§ 39. Anhang zur reinen Naturwissenschaft.
Von dem System der Kategorien

[191] Es kann einem Philosophen nichts erwünschter sein, als wenn er das Mannigfaltige der Begriffe oder Grundsätze, die sich ihm vorher durch den Gebrauch, den er von ihnen in concreto gemacht hatte, zerstreut dargestellt hatten, aus einem Prinzip a priori ableiten, und alles auf solche Weise in eine Erkenntnis vereinigen kann. Vorher glaubte er nur, daß, was ihm nach einer gewissen Abstraktion übrig blieb, und, durch Vergleichung unter einander, eine besondere Art von Erkenntnissen auszumachen schien, vollständig gesammlet sei, aber es war nur ein Aggregat; jetzt weiß er, daß gerade nur so viel, nicht mehr, nicht weniger, die Erkenntnisart ausmachen könne, und sahe die Notwendigkeit seiner Einteilung ein, welches ein Begreifen ist, und nun hat er allererst ein System.

Aus dem gemeinen Erkenntnisse die Begriffe heraussuchen, welche gar keine besondere Erfahrung zum Grunde liegen haben, und gleichwohl in aller Erfahrungserkenntnis vorkommen, von der sie gleichsam die bloße Form der Verknüpfung ausmachen, setzte kein größeres Nachdenken, oder mehr Einsicht voraus, als aus einer Sprache Regeln des wirklichen Gebrauchs der Wörter überhaupt heraussuchen, und so Elemente zu einer Grammatik zusammentragen (in der Tat sind beide Untersuchungen einander auch sehr nahe verwandt), ohne doch eben Grund angeben zu können, warum eine jede Sprache gerade diese und keine andere formale Beschaffenheit habe, noch weniger aber, daß gerade so viel, nicht mehr noch weniger, solcher formalen Bestimmungen derselben überhaupt angetroffen werden können.

Aristoteles hatte zehn solcher reinen Elementarbegriffe unter dem Namen der Kategorien13 zusammengetragen. Diesen, welche auch Prädikamente genennt wurden, sahe er sich hernach genötigt, noch fünf Post prädikamente beizufügen,14[192] die doch zum Teil schon in jenen liegen (als prius, simul, motus); allein diese Rhapsodie konnte mehr vor einen Wink vor den künftigen Nachforscher, als vor eine regelmäßig ausgeführte Idee gelten, und Beifall verdienen, daher sie auch, bei mehrerer Aufklärung der Philosophie, als ganz unnütz verworfen worden.

Bei einer Untersuchung der reinen (nichts Empirisches enthaltenden) Elemente der menschlichen Erkenntnis gelang es mir allererst nach langem Nachdenken, die reinen Elementarbegriffe der Sinnlichkeit (Raum und Zeit) von denen des Verstandes mit Zuverlässigkeit zu unterscheiden und abzusondern. Dadurch wurden nun aus jenem Register die 7te, 8te, 9te Kategorie ausgeschlossen. Die übrigen konnten mir zu nichts nutzen, weil kein Prinzip vorhanden war, nach welchem der Verstand völlig ausgemessen und alle Funktionen desselben, daraus seine reine Begriffe entspringen, vollzählig und mit Präzision bestimmt werden könnten.

Um aber ein solches Prinzip auszufinden, sahe ich mich nach einer Verstandeshandlung um, die alle übrige enthält, und sich nur durch verschiedene Modifikationen oder Momente unterscheidet, das Mannigfaltige der Vorstellung unter die Einheit des Denkens überhaupt zu bringen, und da fand ich, diese Verstandeshandlung bestehe im Urteilen. Hier lag nun schon fertige, obgleich noch nicht ganz von Mängeln freie Arbeit der Logiker vor mir, dadurch ich in den Stand gesetzt wurde, eine vollständige Tafel reiner Verstandesfunktionen, die aber in Ansehung alles Objekts unbestimmt waren, darzustellen. Ich bezog endlich diese Funktionen zu urteilen auf Objekte überhaupt, oder vielmehr auf die Bedingung, Urteile als objektiv-gültig zu bestimmen, und es entsprangen reine Verstandesbegriffe, bei denen ich außer Zweifel sein konnte, daß gerade nur diese, und ihrer nur so viel, nicht mehr noch weniger, unser ganzes Erkenntnis der Dinge aus bloßem Verstande ausmachen können. Ich nannte sie, wie billig, nach ihrem alten Namen Kategorien; wobei ich mir vorbehielt, alle von diesen abzuleitende Begriffe, es sei durch Verknüpfung unter einander, oder mit der reinen Form der Erscheinung (Raum und[193] Zeit) oder mit ihrer Materie, so fern sie noch nicht empirisch bestimmt ist (Gegenstand der Empfindung überhaupt), unter der Benennung der Prädikabilien, vollständig hinzuzufügen, so bald ein System der transzendentalen Philosophie, zu deren Behuf ich es jetzt nur mit der Kritik der Vernunft selbst zu tun hatte, zu Stande kommen sollte.

Das Wesentliche aber in diesem System der Kategorien, dadurch es sich von jener alten Rhapsodie, die ohne alles Prinzip fortging, unterscheidet, und warum es auch allein zur Philosophie gezählt zu werden verdient, besteht darin: daß vermittelst derselben die wahre Bedeutung der reinen Verstandesbegriffe und die Bedingung ihres Gebrauchs genau bestimmt werden konnte. Denn da zeigte sich, daß sie vor sich selbst nichts als logische Funktionen sind, als solche aber nicht den mindesten Begriff von einem Objekte an sich selbst ausmachen, sondern es bedürfen, daß sinnliche Anschauung zum Grunde liege, und alsdenn nur dazu dienen, empirische Urteile, die sonst in Ansehung aller Funktionen zu urteilen unbestimmt und gleichgültig sind, in Ansehung derselben zu bestimmen, ihnen dadurch Allgemeingültigkeit zu verschaffen, und vermittelst ihrer Erfahrungsurteile überhaupt möglich zu machen.

Von einer solchen Einsicht in die Natur der Kategorien, die sie zugleich auf den bloßen Erfahrungsgebrauch einschränkte, ließ sich weder ihr erster Urheber, noch irgend einer nach ihm etwas einfallen; aber ohne diese Einsicht (die ganz genau von der Ableitung oder Deduktion derselben abhängt) sind sie gänzlich unnütz und ein elendes Namenregister, ohne Erklärung und Regel ihres Gebrauchs. Wäre dergleichen jemals den Alten in den Sinn gekommen, ohne Zweifel das ganze Studium der reinen Vernunfterkenntnis, welches unter dem Namen Metaphysik viele Jahrhunderte hindurch so manchen guten Kopf verdorben hat, wäre in ganz anderer Gestalt zu uns gekommen, und hätte den Verstand der Menschen aufgeklärt, anstatt ihn, wie wirklich geschehen ist, in düstern und vergeblichen Grübeleien zu erschöpfen, und vor wahre Wissenschaft unbrauchbar zu machen.[194]

Dieses System der Kategorien macht nun alle Behandlung eines jeden Gegenstandes der reinen Vernunft selbst wiederum systematisch, und gibt eine ungezweifelte Anweisung oder Leitfaden ab, wie und durch welche Punkte der Untersuchung jede metaphysische Betrachtung, wenn sie vollständig werden soll, müsse geführt werden: denn es erschöpft alle Momente des Verstandes, unter welche jeder andere Begriff gebracht werden muß. So ist auch die Tafel der Grundsätze entstanden, von deren Vollständigkeit man nur durch das System der Kategorien gewiß sein kann, und selbst in der Einteilung der Begriffe, welche über den physiologischen Verstandesgebrauch hinausgehen sollen (Kritik, S. 344, imgleichen S. 415), ist es immer derselbe Leitfaden, der, weil er immer durch dieselbe feste, im menschlichen Verstande a priori bestimmte Punkte geführt werden muß, jederzeit einen geschlossenen Kreis bildet, der keinen Zweifel übrig läßt, daß der Gegenstand eines reinen Verstandes- oder Vernunftbegriffs, so fern er philosophisch und nach Grundsätzen a priori erwogen werden soll, auf solche Weise vollständig erkannt werden könne. Ich habe sogar nicht unterlassen können, von dieser Leitung in Ansehung einer der abstraktesten ontologischen Einteilungen, nämlich der mannigfaltigen Unterscheidung der Begriffe von Etwas und Nichts Gebrauch zu machen, und darnach eine regelmäßige und notwendige Tafel (Kritik, S. 292) zu Stande zu bringen.15[195]

Eben dieses System zeigt seinen nicht gnug anzupreisenden Gebrauch, so wie jedes auf ein allgemeines Prinzip gegründetes wahres System, auch darin, daß es alle fremdartige Begriffe, die sich sonst zwischen jene reine Verstandesbegriffe einschleichen möchten, ausstößt, und jedem Erkenntnis seine Stelle bestimmt. Diejenige Begriffe, welche ich unter dem Namen der Reflexionsbegriffe gleichfalls nach dem Leitfaden der Kategorien in eine Tafel gebracht hatte, mengen sich in der Ontologie, ohne Vergünstigung und rechtmäßige Ansprüche, unter die reinen Verstandesbegriffe, obgleich diese Begriffe der Verknüpfung, und dadurch des Objekts selbst, jene aber nur der bloßen Vergleichung schon gegebener Begriffe sind, und daher eine ganz andere Natur und Gebrauch haben; durch meine gesetzmäßige Einteilung (Kritik, S. 260) werden sie aus diesem Gemenge geschieden. Noch viel heller aber leuchtet der Nutzen jener abgesonderten Tafel der Kategorien in die Augen, wenn wir, wie es gleich jetzt geschehen wird, die Tafel transzendentaler Vernunftbegriffe, die von ganz anderer Natur und Ursprung sind, als jene Verstandesbegriffe, (daher auch eine andre Form haben muß) von jenen trennen, welche so notwendige Absonderung doch niemals in irgend einem System der Metaphysik geschehen ist, jene Vernunftideen mit Verstandesbegriffen, als gehöreten sie, wie Geschwister, zu einer Familie, ohne Unterschied durch einander laufen, welche Vermengung, in Ermangelung eines besondern Systems der Kategorien, auch niemals vermieden werden konnte.[196]

13

1. Substantia. 2. Qualitas. 3. Quantitas. 4. Relatio. 5. Actio. 6. Passio. 7. Quando. 8. Ubi. 9. Situs. 10. Habitus.

14

Oppositum, Prius, Simul, Motus, Habere.

15

Über eine vorgelegte Tafel der Kategorien lassen sich allerlei artige Anmerkungen machen, als: 1) daß die dritte aus der ersten und zweiten in einen Begriff verbunden entspringe, 2) daß in denen von der Größe und Qualität bloß ein Fortschritt von der Einheit zur Allheit, oder von dem Etwas zum Nichts (zu diesem Behuf müssen die Kategorien der Qualität so stehen: Realität, Einschränkung, völlige Negation) fortgehen, ohne Correlata oder Opposita, dagegen die der Relation und Modalität diese letztere bei sich führen, 3) daß, so wie im Logischen kategorische Urteile allen andern zum Grunde liegen, so die Kategorie der Substanz allen Begriffen von wirklichen Dingen, 4) daß, so wie die Modalität im Urteile kein besonderes Prädikat ist, so auch die Modalbegriffe keine Bestimmung zu Dingen hinzutun, u.s.w. Dergleichen Betrachtungen alle ihren großen Nutzen haben. Zählt man überdem alle Prädikabilien auf, die man ziemlich vollständig aus jeder guten Ontologie (z. E. Baumgartens) ziehen kann, und ordnet sie klassenweise unter die Kategorien, wobei man nicht versäumen muß, eine so vollständige Zergliederung aller dieser Begriffe, als möglich, hinzuzufügen, so wird ein bloß analytischer Teil der Metaphysik entspringen, der noch gar keinen synthetischen Satz enthält und vor dem zweiten (dem synthetischen) vorhergehen könnte, und durch seine Bestimmtheit und Vollständigkeit nicht allein Nutzen, sondern, vermöge des Systematischen in ihm, noch überdem eine gewisse Schönheit enthalten würde.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 5, Frankfurt am Main 1977, S. 191-197.
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