Episodischer Abschnitt.
Von der idealen Erwerbung eines äußeren Gegenstandes der Willkür
§ 32

[406] Ich nenne diejenige Erwerbung ideal, die keine Kausalität in der Zeit enthält, mithin eine bloße Idee der reinen Vernunft zum Grunde hat. Sie ist nichtsdestoweniger wahre, nicht eingebildete, Erwerbung, und heißt nur darum nicht real, weil der Erwerbakt nicht empirisch ist, indem das Subjekt von einem anderen, der entweder noch nicht ist (von dem man bloß die Möglichkeit annimmt, daß er sei), oder, indem dieser eben aufhört zu sein, oder, wenn er nicht mehr ist, erwirbt, mithin die Gelangung zum Besitz eine bloße praktische Idee der Vernunft ist. – Es sind die drei Erwerbungsarten: 1) durch Ersitzung, 2) durch Beerbung, 3) durch unsterbliches Verdienst (meritum immortale), d.i. der Anspruch auf den guten Namen nach dem Tode. Alle drei können zwar nur im öffentlichen rechtlichen Zustande ihren Effekt haben, gründen sich aber nicht nur auf der Konstitution desselben und willkürlichen Statuten, sondern sind auch a priori im Naturzustande, und zwar notwendig zuvor, denkbar, um hernach die Gesetze in der bürgerlichen Verfassung darnach einzurichten (sunt iuris naturae).


I. Die Erwerbungsart durch Ersitzung
§ 35

Ich erwerbe das Eigentum eines anderen bloß durch den langen Besitz (usucapio); nicht weil ich dieses seine Einwilligung[406] dazu rechtmäßig voraussetzen darf (per consensum praesumtum), noch weil ich, da er nicht widerspricht, annehmen kann, er habe seine Sache aufgegeben (rem derelictam), sondern, weil, wenn es auch einen wahren und auf diese Sache als Eigentümer Anspruch Machenden (Prätendenten) gäbe, ich ihn doch bloß durch meinen langen Besitz ausschließen, sein bisheriges Dasein ignorieren, und gar, als ob er zur Zeit meines Besitzes nur als Gedankending existierte, verfahren darf: wenn ich gleich von seiner Wirklichkeit so wohl, als der seines Anspruchs hinterher benachrichtigt sein möchte. – Man nennt diese Art der Erwerbung, nicht ganz richtig, die durch Verjährung (per praescriptionem); denn die Ausschließung ist nur als die Folge von jener anzusehen; die Erwerbung muß vorhergegangen sein. – Die Möglichkeit, auf diese Art zu erwerben ist nun zu beweisen.

Wer nicht einen beständigen Besitzakt (actus possessorius) einer äußeren Sache, als der seinen, ausübt, wird mit Recht als einer, der (als Besitzer) gar nicht existiert, angesehen; denn er kann nicht über Läsion klagen, so lange er sich nicht zum Titel eines Besitzers berechtigt, und wenn er sich hinten nach, da schon ein anderer davon Besitz genommen hat, auch dafür erklärte, so sagt er doch nur, er sei ehedem einmal Eigentümer gewesen, aber nicht, er sei es noch, und der Besitz sei ohne einen kontinuierlichen rechtlichen Akt ununterbrochen geblieben. – Es kann also nur ein rechtlicher und zwar sich kontinuierlich erhaltender und dokumentierter Besitzakt sein, durch welchen er, bei einem langen Nichtgebrauch, sich das Seine sichert.

Denn setzet: die Versäumung dieses Besitzakts hätte nicht die Folge, daß ein anderer auf seinen gesetzmäßigen und ehrlichen Besitz (possessio bonae fidei) einen zu Recht beständigen (possessio irrefragabilis) gründe, und die Sache, die in seinem Besitz ist, als von ihm erworben ansehe, so würde gar keine Erwerbung peremtorisch (gesichert), sondern alle nur provisorisch (einstweilig) sein; weil die Geschichtskunde ihre Nachforschung bis zum ersten Besitzer und dessen Erwerbakt hinauf zurückzuführen nicht vermögend[407] ist. – Die Präsumtion, auf welcher sich die Ersitzung (usucapio) gründet, ist also nicht bloß rechtmäßig (erlaubt, iusta) als Vermutung, sondern auch rechtlich (praesumtio iuris et de iure) als Voraussetzung nach Zwangsgesetzen (suppositio legalis): wer seinen Besitzakt zu dokumentieren verabsäumt, hat seinen Anspruch auf den dermaligen Besitzer verloren, wobei die Länge der Zeit der Verabsäumung (die gar nicht bestimmt werden kann und darf) nur zum Behuf der Gewißheit dieser Unterlassung angeführt wird. Daß aber ein bisher unbekannter Besitzer, wenn jener Besitzakt (es sei auch ohne seine Schuld) unterbrochen worden, die Sache immer wiedererlangen (vindizieren) könne (dominia rerum incerta facere), widerspricht dem obigen Postulat der rechtlich-praktischen Vernunft.

Nun kann ihm aber, wenn er ein Glied des gemeinen Wesens ist, d.i. im bürgerlichen Zustande, der Staat wohl seinen Besitz (stellvertretend) erhalten, ob dieser gleich als Privatbesitz unterbrochen war, und der jetzige Besitzer darf seinen Titel der Erwerbung bis zur ersten nicht beweisen, noch auch sich auf den der Ersitzung gründen. Aber im Naturzustande ist der letztere rechtmäßig, nicht eigentlich eine Sache dadurch zu erwerben, sondern ohne einen rechtlichen Akt sich im Besitz derselben zu erhalten: welche Befreiung von Ansprüchen dann auch Erwerbung genannt zu werden pflegt. – Die Präskription des älteren Besitzers gehört also zum Naturrecht (est iuris naturae).


II. Die Beerbung (acquisitio hereditatis)
§ 34

Die Beerbung ist die Übertragung (translatio) der Habe und des Guts eines Sterbenden auf den Überlebenden durch Zusammenstimmung des Willens beider. – Die Erwerbung des Erbnehmers (heredis instituti) und die Verfassung des Erblassers (testatoris), d.i. dieser Wechsel des Mein und Dein geschieht in einem Augenblick (articulo mortis), nämlich, da der letztere eben aufhört zu sein, und ist also eigentlich keine Übertragung (translatio) im empirischen Sinn,[408] welche zwei Actus nach einander, nämlich, wo der eine zuerst seinen Besitz verläßt, und darauf der andere darin eintritt, voraussetzt, sondern eine ideale Erwerbung. – Da die Beerbung ohne Vermächtnis (dispositio ultimae voluntatis) im Naturzustande nicht gedacht werden kann, und, ob es ein Erbvertrag (pactum successorium), oder einseitige Erbeseinsetzung (testamentum) sei, es bei der Frage, ob und wie gerade in demselben Augenblick, da das Subjekt aufhört zu sein, ein Übergang des Mein und Dein möglich sei, ankommt, so muß die Frage: wie ist die Erwerbart durch Beerbung möglich? von den mancherlei möglichen Formen ihrer Ausführung (die nur in einem gemeinen Wesen statt finden) unabhängig untersucht werden.

»Es ist möglich, durch Erbeseinsetzung zu erwerben.« – Denn der Erblasser Caius verspricht und erklärt in seinem letzten Willen dem Titus, der nichts von jenem Versprechen weiß, seine Habe solle im Sterbefall auf diesen übergehen, und bleibt also, so lange er lebt, alleiniger Eigentümer derselben. Nun kann zwar durch den bloßen einseitigen Willen nichts auf den anderen übergehen: sondern es wird über dem Versprechen noch Annehmung (acceptatio) des anderen Teils dazu erfordert und ein gleichzeitiger Wille (voluntas simultanea), welcher jedoch hier mangelt; denn so lange Caius lebt, kann Titus nicht ausdrücklich akzeptieren, um dadurch zu erwerben; weil jener nur auf den Fall des Todes versprochen hat (denn sonst wäre das Eigentum einen Augenblick gemeinschaftlich, welches nicht der Wille des Erblassers ist). – Dieser aber erwirbt doch stillschweigend ein eigentümliches Recht an der Verlassenschaft als ein Sachenrecht, nämlich ausschlüßlich sie zu akzeptieren (ius in re iacente), daher diese in dem gedachten Zeitpunkt hereditas iacens heißt. Da nun jeder Mensch notwendigerweise (weil er dadurch wohl gewinnen, nie aber verlieren kann) ein solches Recht, mithin auch stillschweigend akzeptiert und Titus nach dem Tode des Caius in diesem Falle ist, so kann er die Erbschaft durch Annahme des Versprechens erwerben, und sie ist nicht etwa mittlerweile ganz herrenlos (res nullius),[409] sondern nur erledigt (res vacua) gewesen; weil er ausschlüßlich das Recht der Wahl hatte, ob er die hinterlassene Habe zu der seinigen machen wollte, oder nicht.

Also sind die Testamente auch nach dem bloßen Naturrecht gültig (sunt iuris naturae); welche Behauptung aber so zu verstehen ist, daß sie fähig und würdig sein, im bürgerlichen Zustande (wenn dieser dereinst eintritt) eingeführt und sanktioniert zu werden. Denn nur dieser (der allgemeine Wille in demselben) bewahrt den Besitz der Verlassenschaft während dessen, daß diese zwischen der Annahme und der Verwerfung schwebt, und eigentlich keinem angehört.




III. Der Nachlaß eines guten Namens nach dem Tode (bona fama defuncti)
§ 35

Daß der Verstorbene nach seinem Tode (wenn er also nicht mehr ist) noch etwas besitzen könne, wäre eine Ungereimtheit zu denken, wenn der Nachlaß eine Sache wäre. Nun ist aber der gute Name ein angebornes äußeres, obzwar bloß ideales Mein oder Dein, was dem Subjekt als einer Person anhängt, von deren Natur, ob sie mit dem Tode gänzlich aufhöre zu sein, oder immer noch als solche übrig bleibe, ich abstrahieren kann und muß, weil ich, im rechtlichen Verhältnis auf andere, jede Person bloß nach ihrer Menschheit, mithin als homo noumenon wirklich betrachte, und so ist jeder Versuch, ihn nach dem Tode in übele falsche Nachrede zu bringen, immer bedenklich, obgleich eine gegründete Anklage desselben gar wohl statt findet (mithin der Grundsatz: de mortuis nihil nisi bene, unrichtig ist), weil gegen den Abwesenden, welcher sich nicht verteidigen kann, Vorwürfe auszustreuen, ohne die größte Gewißheit derselben, wenigstens ungroßmütig ist.

Daß durch ein tadelloses Leben und einen dasselbe beschließenden Tod der Mensch einen (negativ-) guten Namen[410] als das Seine, welches ihm übrig bleibt, erwerbe, wenn er als homo phaenomenon nicht mehr existiert, und daß die Überlebenden (angehörige, oder fremde) ihn auch vor Recht zu verteidigen befugt sind (weil unerwiesene Anklage sie insgesamt wegen ähnlicher Begegnung auf ihren Sterbefall in Gefahr bringt), daß er, sage ich, ein solches Recht erwerben könne, ist eine sonderbare, nichtsdestoweniger unleugbare Erscheinung der a priori gesetzgebenden Vernunft, die ihr Gebot und Verbot auch über die Grenze des Lebens hinaus erstreckt. – Wenn jemand von einem Verstorbenen ein Verbrechen verbreitet, das diesen im Leben ehrlos, oder nur verächtlich gemacht haben würde: so kann ein jeder, welcher einen Beweis führen kann, daß diese Beschuldigung vorsätzlich unwahr und gelogen sei, den, welcher jenen in böse Nachrede bringt, für einen Kalumnianten öffentlich erklären, mithin ihn selbst ehrlos machen; welches er nicht tun dürfte, wenn er nicht mit Recht voraussetzte, daß der Verstorbene dadurch beleidigt wäre, ob er gleich tot ist, und daß diesem durch jene Apologie Genugtuung widerfahre, ob er gleich nicht mehr existiert.6 Die Befugnis, die Rolle[411] des Apologeten für den Verstorbenen zu spielen, darf dieser auch nicht beweisen; denn jeder Mensch maßt sie sich unvermeidlich an, als nicht bloß zur Tugendpflicht (ethisch betrachtet), sondern so gar zum Recht der Menschheit überhaupt gehörig: und es bedarf hiezu keiner besonderen persönlichen Nachteile, die etwa Freunden und Anverwandten aus einem solchen Schandfleck am Verstorbenen erwachsen dürften, um jenen zu einer solchen Rüge zu berechtigen. – Daß also eine solche ideale Erwerbung und ein Recht des Menschen nach seinem Tode gegen die Überlebenden gegründet sei, ist nicht zu streiten, ob schon die Möglichkeit desselben keiner Deduktion fähig ist.

6

Daß man aber hiebei ja nicht auf Vorempfindung eines künftigen Lebens und unsichtbare Verhältnisse zu abgeschiedenen Seelen schwärmerisch schließe, denn es ist hier von nichts weiter, als dem reinmoralischen und rechtlichen Verhältnis, was unter Menschen auch im Leben statt hat, die Rede, worin sie, als intelligibele Wesen, stehen, indem man alles Physische (zu ihrer Existenz in Raum und Zeit Gehörende) logisch davon absondert, d.i. davon abstrahiert, nicht aber die Menschen diese ihre Natur ausziehen und sie Geister werden läßt, in welchem Zustande sie die Beleidigung durch ihre Verleumder fühleten. – Der, welcher nach hundert Jahren mir etwas Böses fälschlich nachsagt, beleidigt mich schon jetzt; denn im reinen Rechtsverhältnisse, welches ganz intellektuell ist, wird von allen physischen Bedingungen (der Zeit) abstrahiert, und der Ehrenräuber (Kalumniant) ist eben sowohl strafbar, als ob er es in meiner Lebzeit getan hätte; nur durch kein Kriminalgericht, sondern nur dadurch, daß ihm, nach dem Recht der Wiedervergeltung, durch die öffentliche Meinung derselbe Verlust der Ehre zugefügt wird, die er an eine in anderen schmälerte. – Selbst das Plagiat, welches ein Schriftsteller an Verstorbenen verübt, ob es zwar die Ehre des Verstorbenen nicht befleckt, sondern diesem nur einen Teil derselben entwendet, wird doch mit Recht als Läsion desselben (Menschenraub) geahndet.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 406-412.
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