Wie ist Natur selbst möglich?

§ 36

[186] Diese Frage, welche der höchste Punkt ist, den transzendentale Philosophie nur immer berühren mag, und zu welchem sie auch, als ihrer Grenze und Vollendung, geführt werden muß, enthält eigentlich zwei Fragen.

Erstlich: Wie ist Natur in materieller Bedeutung, nämlich der Anschauung nach, als der Inbegriff der Erscheinungen,[186] wie ist Raum, Zeit, und das, was beide erfüllt, der Gegenstand der Empfindung, überhaupt möglich? Die Antwort ist: vermittelst der Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit, nach welcher sie, auf die ihr eigentümliche Art, von Gegenständen, die ihr an sich selbst unbekannt, und von jenen Erscheinungen ganz unterschieden sind, gerührt wird. Diese Beantwortung ist, in dem Buche selbst, in der transzendentalen Ästhetik, hier aber in den Prolegomenen durch die Auflösung der ersten Hauptfrage gegeben worden.

Zweitens: Wie ist Natur in formeller Bedeutung, als der Inbegriff der Regeln, unter denen alle Erscheinungen stehen müssen, wenn sie in einer Erfahrung als verknüpft gedacht werden sollen, möglich? Die Antwort kann nicht anders ausfallen, als: sie ist nur möglich vermittelst der Beschaffenheit unseres Verstandes, nach welcher alle jene Vorstellungen der Sinnlichkeit auf ein Bewußtsein notwendig bezogen werden, und wodurch allererst die eigentümliche Art unseres Denkens, nämlich durch Regeln, und vermittelst dieser die Erfahrung, welche von der Einsicht der Objekte an sich selbst ganz zu unterscheiden ist, möglich ist. Diese Beantwortung ist, in dem Buche selbst, in der transzendentalen Logik, hier aber, in den Prolegomenen, in dem Verlauf der Auflösung der zweiten Hauptfrage gegeben worden.

Wie aber diese eigentümliche Eigenschaft unsrer Sinnlichkeit selbst, oder die unseres Verstandes und der ihm und allem Denken zum Grunde liegenden notwendigen Apperzeption, möglich sei, läßt sich nicht weiter auflösen und beantworten, weil wir ihrer zu aller Beantwortung und zu allem Denken der Gegenstände immer wieder nötig haben.

Es sind viele Gesetze der Natur, die wir nur vermittelst der Erfahrung wissen können, aber die Gesetzmäßigkeit in Verknüpfung der Erscheinungen, d.i. die Natur überhaupt, können wir durch keine Erfahrung kennen lernen, weil Erfahrung selbst solcher Gesetze bedarf, die ihrer Möglichkeit a priori zum Grunde liegen.

Die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt ist also zugleich das allgemeine Gesetz der Natur, und die Grundsätze der erstern sind selbst die Gesetze der letztern. Denn wir[187] kennen Natur nicht anders, als den Inbegriff der Erscheinungen, d.i. der Vorstellungen in uns, und können daher das Gesetz ihrer Verknüpfung nirgend anders, als von den Grundsätzen der Verknüpfung derselben in uns, d.i. den Bedingungen der notwendigen Vereinigung in einem Bewußtsein, welche die Möglichkeit der Erfahrung ausmacht, hernehmen.

Selbst der Hauptsatz, der durch diesen ganzen Abschnitt ausgeführt worden, daß allgemeine Naturgesetze a priori erkannt werden können, führt schon von selbst auf den Satz: daß die oberste Gesetzgebung der Natur in uns selbst, d.i. in unserm Verstande liegen müsse, und daß wir die allgemeinen Gesetze derselben nicht von der Natur vermittelst der Erfahrung, sondern umgekehrt die Natur, ihrer allgemeinen Gesetzmäßigkeit nach, bloß aus den in unserer Sinnlichkeit und dem Verstande liegenden Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung suchen müssen; denn wie wäre es sonst möglich, diese Gesetze, da sie nicht etwa Regeln der analytischen Erkenntnis, sondern wahrhafte synthetische Erweiterungen derselben sind, a priori zu kennen? Eine solche und zwar notwendige Übereinstimmung der Prinzipien möglicher Erfahrung mit den Gesetzen der Möglichkeit der Natur kann nur aus zweierlei Ursachen stattfinden: entweder diese Gesetze werden von der Natur vermittelst der Erfahrung entlehnt, oder umgekehrt die Natur wird von den Gesetzen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt abgeleitet, und ist mit der bloßen allgemeinen Gesetzmäßigkeit der letzteren völlig einerlei. Das erstere widerspricht sich selbst, denn die allgemeinen Naturgesetze können und müssen a priori (d.i. unabhängig von aller Erfahrung) erkannt, und allem empirischen Gebrauche des Verstandes zum Grunde gelegt werden, also bleibt nur das zweite übrig.12[188]

Wir müssen aber empirische Gesetze der Natur, die jederzeit besondere Wahrnehmungen voraussetzen, von den reinen, oder allgemeinen Naturgesetzen, welche, ohne daß besondere Wahrnehmungen zum Grunde liegen, bloß die Bedingungen ihrer notwendigen Vereinigung in einer Erfahrung enthalten, unterscheiden, und in Ansehung der letztern ist Natur und mögliche Erfahrung ganz und gar einerlei, und, da in dieser die Gesetzmäßigkeit auf der notwendigen Verknüpfung der Erscheinungen in einer Erfahrung (ohne welche wir ganz und gar keinen Gegenstand der Sinnenwelt erkennen können), mithin auf den ursprünglichen Gesetzen des Verstandes beruht, so klingt es zwar anfangs befremdlich, ist aber nichts desto weniger gewiß, wenn ich in Ansehung der letztern sage: der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.


§ 37

Wir wollen diesen dem Anscheine nach gewagten Satz durch ein Beispiel erläutern, welches zeigen soll: daß Gesetze, die wir an Gegenständen der sinnlichen Anschauung entdecken, vornehmlich wenn sie als notwendig erkannt worden, von uns selbst schon vor solche gehalten werden, die der Verstand hinein gelegt, ob sie gleich den Naturgesetzen, die wir der Erfahrung zuschreiben, sonst in allen Stücken ähnlich sind.




§ 38

Wenn man die Eigenschaften des Zirkels betrachtet, dadurch diese Figur so manche willkürliche Bestimmungen, des Raums in ihr, so fort in einer allgemeinen Regel vereinigt, so kann man nicht umhin, diesem geometrischen Dinge eine Natur beizulegen. So teilen sich nämlich zwei Linien, die sich einander und zugleich den Zirkel schneiden, nach welchem Ohngefähr sie auch gezogen werden, doch jederzeit so regelmäßig: daß das Rektangel aus den Stücken einer jeden Linie dem der andern gleich ist. Nun frage ich: »liegt dieses Gesetz im Zirkel, oder liegt es im Verstande«, d.i.[189] enthält diese Figur, unabhängig vom Verstande, den Grund dieses Gesetzes in sich, oder legt der Verstand, indem er nach seinen Begriffen (nämlich der Gleichheit der Halbmesser) die Figur selbst konstruiert hat, zugleich das Gesetz der einander in geometrischer Proportion schneidenden Sehnen in dieselbe hinein? Man wird bald gewahr, wenn man den Beweisen dieses Gesetzes nachgeht, daß es allein von der Bedingung, die der Verstand der Konstruktion dieser Figur zum Grunde legte, nämlich der Gleichheit der Halbmesser könne abgeleitet werden. Erweitern wir diesen Begriff nun, die Einheit mannigfaltiger Eigenschaften geometrischer Figuren unter gemeinschaftlichen Gesetzen noch weiter zu verfolgen, und betrachten den Zirkel als einen Kegelschnitt, der also mit andern Kegelschnitten unter eben denselben Grundbedingungen der Konstruktion steht, so finden wir, daß alle Sehnen, die sich innerhalb der letztern, der Ellipse, der Parabel und Hyperbel schneiden, es jederzeit so tun, daß die Rektangel aus ihren Teilen zwar nicht gleich, aber doch immer in gleichen Verhältnissen gegen einander stehen. Gehen wir von da noch weiter, nämlich zu den Grundlehren der physischen Astronomie, so zeigt sich ein über die ganze materielle Natur verbreitetes physisches Gesetz der wechselseitigen Attraktion, deren Regel ist, daß sie umgekehrt mit dem Quadrat der Entfernungen von jedem anziehenden Punkt eben so abnehmen, wie die Kugelflächen, in die sich diese Kraft verbreitet, zunehmen, welches als notwendig in der Natur der Dinge selbst zu liegen scheint, und daher auch als a priori erkennbar vorgetragen zu werden pflegt. So einfach nun auch die Quellen dieses Gesetzes sein, indem sie bloß auf dem Verhältnisse der Kugelfläche von verschiedenen Halbmessern beruhen, so ist doch die Folge davon so vortrefflich in Ansehung der Mannigfaltigkeit ihrer Zusammenstimmung und Regelmäßigkeit derselben, daß nicht allein alle mögliche Bahnen der Himmelskörper in Kegelschnitten, sondern auch ein solches Verhältnis derselben unter einander erfolgt, daß kein ander Gesetz[190] der Attraktion, als das des umgekehrten Quadratverhältnisses der Entfernungen zu einem Weltsystem als schicklich erdacht werden kann.

Hier ist also Natur, die auf Gesetzen beruht, welche der Verstand a priori erkennt, und zwar vornehmlich aus allgemeinen Prinzipien der Bestimmung des Raums. Nun frage ich: liegen diese Naturgesetze im Raume, und lernt sie der Verstand, indem er den reichhaltigen Sinn, der in jenem liegt, bloß zu erforschen sucht, oder liegen sie im Verstande und in der Art, wie dieser den Raum nach den Bedingungen der synthetischen Einheit, darauf seine Begriffe insgesamt auslaufen, bestimmt? Der Raum ist etwas so Gleichförmiges und in Ansehung aller besondern Eigenschaften so Unbestimmtes, daß man in ihm gewiß keinen Schatz von Naturgesetzen suchen wird. Dagegen ist das, was den Raum zur Zirkelgestalt, der Figur des Kegels und der Kugel bestimmt, der Verstand, so fern er den Grund der Einheit der Konstruktion derselben enthält. Die bloße allgemeine Form der Anschauung, die Raum heißt, ist also wohl das Substratum aller auf besondere Objekte bestimmbaren Anschauungen, und in jenem liegt freilich die Bedingung der Möglichkeit und Mannigfaltigkeit der letztern; aber die Einheit der Objekte wird doch lediglich durch den Verstand bestimmt, und zwar nach Bedingungen, die in seiner eigenen Natur liegen, und so ist der Verstand der Ursprung der allgemeinen Ordnung der Natur, indem er alle Erscheinungen unter seine eigene Gesetze faßt, und dadurch allererst Erfahrung (ihrer Form nach) a priori zu Stande bringt, vermöge deren alles, was nur durch Erfahrung erkannt werden soll, seinen Gesetzen notwendig unterworfen wird. Denn wir haben es nicht mit der Natur der Dinge an sich selbst zu tun, die ist sowohl von Bedingungen unserer Sinnlichkeit als des Verstandes unabhängig, sondern mit der Natur, als einem Gegenstande möglicher Erfahrung, und da macht es der Verstand, indem er diese möglich macht, zugleich, daß Sinnenwelt entweder gar kein Gegenstand der Erfahrung oder eine Natur ist.

12

Crusius allein wußte einen Mittelweg: daß nämlich ein Geist, der nicht irren noch betriegen kann, uns diese Naturgesetze ursprünglich eingepflanzt habe. Allein, da sich doch oft auch trügliche Grundsätze einmischen, wovon das System dieses Mannes selbst nicht wenig Beispiele gibt, so sieht es bei dem Mangel sicherer Kriterien, den echten Ursprung von dem unechten zu unterscheiden, mit dem Gebrauche eines solchen Grundsatzes sehr mißlich aus, indem man niemals sicher wissen kann, was der Geist der Wahrheit oder der Vater der Lügen uns eingeflößt haben möge

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 5, Frankfurt am Main 1977, S. 186-191.
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