3. Kapitel
Rauschende Musik / Tschï Yüo

[58] Die Menschen leben alle kraft der ihnen innewohnenden Fähigkeit zu leben, ohne zu wissen, worauf das Leben beruht. Die Menschen erkennen alle kraft der ihnen innewohnenden Erkenntnisfähigkeit, ohne zu erkennen, worauf das Erkennen beruht. Wer erkennt, worauf das Erkennen beruht, von dem kann man sagen, daß er den »Sinn« der Welt erkannt hat. Wer nicht erkennt, worauf sein Erkennen beruht, von dem kann man sagen, daß er sein Kostbarstes wegwirft. Wer sein Kostbarstes wegwirft, der klebt an seinen Fehlern.

Die Herrscher dieser Welt halten meistens Perlen und Edelsteine, Lanzen und Schwerter für ihr Kostbarstes, aber je mehr sie davon haben, desto mehr murrt das Volk, desto mehr kommt das Land in Gefahr, und desto mehr werden sie selbst in den Untergang verwickelt. Diese Zustände führen in Wirklichkeit zum Verlust jener Kostbarkeiten. Die Musik eines verkehrten Geschlechts[58] hat dieselben Wirkungen. Wenn Pauken und Trommeln erdröhnen wie der Donner, wenn Becken und Klingsteine erklingen wie der Blitz, wenn Flöten und Geigen, Tanzen und Singen lärmend erdröhnen, so ist das wohl geeignet, die Nerven zu erschüttern, die Sinne zu erregen und das Leben überschäumen zu lassen.

Aber eine Musik, die mit diesen Mitteln wirkt, macht nicht heiter. Darum: Je rauschender die Musik, desto melancholischer werden die Menschen, desto gefährlicher wird das Land, desto mehr sinkt der Fürst. Auf diese Weise geht auch das Wesen der Musik verloren.

Was alle Heiligen Könige an der Musik geschätzt haben, war ihre Heiterkeit. Die Tyrannen Giä von Hia und Dschou Sin von Yin machten rauschende Musik. Sie hielten die starken Klänge von großen Pauken und Glocken, Klingsteinen, Klarinetten und Flöten für schön und hielten Massenwirkungen für sehenswert. Sie strebten nach neuen und seltsamen Klangwirkungen, nach Tönen, die noch kein Ohr gehört, nach Schauspielen, die noch kein Auge gesehen. Sie suchten einander zu überbieten und überschritten Maß und Ziel.

Der Grund für den Verfall des Staates Sung war, daß sie tausend Glocken erfanden; der Grund für den Verfall des Staates Tsi war, daß sie die große Glocke erfanden. Der Grund des Verfalls des Staates Tschu war, daß sie die Zaubermusik24 erfanden. Rauschend genug ist ja eine solche Musik, aber vom Standpunkt der Wahrheit aus betrachtet, hat sie sich vom Wesen der eigentlichen Musik entfernt. Weil sie sich vom Wesen der eigentlichen Musik entfernt hat, darum ist diese Musik nicht heiter. Ist die Musik nicht heiter, so murrt das Volk, und das Leben wird geschädigt. Dem Leben ergeht es unter der Einwirkung dieser Musik wie dem Eis in der glühenden Sonne, es löst sich selber auf. Das alles entsteht daraus, daß man das Wesen der Musik nicht versteht sondern nur auf rauschende Klangwirkungen aus ist.

Mit dem Wesen der Musik verhält es sich wie mit der Natur der körperlichen Organe. Da sie eine bestimmte Natur haben, so kommt es auf ihre naturgemäße Pflege an. Kälte und Hitze, Überanstrengung[59] und Bequemlichkeit, Hunger und Übersättigung, diese sechs Dinge sind nicht der Natur entsprechend. Wer das Leben pflegen will, der schaut darauf, daß Nichtentsprechendes durch Entsprechendes ersetzt wird. Wer dauernd in Umständen, die der Natur entsprechen, zu verweilen vermag, der lebt lange.

Wahres Leben besteht darin, daß der Körper fest und ruhig ist, daß er Empfindungen nur hat, wenn Sinneseindrücke vorausgegangen sind, daß, wenn er Einwirkungen von außen erleidet, er ihnen entspricht, ohne daß Nachwirkungen zurückbleiben, daß Lüste und Begierden gemäßigt werden. Zügellose Lüste und Begierden führen zum Verlust der ursprünglichen Natur. Wer zügellos ist in seinen Lüsten und Begier den, der wird in seiner Stimmung gierig, gemein, widerspenstig und ungeordnet und in seinen Handlungen ausschweifend, verschwenderisch, betrügerisch und falsch. Dann kommt es dazu, daß die Starken die Schwachen bedrücken, daß die Mehrheit die Minderheit vergewaltigt, daß die Mutigen die Schüchternen mißhandeln und das Alter die Jugend verachtet.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 58-60.
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