlichen Verstand und Ueberlegung in einem gewissen Grade berichtigt werden. Die meisten Menschen neigen von Natur zu absprechenden und entschiedenen Aussprüchen; sie sehen die Gegenstände nur von einer Seite, denken nicht an die Gegengründe und erfassen so die ihnen zusagenden Grundsätze mit Heftigkeit und ohne Nachsicht für Die, welche anderer Ansicht sind. Das Zögern und Erwägen verwirrt ihren Verstand, verstösst gegen ihre Leidenschaften und hemmt ihr Handeln. Sie verlangen deshalb mit Ungeduld, aus einem ihnen so lästigen Zustande herauszukommen und meinen, durch Heftigkeit ihrer Behauptungen und durch Hartnäckigkeit in ihrem Glauben sich nicht weit genug davon entfernen zu können. Könnten solche Leute bei ihrem hartnäckigen Streiten die merkwürdigen Schwächen des menschlichen Verstandes, selbst in seinem vollkommensten Zustande und in seinen genauesten und vorsichtigsten Bestimmungen bemerken, so würden sie natürlich mit mehr Bescheidenheit und Vorsicht auftreten, und es würden die Ueberschätzung ihrer selbst und ihre Vorurtheile gegen ihre Gegner sich mindern. Der Ungelehrte sollte sich den Zustand des Gelehrten vergegenwärtigen, welcher trotz allen Gewinns aus Studium und Nachdenken in seinen Ansichten meist vorsichtig bleibt. Dagegen werden Gelehrte, die von Natur zu Hochmuth und Hartnäckigkeit neigen, durch eine schwache Färbung von Pyrrhonismus in ihrem Stolze nachlassen, wenn man ihnen zeigt, dass ihre paar Vortheile über die Mitarbeiter nur gering erscheinen, wenn man sie mit der allgemeinen, der menschlichen Natur anhaftenden Unordnung und Verwirrung vergleicht. Sicherlich sollte ein gewisser Grad von Vorsicht, Zweifel und Bescheidenheit bei allen Arten von Untersuchungen und Entscheidungen den wahren Forscher nie verlassen.

Eine fernere, dem Menschen nützliche Beschränkung des Skeptizismus geht aus den Pyrrhonianischen Zweifeln und[149] Bedenken dann hervor, wenn man seine Untersuchungen nur auf Dinge richtet, die zu den schwachen Fähigkeiten des menschlichen Verstandes sich am besten eignen. Die Phantasie des Menschen treibt von Natur nach Oben; sie freut sich an dem Entfernten und Ausserordentlichen und stürzt sich ohne Vorsicht in die fernsten Orte nach Raum und Zeit, um den gewohnten und allbekannten Gegenständen zu entgehen. Ein gesunder Verstand wählt den entgegengesetzten Weg, vermeidet alle weitgehenden und tiefen Untersuchungen und beschränkt sich auf das gewöhnliche Leben und auf solche Dinge, die zur täglichen Uebung und Erfahrung gehören. Er überlässt jene erhabeneren Gebiete den Dichtern und Rednern, die sie ausschmücken mögen, oder den Künsten der Priester und Politiker. Nichts hilft mehr zu solchem heilsamen Entschluss, als die feste Ueberzeugung von der Gewalt Pyrrhonianischer Zweifel, und dass nur die Kraft des natürlichen Instinkts davon befreien kann. Wer zur Philosophie neigt, wird trotzdem seine Untersuchungen fortsetzen; denn neben dem Vergnügen an solchen Beschäftigungen weiss er, dass philosophische Sätze nur die geregelten und berichtigten Betrachtungen über das gewöhnliche Leben sind; aber er wird nie in die Versuchung kommen, darüber hinauszugehen, sobald er die Unvollkommenheit der dazu dienlichen Vermögen, ihren engen Bereich und ihre ungenauen Wirkungen erwägt. Wir können keinen genügenden Grund dafür angeben, weshalb wir nach tausend Proben glauben, dass der Stein fallen und das Feuer brennen wird; wie können wir daher hoffen, irgend eine zufriedenstellende Erkenntniss über den Ursprung der Welt und den Zustand der Natur von Anfang bis in alle Ewigkeit zu erreichen?

Diese enge Schranke für unsere Untersuchungen ist in jeder Beziehung so klar, dass schon die oberflächlichste Untersuchung der natürlichen Kräfte der Seele und ihre Vergleichung mit den Gegenständen genügt, sie uns zu empfehlen. Dann wird man erst die wahren und geeigneten Gegenstände der Wissenschaft und Untersuchung auffinden.

Die einzigen Gegenstände der Vernunftwissenschaft oder der strengen Beweise scheinen die Grösse und die Zahl zu sein; alle Versuche, diese vollkommene Weise der Erkenntniss über diese Grenze auszudehnen, wird zur reinen Spitzfindigkeit und Täuschung. Da die Theile, aus welchen die Grösse und die Zahl sich zusammensetzen, einander ganz[150] ähnlich sind, so werden ihre Beziehungen mannichfach und verwickelt, und nichts ist unterhaltender und nützlicher, als durch verschiedene Mittel ihre Gleichheit und Ungleichheit in ihren verschiedenen Erscheinungen zu verfolgen. Alle anderen Begriffe sind dagegen von einander unterschieden und scharf getrennt; man kommt deshalb hier selbst bei der genauesten Nachforschung nicht weiter, als zur Erkenntniss dieses Unterschieds und zu dem selbstverständlichen Satze, dass das eine Ding nicht das andere sei. Zeigen sich hier noch Schwierigkeiten, so entspringen sie nur aus dem unbestimmten Sinn der Worte, welche durch richtige Definitionen verbessert werden können. Den Satz, dass das Quadrat der Hypothenuse gleich ist den Quadraten der beiden anderen Seiten, kann man selbst bei dem genauesten Verständniss der Worte, ohne eine Reihe von Gründen und Betrachtungen, nicht einsehen; aber zum Beweis des Satzes, dass, wo kein Eigenthum ist, es auch keine Ungerechtigkeit giebt, genügt die Definition der Worte und die Erklärung, dass Ungerechtigkeit in der Verletzung des Eigenthums bestehe. Ein solcher Satz ist eigentlich nur eine unvollkommene Definition. Ebenso verhält es sich mit den sogenannten Schlüssen und Beweisen in allen Gebieten des Wissens, mit Ausnahme der Grössen- und Zahlen-Lehre, welche meines Erachtens getrost als die alleinigen Gegenstände der Erkenntniss und des strengen Beweisens aufgestellt werden können.

Alle anderen Untersuchungen beziehen sich nur auf Thatsachen und Dasein, welche offenbar nicht strenge bewiesen werden können.

Was ist, kann auch nicht sein. Die Verneinung einer Thatsache enthält keinen Widerspruch. Das Nichtsein von Etwas ist ohne Ausnahme eine ebenso bestimmte und deutliche Vorstellung als das Dasein desselben. Der Satz, welcher aussagt, dass es nicht ist, mag falsch sein, aber er ist ebenso begreiflich und verständlich wie der, welcher das Sein aussagt. Anders verhält es sich mit den eigentlichen Wissenschaften. Da ist jeder unwahre Satz auch verworren und unverständlich. Dass die Kubikwurzel von 64 gleich ist der Hälfte von 10, ist ein falscher Satz und kann nicht deutlich vorgestellt werden. Aber dass Cäsar oder der Engel Gabriel oder sonst ein Wesen niemals existirt haben,[151] mag falsch sein, aber bleibt immer vollkommen begreiflich und enthält keinen Widerspruch.

Das Dasein eines Dinges kann daher nur durch Gründe bewiesen werden, welche von seiner Ursache oder Wirkung entnommen sind, und diese Gründe stützen sich lediglich auf Erfahrung. Beginnt man die Untersuchung a priori, so scheint jedes Ding fähig, jedes andere Ding hervorzubringen; der Fall eines Steines kann dann die Sonne verlöschen, oder eines Menschen Wunsch den Lauf der Planeten verändern. Nur die Erfahrung lehrt uns die Natur und Grenzen von Ursache und Wirkung; nur sie befähigt uns, von dem Dasein des einen Dinges auf das andere zu schliessen.A15 So verhält es sich mit der Grundlage der moralischen Gewissheit, welche den grössten Theil des menschlichen Wissens bildet und die Quelle alles menschlichen Handelns und Benehmens ist.

Solche Untersuchungen betreffen entweder besondere oder allgemeine Thatsachen. Zu den ersten gehören alle Ueberlegungen im Leben und alle Untersuchungen der Geschichte, Chronologie, Geographie und Astronomie.

Die Wissenschaften, welche allgemeine Thatsachen behandeln, sind die Politik, die Natur-Philosophie, die Physik, die Chemie u.s.w., wo die Eigenschaften, Ursachen und Wirkungen von einer ganzen Gattung von Gegenständen untersucht werden.

Die Gotteslehre oder Theologie, welche das Dasein einer Gottheit und die Unsterblichkeit der Seele darlegt, ist eine Untersuchung theils von einzelnen, theils von allgemeinen Thatsachen. Sie hat eine Grundlage in der Vernunft, soweit sie sich auf Erfahrung stützt, aber ihre beste und festeste Grundlage ist der Glaube und die göttliche Offenbarung.

Die Moral und die Aesthetik sind nicht eigentlich Gegenstände[152] des Verstandes, sondern des Geschmacks und Gefühls. Sowohl die moralische wie die natürliche Schönheit wird mehr gefühlt als begriffen. Denkt man über sie nach, und will man einen Maassstab für sie gewinnen, so betrachtet man eine neue Thatsache, d.h. den allgemeinen Geschmack der Menschen oder etwas Aehnliches, was dann den Gegenstand des Nachdenkens und der Untersuchung bilden kann.

Wenn man, von solchen Grundsätzen erfüllt, die Bibliotheken durchsieht, welche Verwüstung müsste man darin anrichten? Nimmt man z.B. ein theologisches oder streng metaphysisches Werk in die Hand, so darf man nur fragen: Enthält es eine dem reinen Denken entstammende Untersuchung über Grösse und Zahl? Nein. Enthält es eine auf Erfahrung sich stützende Untersuchung über Thatsachen und Dasein? Nein. Nun, so werfe man es ins Feuer; denn es kann nur Spitzfindigkeiten und Blendwerk enthalten.


Ende.[153]


A15

Jener gottlose Satz der alten Philosophie: Aus nichts wird nichts, welcher die Schöpfung des Stoffes ausschliesst, gilt nach dieser Philosophie nicht mehr als ein Grundsatz. Nicht blos der Wille des höchsten Wesens kann Stoff erzeugen, sondern selbst der Wille jedes andern Wesens vermag es, nach dem, was wir a priori wissen; und ebenso vermag es jede andere Ursache, wie sie von der launischsten Phantasie ausgedacht werden mag.

Quelle:
David Hume: Eine Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes. Berlin 1869.
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