2. Andre Bearbeitungen des Don Juan, in bezug auf die musikalische Auffassung beurteilt

[104] Die Idee des Faust ist bekanntlich Gegenstand einer Reihe verschiedener Auffassungen geworden, was dagegen mit der des Don Juan keineswegs der Fall war. Dies könnte auffallend scheinen, zumal letztere Idee in der Entwickelung des individuellen Lebens einen weit universelleren Abschnitt bildet, als die zuerst genannte. Indessen läßt es sich eben daraus erklären, daß das Faustische Streben eine geistige Reife voraussetzt, bei der jedenfalls eine mehr oder minder eigentümliche Auffassung bei weitem näher liegt. Hierzu kommt der Umstand, daß man schon früher die Schwierigkeit empfunden haben mag, für die Sage vom Don Juan (soweit eine solche überhaupt existierte) das rechte Medium zu finden, bis Mozart das Medium und zugleich die Idee entdeckte. Seitdem hat die Idee erst ihre wahre Würdigung gefunden, und wiederum in ungewöhnlichem Umfange, hier und dort, in Nord und Süd, einen gewissen Zeitraum individuellen Lebens ausgefüllt, aber auch so befriedigend ausgefüllt, daß der so natürliche Drang, das in der Phantasie Erlebte dichterisch darzustellen, dennoch nicht zu einer poetischen Notwendigkeit ward. Und auch das kann als indirekter Beweis gelten für den absolut klassischen Wert dieser Oper Mozarts. Das in dieser Richtung liegende Ideale hatte schon einen künstlerischen Ausdruck gefunden,[104] der in solchem Grade vollendet war, daß er wohl versuchend wirken konnte (und dies mag mehr als eine Seele an sich selbst verspürt haben), aber nicht gerade zu dichterischer Produktivität versuchend. Die tiefsten, von der Idee berührten Naturen, sie fanden in jeder, auch der zartesten, von Mozart musikalisch ausgedrückten Regung, sie fanden in der grandiosen Leidenschaft dieser Musik einen volltönigen Ausdruck für das, was ihr eignes Innere bewegte; sie wurden inne, wie ihre ganze Stimmung dieser Musik zustrebte und in sie aufzugehen verlangte, sowie das Flüßchen eilt, sich in die Unendlichkeit des Meeres zu verlieren. Solche Naturen fanden in dem Mozartschen Don Juan ebensoviel Text, als Kommentar; und während sie sich auf diesen Tonwellen wiegen und Schaukeln ließen, genossen sie der Freude, sich selbst zu verlieren und gewannen zugleich den inneren Reichtum, den alle echte Bewunderung mit sich führt. In keiner Hinsicht war die Mozartsche Musik ihnen zu eng; im Gegenteil erweiterten sich ihre eignen Stimmungen, steigerten sich zu überschwenglicher Höhe, während man dieselben in Mozart wiederfand. Gemeinere Naturen, nichts Überschwenglisches ahnend, die darum, weit sie einer Bauerndirne oder einer Kellnerin die Wange kniffen, sich als Don Juans fühlten, sie verstanden natürlich weder die Idee, noch Mozart; oder wenn sie gar einen Don Juan zu dichten sich vermaßen, ward eine lächerliche Karikatur, in welcher höchstens einige sentimentale Fräulein einen wahren Don Juan, den Inbegriff aller Liebenswürdigkeit, erblickten. In diesem niedrigen Sinne hat der Faust noch niemals einen Ausdruck gefunden, und kann ihn, wie vorher bemerkt, niemals finden, darum nicht, weil die Idee eine weit konkretere ist. Eine Auffassung des Faust kann den Namen der vollkommenen verdienen; und dennoch wird eine spätere Generation einen neuen Faust hervorbringen, während Don Juan, wegen des abstrakten Charakters der Idee, durch alle Zeiten hindurch lebt; und nach Mozart einen Don Juan liefern, heißt immerdar, eine Ilias post Homerum dichten, ja in noch weit tieferem Sinne, als dieses von Homer gilt.

Dessenungeachtet kann eine einzelne begabte Natur sich auch darin versucht haben, Don Juan von einer andern Seite aufzufassen.[105] Daß dem also ist, weiß jeder; aber vielleicht hat nicht jeder darauf geachtet, daß der Typus für alle andern Auffassungen wesentlich Mozarts Don Juan ist. Dieser Typus ist ja eigentlich älter, als der Moztartsche, zugleich von komischer Färbung, und verhält sich zu demselben, wie etwa eines der Märchen des Musäus sich zu der Tieckschen Bearbeitung verhält. Insofern könnte ich mich begnügen, nur den Molièreschen Don Juan zu besprechen, und indem ich ästhetisch ihn zu würdigen suche, indirekt zugleich den andern Auffassungen ihre Stelle anzuweisen, jedoch will ich eine Ausnahme machen mit dem Don Juan des dänischen Dichters J. L. Heiberg (gest. 1860). Auf dem Titel erklärt er selbst, daß die Dichtung »zum Teil nach Molière« verfaßt sei. Dies ist zwar richtig; aber Heibergs Drama hat doch einen großen Vorzug vor demjenigen Molières. Dieser Vorzug beruht nun zwar auf dem sichern, ästhetischen Blicke, mit dem Heiberg seine Aufgabe jedesmal auffaßt, dem Geschmacke, mit dem er zu distinguieren weiß; aber unmöglich ist es doch nicht, daß in unserm Falle Heiberg indirekt Mozart auf sich einwirken ließ, so daß er nämlich einsah, wie Don Juan alsdann aufzufassen sei, wenn man nicht die Musik als den eigentlichen und einzigen Ausdruck für ihn gelten läßt, oder ihn unter ganz andre ästhetische Kategorien stellen will. Auch sein begabter Landsmann, J. C. Hauch (gest. 1872) hat einen Don Juan gedichtet, welcher in die Rubrik des Interessanten zu stellen sein dürfte. Wenn ich also jetzt dazu übergehe, die andersartigen Bearbeitungen unsres Stoffes zu besprechen, so bedarf es kaum der Erinnerung, daß es in gegenwärtiger kleiner Untersuchung nicht um ihrer selbst willen geschieht. Sondern nur zu dem Zwecke, vollständiger, als es im vorhergehenden möglich war, die Bedeutung der musikalischen Auffassung zu beleuchten.

Das, worum sich die ganze Auffassung des Don Juan dreht, ist dieser schon früher bezeichnete Punkt: sobald er eine Replik erhält, ist alles verändert. Die Reflexion nämlich, durch welche die Replik motiviert wird, reflektiert ihn aus dem Dunkel heraus, in welchem er nur musikalisch vernehmbar wird. Hiernach könnte es scheinen, daß Don Juan sich vielleicht am besten als Ballett auffassen lasse. Bekanntlich ist er auch in der That so behandelt worden. Indes ist[106] es anzuerkennen, daß man hierbei seiner Kräfte eingedenk gewesen, und diese Auffassung sich auf die letzte Szene beschränkt hat, wo die Leidenschaft Don Juans am ehesten in dem pantomimischen Muskelspiel sichtbar werden muß. Das erwähnte Ballett stellt aber hauptsächlich nur den vom Arme der ewigen Gerechtigkeit ergriffenen Verführer dar, also die Qualen der Verzweiflung, deren Ausdruck, soweit dieser pantomimisch sein soll, er mit manchen andern Verzweifelten gemeinsam hat. Das Wesentliche an Don Juan kann in einem Ballett nicht zur Darstellung kommen. Fühlt doch jeder alsbald, wie lächerlich es ausfällt, wenn Don Juan vor unsern Augen ein junges Mädchen durch seine Pirouetten und sinnreichen Gestikulationen bestrickt. Don Juan ist eine von innen her ausgetriebene Natur, welche daher nicht in bloßen Formen und Schwingungen des Körpers, oder in plastischer Harmonie sich offenbaren kann.

Denkbar ist ja freilich eine Auffassung des Don Juan, welche – auch wenn man ihm selbst keine Replik in den Mund geben möchte – desungeachtet sich des Wortes als Mediums bediente. Eine solche Auffassung existiert denn in der That, nämlich in Byrons Dichtung. Daß Byron in mehr als einer Hinsicht zur Schilderung eines Don Juan ausgestattet war, ist gewiß; und mißglückte dieses Unternehmen, so lag die Schuld sicherlich nicht an Byron, sondern tiefer. Byron hat es gewagt, Don Juan vor unsern Augen entstehen zu lassen, das Leben seiner Kindheit und Jugend uns zu erzählen, ihn aus dem Gewebe endlicher Lebensverhältnisse zu konstruieren. Hierdurch wird Don Juan zu einer reflektierten Persönlichkeit, welche der Idealität, die in der traditionellen Vorstellung sie umgibt, verlustig geht. Ich will mich hier sogleich darüber erklären, was für eine Veränderung mit der Idee vorgeht. wird Don Juan musikalisch aufgefaßt, so höre ich die ganze Unendlichkeit der Leidenschaft aus ihm hervortönen, aber zugleich ihre unbeschränkte Macht, welcher nichts zu widerstehen vermag; ich höre die wilde Begier des Verlangens, aber zugleich dessen absolutes Siegesbewußtsein. Verweilt der Gedanke einmal bei einem Hindernisse, so hat dieses mehr die Bedeutung eines Reizmittels, durch welches der Genuß noch erhöht wird, als eines wirklichen Widerstandes,[107] der den Sieg zweifelhaft machen könnte. Ein solches elementarisch bewegtes Leben, dämonisch, mächtig und unwiderstehlich, habe ich in Don Juan. Dieses ist seine Idealität; und dieser kann ich mich darum ungestört freuen, weil die Musik ihn mir nicht als eine Person, ein einzelnes Individuum darstellt, sondern als eine Macht. Wird er als Individuum aufgefaßt, so steht er eo ipso im Konflikt mit einer ihn umgebenden Welt, fühlt den Druck und die gêne dieser Umgebung; als überlegenes Individuum besiegt er sie vielleicht; aber man empfindet bald, daß Schwierigkeiten und Hindernisse hier eine andre Rolle spielen. Sie sind es, mit denen das Interesse sich wesentlich beschäftigt. Sonach wäre Don Juan in die Reihe der interessanten Erscheinungen versetzt. Wollte man ihn hier mit Hilfe schöner Worte als absolut siegreich darstellen, so fühlt man sofort das Unbefriedigende, sofern es einem Individuum als solchem nicht zukommt, an und für sich der Siegreiche zu sein; man fordert dann die Krisis des Konflikts.

Der von dem Individuum zu bekämpfende Widerstand kann entweder ein äußerlicher sein, welcher weniger in dem nächsten Gegenstande, als in der umgebenden Welt begründet ist; oder er liegt in dem Gegenstande selbst. Jener erstere Gesichtspunkt ist es, welcher alle bisherigen Auffassungen Don Juans zumeist beherrscht hat, weil man nämlich an dem Momente der Idee: als Erotiker müsse er an sich siegreich sein, festgehalten hat. Hebt man hingegen die andre Seite hervor, so öffnet sich uns da erst die Aussicht auf eine bedeutungsvolle Auffassung unsres Helden, welche ein Gegenstück zu dem musikalischen Don Juan bilden wird, während jede in der Mitte schwebende Auffassung immer ihre Unvollkommenheiten behält. In dem musikalischen Don Juan würde man alsdann den extensiven Verführer haben, in dem andern den intensiven. In letzterer Gestalt erscheint er dann nicht als ein solcher, der mit einem Schlage, wie im Sturme, sich in den Besitz seines Gegenstandes setzt: er ist viel zu sehr der reflektierende Verführer. Was unsre Aufmerksamkeit hier beschäftigt, ist die Schlauheit, die Arglist, mit der er sich in ein Mädchenherz einzuschleichen, die Herrschaft, die er sich über dasselbe zu verschaffen weiß, die bethörende, planmäßige, successive Verführung.[108] Wie viele er verführt hat, bleibt hier gleichgültig: uns nimmt seine Kunst in Anspruch, die Gründlichkeit, die berechnende Verschlagenheit, mit welcher er verfährt. Zuletzt wird der Genuß ein so reflektierter, daß er von dem des musikalischen Don Juan sich wesentlich unterscheidet. Dieser genießt die Befriedigung seines Verlangens; der reflektierende Don Juan freut sich seines gelungenen Betruges, seiner Kriegslist. Der unmittelbare Genuß ist dahin, und was er genießt, ist mehr die Reflexion über den Genuß. Wenn bei Molière die Begierde Don Juans dadurch erwacht, daß er eifersüchtig wird auf das Liebesglück eines andern, so ist dieses etwas, was in der Oper gar keine Stelle finden könnte. Ebenso ist Byrons Don Juan schon darum verfehlt, weil er sich episch ausbreitet, wodurch jene Idealität, die der intensiven Gewalt der Leidenschaft beiwohnt, verloren geht, und höchstens ein psychologisches Interesse an den einzelnen Zügen eines durchgeführten Kunststückes übrig bleibt. Wie tritt uns dagegen der musikalische Don Juan vor Augen! Wo er als Verführer auftritt, da ist's wie ein Handumdrehen, die Sache eines Augenblicks, rascher gethan als berichtet. Ich erinnere mich eines Gemäldes, das ich irgendwo gesehen habe: Ein schmucker junger Mensch spielt mit einer Schar von Mädchen, alle in dem gefährlichen Alter, weder erwachsen noch Kinder. Sie unterhalten sich u. a. damit, daß sie über einen Graben springen; er ist ihnen behilflich, indem er sie umfaßt, in die Höhe hebt und sie auf die andere Seite hinübersetzt. Ein artiges Bild! Ich freute mich ebensosehr über den jungen Burschen, als über – die Backfische. Da fiel Don Juan mir ein. Sie laufen ihm selbst in die Arme, die hübschen Mädchen; ebenso rasch ergreift er sie, und ebenso geschickt schwingt er sie hinüber auf die andre Seite der Gruft des Lebens.

Der musikalische Don Juan, als absolut siegreich, ist zugleich in so absolutem Besitze jedes Mittels, welches zu diesem Siege führen kann, daß es geradeso ist, als brauche er solche gar nicht anzuwenden. Erst wenn er zu einem reflektierenden Individuum wird, zeigt es sich, daß etwas da ist, was Mittel heißt. Diese, in ihrem Aufgebot gegen vorhandenen Widerstand, lassen Don Juan als abenteuernden, interessanten Kämpen erscheinen, von welchem mehrere Auffassungen[109] denkbar sind. Gesetzt daß der Dichter ihm das siegreiche Mittel versagte, so würde der Verführer zur komischen Figur werden. Eine vollendete Auffassung desselben als interessanten Romanhelden habe ich nicht kennen gelernt; dagegen trifft es die meisten Darstellungen Don Juans, daß sie sich dem Komischen nähern. Dies wird daraus erklärlich, daß sie sich an Molière anlehnen, in dessen Auffassung das Komische überall schlummert: und es ist unsers Heibergs Verdienst, daß er sich dessen deutlich bewußt geworden ist, sind daher sein Stück nicht allein ein Marionettenspiel nennt, sondern auf so manche Weise die vis comica des Stoffes hervorbrechen läßt. Geht einer Leidenschaft das zur Befriedigung nötige Mittel ab, so kann dadurch allerdings auch eine tragische Wendung herbeigeführt werden. Jedoch ist dies nicht wohl möglich, wo die Idee sich als eine völlig unberechtigte zeigt und eben daher das Komische näher liegt. Schilderte ich z.B. an einem Individuum die Spiellust und gäbe ihm zum Verspielen zehn Mark, so müßte die schließliche Wirkung eine komische sein. Völlig so verhält es sich zwar nicht mit dem Molièreschen Don Juan, aber doch ähnlich. Lasse ich Don Juan in Geldverlegenheit stecken, von seinen Kreditoren gedrängt, so büßt er alsbald die Idealität ein, die er in der Oper hat, und die Wirkung wird komisch. Die berühmte komische Szene bei Molière, welche als komische Szene großen Wert hat und zugleich in seine Komödie sehr gut hineinpaßt, hätte natürlich eben darum niemals ein Bestandteil der Oper werden können, deren Harmonien gründlich durch sie gestört, ja entweiht wären.

Und nicht bloß die eine angeführte Szene strebt in der Molièreschen Bearbeitung auf das Komische hin, sondern die ganze Anlage trägt dieses Gepräge. Davon zeugen mehr als genug Sganarels erste und letzte Äußerungen, Anfang wie Ende des ganzen Stückes. Sowie er mit einer Lobrebe auf eine Prise Tabak anhebt, so schließt er – nachdem der steinerne Gast seinen Herrn geholt hat! – mit der Klage, daß er der einzige sei, welchem nicht sein Recht geschehen: denn in der Eile des Abzugs habe seiner ihm seinen wohlverdienten Lohn ausgezahlt. Auch Heiberg, dessen Bearbeitung sonst vor der Molièreschen den großen Vorzug hat, daß[110] sie korrekter, mit sich selbst übereinstimmender ist, legt dem Sganarel öfter solche weise Lehren in den Mund, welche in ihm einen halbstudierten Bummler erkennen lassen, der nach mancherlei Experimenten im Leben zuletzt Don Juans Kammerdiener geworden ist. Der Held des Stückes ist nichts weniger als ein Held; er ist ein verunglücktes Subjekt, dessen Zeugnisse vermutlich nicht in Ordnung befunden worden und der so in eine andre Karriere geraten ist. Was er von seinem vornehmen Vater und dessen begeisterten Tugendpredigten erzählt, nimmt sich in seinem Munde wie eine von ihm selbstersonnenen Lüge aus. Und wenn Molières Don Juan wirklich ein Ritter ist, so weiß der Dichter selbst aufs beste dies in Vergessenheit zu bringen und einen gewöhnlichen Raufbold und Taugenichts in ihm zu zeigen. Auch an recht platten Späßen fehlt es nicht.

Drängt sich uns hier die beachtenswerte Bemerkung nicht auf, daß Don Juan nur musikalisch in der Idealität aufgefaßt worden ist, welche in der traditionellen Vorstellung des Mittelalters ihm anhaftete, wo er auch schon in Verbindung mit der Geisterwelt gesetzt wurde? Ich muß aber zugleich auf den Umstand aufmerksam machen, daß Molière in seiner Auffassung nicht korrekt verfahren ist, indem er nämlich einiges von dem Idealen in Don Juan, wie es der volkstümlichen Vorstellung zu verdanken war, beibehalten hat. Indem ich hierauf hindeute, wird es sich wiederum zeigen, daß dieses sich wesentlich nur durch Musik ausdrücken läßt; und so komme ich wieder auf meine eigentliche Thesis.

Wenn Sganarel (Molière, Akt 1) eine sehr lange Replik vorträgt, um von der grenzenlosen Leidenschaft seines Herrn und der Menge seiner Abenteuer ein Bild zu entwerfen (ganz entsprechend der zweiten Diener-Arie in der Oper), so bringt diese Replik keine andre Wirkung hervor, als eine komische. Zwar macht Molière, unter der unklaren Vermengung von Ernst und Scherz, einen Versuch, uns Don Juans Macht ahnen zu lassen; allein die Wirkung bleibt aus. Nur die Musik kann beides vereinen; und wie? Dadurch, daß sie, während Don Juans Treiben geschildert wird, zu gleicher Zeit, unter dem Aufrollen der Liste, die Macht der Verführung uns in Klängen und Akkorden hören läßt, wie sie eben nur aus Mozarts Brust ertönen konnten.[111]

Bei Molière erscheint im letzten Akte der steinerne Gast, um Don Juan zu holen. Zwar hat der Dichter eine Warnung vorhergehen lassen; dennoch bleibt dieser »Steinerne« immer ein dramatischer Stein des Anstoßes. Ist Don Juan ideal aufgefaßt, als sinnliche Kraft, als Leidenschaft, so muß der Himmel selbst sich in Bewegung setzen und dieses uns möglichst fühlbar werden. Ist das aber nicht der Fall, dann ist es immer bedenklich, so starke Mittel zu gebrauchen. Der Kommodore braucht sich alsdann wirklich nicht zu inkommodieren: liegt es doch weit näher, daß Don Juans Kreditor ihn in den Schuldturm stecken läßt. Dies wäre ganz im Geiste der modernen Komödie, welche nicht so großer Mächte bedarf, um den Übelthäter zu stürzen, weil eben die das Leben bewegenden Mächte nicht so grandiose sind. Es genügt, daß Don Juan die trivialen Schranken der Wirklichkeit kennen lerne. In der Oper ist es durchaus richtig, daß der Kommodore erscheint; aber sein Auftreten hat alsdann auch eine ideale Wahrheit. Die Musik macht schon bei dem ersten Nicken seines Kopfes, dem ersten Aufthun seines Mundes, aus dem Kommodore etwas andres und mehr als ein einzelnes Individuum: seine Stimme dehnt und vertieft sich zu der Stimme eines Geistes. Wie Don Juan also in der Oper mit ästhetischem Ernste aufgefaßt ist, ebenso der Kommodore. Bei Molière kommt er mit ethischer Gravität und mit Gepolter, wodurch er fast lächerlich wird; in der Oper kommt er geisterhaft leichten, schwebenden Schrittes, in übernatürlicher Wirklichkeit. Keine der im Stücke auftretenden Mächte, keine Macht dieser Welt hat Don Juan bezwingen können: nur ein Geist, nur eine Erscheinung aus der andern Welt vermag es. Versteht man dies richtig, so wird dadurch ein neues Licht auf Don Juan geworfen. Ein erscheinender Geist, ein revenant, ist eine Reproduktion. Dieses ist das Geheimnis, welches in dem »Wiederkommen« liegt. Don Juan kann alles, kann allein und jedem widerstehen, außer der Reproduktion des Lebens, darum, weil er nur unmittelbar-sinnliches Leben darstellt, dessen Negation der Geist ist.

Wie Don Juan überhaupt eine Macht ist, so offenbart sich diese auch in seinem Verhältnis zu Leporello. Dieser fühlt sich zu ihm hingezogen, von ihm überwältigt, geht gleichsam in ihm unter[112] und wird ein bloßes Organ für den Willen seines Herrn. Diese dunkle, rätselhafte Sympathie ist es, welche Leporello zu einer musikalischen Person macht; und man findet es ganz in der Ordnung, daß er sich von Don Juan, dessen Leben in mannigfacher Weise wörtlich sich in ihm reflektiert, nicht losreißen kann. Sei Molière sieht weder Leser noch Zuschauer einen vernünftigen Grund, warum Sganarel unauflöslich an ihn gekettet ist. Bei Molière ist Sganarel bald schlechter, bald besser, als Don Juan; aber unbegreiflich bleibt es hier, warum er ihn nicht verläßt, da er nicht einmal seinen Lohn empfängt, und es kommt einem diese Anhänglichkeit wie eine Art Schwachsinnigkeit vor. Auch an diesem Beispiel sieht man wiederum, wie das Musikalische mitreden muß, damit man Don Juan in seiner wahren Idealität auffassen könne. Der Fehler bei Molière liegt nicht darin, daß er ihn komisch auf gefaßt hat; sondern daß er hierbei nicht korrekt und konsequent verfahren ist. Und wie armselig, nur als ordinäre Theaterintriguen erscheinen hier Don Juans Verführungskünste bei Elvira, Mathurina, Charlotte, unter stets wiederholtem Eheversprechen! Man wird immer wieder darauf zurückgeführt, daß er sich als Verführer im großen Stil einmal nur darstellen läßt mit Hilfe der Musik.

Man hört öfter die Bemerkung, daß Molières Don Juan moralischer sei, als der Mozartsche. Richtig verstanden, ist dies nur eine Lobrede auf die Oper. In dieser werden nicht bloß viele Worte davon gemacht, daß Don Juan ein böser Verführer sei; sondern, wie sich nicht leugnen läßt, kann die Musik im einzelnen oft verführerisch genug wirken. So muß es aber sein; und auch hierin zeigt sich ihre Macht. Darum zu behaupten, daß die Oper unmoralisch sei, ist eine Thorheit, welche auch nur von Leuten herrühren kann, die ein Ganzes aufzufassen unfähig sind, die sich von Einzelheiten einnehmen lassen. Die wirkliche, tiefere Tendenz der Oper ist in hohem Grade moralisch, und der Eindruck ein absolut wohlthätiger, weil hier alles groß ist, alles von echtem, ungeschminktem Pathos, dem der Leidenschaft der Weltlust, sowie dem eines herzbewegenden und erschütternden Ernstes, der Leidenschaft des Sinnengenusses, wie des hereinbrechenden Zornes, getragen wird.[113]

Quelle:
[Søren Kierkegaard:] Entweder-Oder. Ein Lebensfragment. Leipzig 1885, S. 104-114.
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