Zweiter Abschnitt.
Die christliche Religion als gelehrte Religion

[833] Sofern eine Religion Glaubenssätze als notwendig vorträgt, die nicht durch die Vernunft als solche erkannt werden können, gleichwohl aber doch allen Menschen auf alle künftige Zeiten unverfälscht (dem wesentlichen Inhalt nach) mitgeteilt werden sollen, so ist sie (wenn man nicht ein kontinuierliches Wunder der Offenbarung annehmen will) als ein der Obhut der Gelehrten anvertrautes heiliges Gut anzusehen. Denn ob sie gleich anfangs mit Wundern und Taten begleitet, auch in dem, was durch Vernunft eben nicht bestätigt wird, allenthalben Eingang finden konnte, so wird doch selbst die Nachricht von diesen Wundern, zusamt den Lehren, die der Bestätigung durch dieselbe bedurften, in der Folge der Zeit eine schriftliche urkundliche und unveränderliche Belehrung der Nachkommenschaft nötig haben.

Die Annehmung der Grundsätze einer Religion heißt vorzüglicherweise der Glaube (fides sacra). Wir werden also den christlichen Glauben einerseits als einen reinen Vernunftglauben, andrerseits als einen Offenbarungsglauben (fides statutaria) zu betrachten haben. Der erstere kann nun als ein von jedem frei angenommener (fides elicita), der zweite als ein gebotener Glaube (fides imperata) betrachtet werden. Von dem Bösen, was im menschlichen Herzen liegt, und von dem niemand frei ist; von der Unmöglichkeit, durch seinen Lebenswandel sich jemals vor Gott für gerechtfertigt zu halten, und gleichwohl der Notwendigkeit einer solchen vor ihm gültigen Gerechtigkeit; von der Untauglichkeit des Ersatzmittels für die ermangelnde Rechtschaffenheit durch kirchliche Observanzen und[833] fromme Frondienste und dagegen der unerlaßlichen Verbindlichkeit, ein neuer Mensch zu werden, kann sich ein jeder durch seine Vernunft überzeugen, und es gehört zur Religion, sich davon zu überzeugen.

Von da an aber, da die christliche Lehre auf Facta, nicht auf bloße Vernunftbegriffe gebaut ist, heißt sie nicht mehr bloß die christliche Religion, sondern der christliche Glaube, der einer Kirche zum Grunde gelegt worden. Der Dienst einer Kirche, die einem solchen Glauben geweihet ist, ist also zweiseitig; einerseits derjenige, welcher ihr nach dem historischen Glauben geleistet werden muß; andrerseits, welcher ihr nach dem praktischen und moralischen Vernunftglauben gebührt. Keiner von beiden kann in der christlichen Kirche als für sich allein bestehend von dem andern getrennt werden; der letztere darum nicht von dem erstern, weil der christliche Glaube ein Religionsglaube, der erstere nicht von dem letzteren, weil er ein gelehrter Glaube ist.

Der christliche Glaube als gelehrter Glaube stützt sich auf Geschichte, und ist, so fern als ihm Gelehrsamkeit (objektiv) zum Grunde liegt, nicht ein an sich freier, und von Einsicht hinlänglicher theoretischer Beweisgründe abgeleiteter, Glaube (fides elicita). Wäre er ein reiner Vernunftglaube, so würde er, obwohl die moralischen Gesetze, worauf er, als Glaube an einen göttlichen Gesetzgeber, gegründet ist, unbedingt gebieten, doch als freier Glaube betrachtet werden müssen; wie er im ersten Abschnitte auch vorgestellt worden. Ja er würde auch noch, wenn man das Glauben nur nicht zur Pflicht machte, als Geschichtsglaube ein theoretisch freier Glaube sein können; wenn jedermann gelehrt wäre. Wenn er aber für jedermann, auch den Ungelehrten gelten soll, so ist er nicht bloß ein gebotener, sondern auch dem Gebot blind, d.i. ohne Untersuchung, ob es auch wirklich göttliches Gebot sei, gehorchender Glaube (fides servilis).

In der christlichen Offenbarungslehre kann man aber keineswegs vom unbedingten Glauben an geoffenbarte (der Vernunft für sich verborgene) Sätze anfangen, und die gelehrte Erkenntnis, etwa bloß als Verwahrung gegen einen[834] den Nachzug anfallenden Feind, darauf folgen lassen; denn sonst wäre der christliche Glaube nicht bloß fides imperata, sondern sogar servilis. Er muß also jederzeit wenigstens als fides historice elicita gelehrt werden, d.i. Gelehrsamkeit mußte in ihr, als geoffenbarter Glaubenslehre nicht den Nachtrab, sondern den Vortrab ausmachen, und die kleine Zahl der Schriftgelehrten (Kleriker), die auch durchaus der profanen Gelahrtheit nicht entbehren könnten, würde den langen Zug der Ungelehrten (Laien), die für sich der Schrift unkundig sind (und worunter selbst die weitbürgerlichen Regenten gehören), nach sich schleppen. – Soll dieses nun nicht geschehen, so muß die allgemeine Menschenvernunft in einer natürlichen Religion in der christlichen Glaubenslehre für das oberste gebietende Prinzip anerkannt und geehrt, die Offenbarungslehre aber, worauf eine Kirche gegründet wird, und die der Gelehrten als Ausleger und Aufbewahrer bedarf, als bloßes aber höchst schätzbares Mittel, um der ersteren Faßlichkeit, selbst für die Unwissenden, Ausbreitung und Beharrlichkeit zu geben, geliebt und kultiviert werden.

Das ist der wahre Dienst der Kirche, unter der Herrschaft des guten Prinzips; der aber, wo der Offenbarungsglaube vor der Religion vorhergehen soll, der Afterdienst, wodurch die moralische Ordnung ganz umgekehrt, und das, was nur Mittel ist, unbedingt (gleich als Zweck) geboten wird. Der Glaube an Sätze, von welchen der Ungelehrte sich weder durch Vernunft noch Schrift (sofern diese allererst beurkundet werden müßte) vergewissern kann, würde zur absoluten Pflicht gemacht (fides imperata), und so samt andern damit verbundenen Observanzen zum Rang eines auch ohne moralische Bestimmungsgründe der Handlungen als Frondienst seligmachenden Glaubens erhoben werden. – Eine Kirche, auf das letztere Principium gegründet, hat nicht eigentlich Diener (ministri), so wie die von der erstern Verfassung, sondern gebietende hohe Beamte (officiales), welche, wenn sie gleich (wie in einer protestantischen Kirche) nicht im Glanz der Hierarchie als mit äußerer Gewalt[835] bekleidete geistliche Beamte erscheinen, und sogar mit Worten dagegen protestieren, in der Tat doch sich für die einigen berufenen Ausleger einer heiligen Schrift gehalten wissen wollen, nachdem sie die reine Vernunftreligion der ihr gebührenden Würde, allemal die höchste Auslegerin derselben zu sein, beraubt, und die Schriftgelehrsamkeit allein zum Behuf des Kirchenglaubens zu brauchen geboten haben. Sie verwandeln auf diese Art den Dienst der Kirche (ministerium) in eine Beherrschung der Glieder derselben (imperium), ob zwar sie, um diese Anmaßung zu verstecken, sich des bescheidenen Titels des erstern bedienen. Aber diese Beherrschung, die der Vernunft leicht gewesen wäre, kommt ihr teuer, nämlich mit dem Aufwande großer Gelehrsamkeit, zu stehen. Denn, »blind in Ansehung der Natur, reißt sie sich das ganze Altertum über den Kopf, und begräbt sich darunter«. – Der Gang, den die Sachen, auf diesen Fuß gebracht, nehmen, ist folgender:

Zuerst wird das von den ersten Ausbreitern der Lehre Christi klüglich beobachtete Verfahren, ihr unter ihrem Volk Eingang zu verschaffen, für ein Stück der Religion selbst für alle Zeiten und Völker geltend genommen, so daß man glauben sollte, ein jeder Christ müßte ein Jude sein, dessen Messias gekommen ist; womit aber nicht wohl zusammenhängt, daß er doch eigentlich an kein Gesetz des Judentums (als statutarisches) gebunden sei, dennoch aber das ganze heilige Buch dieses Volks als göttliche für alle Menschen gegebene Offenbarung gläubig annehmen müsse.62 – Nun setzt es sogleich mit der Authentizität dieses[836] Buchs (welche dadurch, daß Stellen aus demselben, ja die ganze darin vorkommende heilige Geschichte in den Büchern der Christen zum Behuf dieses ihres Zwecks benutzt werden, lange noch nicht bewiesen ist) viel Schwierigkeit. Das Judentum war vor Anfange und selbst dem schon ansehnlichen Fortgange des Christentums ins gelehrte Publikum noch nicht eingetreten gewesen, d.i. den gelehrten Zeitgenossen anderer Völker noch nicht bekannt, ihre Geschichte gleichsam noch nicht kontrolliert, und so ihr heiliges Buch wegen seines Altertums zur historischen Glaubwürdigkeit gebracht worden. Indessen, dieses auch eingeräumt, Ist es nicht genug, es in Übersetzungen zu kennen, und so auf die Nachkommenschaft zu übertragen, sondern zur Sicherheit des darauf gegründeten Kirchenglaubens wird auch erfordert, daß es auf alle künftige Zeit und in allen Völkern Gelehrte gebe, die der hebräischen Sprache (soviel es in einer solchen möglich ist, von der man nur ein einziges Buch hat) kundig sind, und es soll doch nicht bloß eine Angelegenheit der historischen Wissenschaft überhaupt, sondern eine, woran die Seligkeit der Menschen hängt, sein, daß es Männer gibt, welche derselben genugsam kundig sind, um der Welt die wahre Religion zu sichern.

Die christliche Religion hat zwar so fern ein ähnliches Schicksal, daß, obwohl die heiligen Begebenheiten derselben selbst unter den Augen eines gelehrten Volks öffentlich vorgefallen sind, dennoch ihre Geschichte sich mehr als ein Menschenalter verspätet hat, ehe sie in das gelehrte Publikum desselben eingetreten ist, mithin die Authentizität derselben[837] der Bestätigung durch Zeitgenossen entbehren muß. Sie hat aber den großen Vorzug vor dem Judentum, daß sie, aus dem Munde des ersten Lehrers als eine nicht statutarische, sondern moralische Religion hervorgegangen, vorgestellt wird, und, auf solche Art mit der Vernunft in die engste Verbindung tretend, durch sie von selbst auch ohne historische Gelehrsamkeit auf alle Zeiten und Völker mit der größten Sicherheit verbreitet werden konnte. Aber die ersten Stifter der Gemeinden fanden es doch nötig, die Geschichte des Judentums damit zu verflechten, welches nach ihrer damaligen Lage, aber vielleicht auch nur für dieselbe, klüglich gehandelt war, und so in ihrem heiligen Nachlaß mit an uns gekommen ist. Die Stifter der Kirche aber nahmen diese episodischen Anpreisungsmittel unter die wesentlichen Artikel des Glaubens auf, und vermehrten sie entweder mit Tradition, oder Auslegungen, die von Konzilien gesetzliche Kraft enthielten, oder durch Gelehrsamkeit beurkundet wurden, von welcher letztern, oder ihrem Antipoden, dem innern Licht, welches sich jeder Laie auch anmaßen kann, noch nicht abzusehen ist, wie viel Veränderungen dadurch dem Glauben noch bevorstehen; welches nicht zu vermeiden ist, so lange wir die Religion nicht in uns, sondern außer uns suchen.

62

Mendelssohn benutzt diese schwache Seite der gewöhnlichen Vorstellungsart des Christentums auf sehr geschickte Art, um alles Ansinnen an einen Sohn Israels, zum Religionsübergange, völlig abzuweisen. Denn, sagte er, da dir jüdische Glaube, selbst nach dem Geständnisse der Christen, das unterste Geschäft ist, worauf das Christentum, als das obere, ruht: so sei es eben so viel, als ob man jemanden zumuten wollte, das Erdgeschoß abzubrechen, um sich im zweiten Stockwerk ansässig zu machen. Seine wahre Meinung aber scheinet ziemlich klar durch. Er will sagen: schafft ihr erst selbst das Judentum aus eurer Religion heraus (in der historischen Glaubenslehre mag es als eine Antiquität immer bleiben), so werden wir euren Vorschlag in Überlegung nehmen können. (In der Tat bliebe alsdann wohl keine andere als rein-moralische von Statuten unbemengte Religion übrig.) Unsere Last wird durch Abwerfung des Jochs äußerer Observanzen im mindesten nicht erleichtert, wenn uns dafür ein anderes, nämlich das der Glaubensbekenntnisse heiliger Geschichte, welches den Gewissenhaften viel härter drückt, aufgelegt wird. – Übrigens werden die heiligen Bücher dieses Volks, wenn gleich nicht zum Behuf der Religion, doch für die Gelehrsamkeit, wohl immer aufbehalten und geachtet bleiben; weil die Geschichte keines Volks mit einigem Anschein von Glaubwürdigkeit auf Epochen der Vorzeit, in die alle uns bekannte Profangeschichte gestellt werden kann, so weit zurückdatiert ist als diese (sogar bis zum Anfange der Welt), und so die große Leere, welche jene übrig lassen muß, doch wodurch ausgefüllt wird.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 833-838.
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