3. Vater und Sohn vor Gericht

[22] Als Meister Kung oberster Richter in Lu war, kamen einmal ein Vater und sein Sohn, die sich gegenseitig verklagten. Der Meister sperrte sie miteinander ein und hielt sie drei Monate in Haft, ohne die Sache zu entscheiden. Da bat der Vater um Einstellung des Verfahrens. Der Meister ließ daraufhin beide frei.

Der Herr von Gi-sun war mißvergnügt, als er davon hörte, und sprach: »Der Oberrichter hält mich zum besten. Erst sagt er mir, das wichtigste in Staat und Familie sei die kindliche Ehrfurcht. Nun bot sich Gelegenheit, durch Hinrichtung eines einzigen unehrerbietigen Sohnes das Volk Ehrfurcht zu lehren. Statt dessen läßt er ihn laufen. Was soll das nur heißen!«

Jan Yu11 teilte das dem Meister Kung mit. Meister Kung seufzte tief und sprach: »Ach, wenn die Oberen vom rechten Weg gewichen sind und ihre Untergebenen töten, so ist das gegen die Ordnung. Wenn man sie nicht belehrt in der Ehrfurcht, sondern über sie zu Gericht sitzt, so heißt das Unschuldige töten. Wenn die drei Heere eine große Niederlage erlitten haben, so kann man die Soldaten doch nicht köpfen lassen. Wenn das Gesetz nicht in Ordnung ist, so kann man nicht mit Strafen einschreiten. Warum das? Wenn die Belehrung durch die Oberen nicht erfolgt, so liegt die Schuld nicht beim Volk. Wenn die Verordnungen lässig sind und die Strafen scharf, so ist das Räuberart. Wenn man zur Unzeit Steuern einzieht, so ist das erbarmungslos. Wenn man ohne Warnung Strafen vollzieht, so bedeutet das Härte. Ohne es (mit Belehrung) versucht zu haben, schon Vollendung (zu verlangen), ist Grausamkeit. Nur wenn eine Regierung diese drei Fehler vermieden hat, können die Strafgesetze angewendet werden. In den Urkunden heißt es:


Nach dem Rechten richte sich die Strafe, nach dem

Rechten die Tötung.[23]

Nicht wende an, was dein Herz bewegt.

Wenn du dir sagen mußt: ›Es gab kein Vorbild‹,

So spende Belehrung, ehe du bestrafst12.


So soll man zuerst das Gesetz (Tao) und die Tugend aufrichten und selbst danach tun. Wenn es dann noch nicht geht, so ehre man die Weisen, damit sie Belehrung spenden können. Wenn es dann noch nicht geht, entferne man die Untüchtigen. Wenn es dann noch nicht geht, so schüchtere man durch Schrecken ein. Wenn man auf diese Weise drei Jahre lang fortmacht, so wird das ganze Volk recht. Wenn es dann noch verbrecherisches Gesindel gibt, das sich nicht fügt, dann mag man die Strafe an sie legen, denn dann weiß das Volk, was Schuld ist. In den Liedern heißt es:


Daß er, dem Himmelssohn gesellt,

Des Volks Verwirrung niederhält13.


Das bedeutet, mit Strenge einschüchtern, aber sie nicht ausprobieren, die Strafen bereithalten, ohne sie anzuwenden.

Heutzutage ist das aber nicht so. Die Lehren sind in Verwirrung und die Strafen zahlreich, so daß das Volk in Verwirrung gerät, und dann legt man ihm noch Strafen auf. So sind die Strafen zahlreich, aber man wird der Räuber doch nicht Herr.

Über eine drei Fuß hohe Schranke kann auch ein leerer Wagen nicht hinüberfahren. Warum das? Wegen ihrer Steilheit. Einen hundert Klafter hohen Berg kann auch ein vollbeladener überwinden. Warum das? Weil die Abhänge allmählich ansteigen. Wenn heutzutage die Sitten noch länger allmählich ansteigen, so wird, obwohl es Strafgesetze gibt, das Volk doch ohne Übertretung bleiben.«

11

Jan Kiu, genannt Dsï Yu oder Jan Yu, war im Dienst der Familie Gi in Lu längere Zeit Beamter.

12

Schu Ging, Kap. Kang Gau, Couvreur S. 238. Der Text ist jedoch abweichend.

13

vgl. Schï Ging 197, Strauß S. 306. Bei Sündsï ist das Zitat vollständiger.

Quelle:
KKungfutse: Gia Yü, Schulgespräche. Düsseldorf/Köln 1961, S. 22-24.
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