Zweiter Abschnitt. Von der Pflicht gegen sich selbst in Erhöhung seiner moralischen Vollkommenheit, d.i. in bloß sittlicher Absicht
§ 21

[582] Sie besteht erstlich, subjektiv, in der Lauterkeit (puritas moralis) der Pflichtgesinnung: da nämlich, auch ohne Beimischung der von der Sinnlichkeit hergenommenen Absichten, das Gesetz für sich allein Triebfeder ist, und die Handlungen nicht bloß pflichtmäßig, sondern auch aus Pflicht geschehen. – »Seid heilig« ist hier das Gebot. Zweitens, objektiv, in Ansehung des ganzen moralischen Zwecks, der die Vollkommenheit, d.i. seine ganze Pflicht und die Erreichung der Vollständigkeit des moralischen Zwecks in Ansehung seiner selbst betrifft, »seid vollkommen«; zu weichem Ziele aber hinzustreben beim Menschen immer nur ein Fortschreiten von einer Vollkommenheit zur anderen ist, »ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem trachtet nach«.




§ 22

Diese Pflicht gegen sich selbst ist eine der Qualität nach enge und vollkommene, obgleich dem Grade nach weite[582] und unvollkommene Pflicht, und das wegen der Gebrechlichkeit (fragilitas) der menschlichen Natur.

Diejenige Vollkommenheit nämlich, zu welcher zwar das Streben, aber nicht das Erreichen derselben (in diesem Leben) Pflicht ist, deren Befolgung also nur im kontinuierlichen Fortschritten bestehen kann, ist, in Hinsicht auf das Objekt (die Idee, deren Ausführung man sich zum Zweck machen soll), zwar enge und vollkommene, in Rücksicht aber auf das Subjekt, weite und nur unvollkommene Pflicht gegen sich selbst.

Die Tiefen des menschlichen Herzens sind unergründlich. Wer kennt sich gnugsam, wenn die Triebfeder zur Pflichtbeobachtung von ihm gefühlt wird, ob sie gänzlich aus der Vorstellung des Gesetzes hervorgehe, oder ob nicht manche andere, sinnliche Antriebe mitwirken, die auf den Vorteil (oder zur Verhütung eines Nachteils) angelegt sind und bei anderer Gelegenheit auch wohl dem Laster zu Diensten stehen könnten. – Was aber die Vollkommenheit als moralischen Zweck betrifft, so gibt's zwar in der Idee (objektiv) nur eine Tugend (als sittliche Stärke der Maximen), in der Tat (subjektiv) aber eine Menge derselben von heterogener Beschaffenheit, worunter es unmöglich sein dürfte, nicht irgend eine Untugend (ob sie gleich eben jener wegen den Namen des Lasters nicht zu führen pflegen) aufzufinden, wenn man sie suchen wollte. Eine Summe von Tugenden aber, deren Vollständigkeit oder Mängel das Selbsterkenntnis uns nie hinreichend einschauen läßt, kann keine andere als unvollkommene Pflicht vollkommen zu sein begründen.


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Also sind alle Pflichten gegen sich selbst in Ansehung des Zwecks der Menschheit in unserer eigenen Person nur unvollkommene Pflichten.[583]

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 582-584.
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