5. Kapitel
Verständnis der Weltordnung / Ming Li

[76] Die fünf Herrscher haben das höchste Verständnis der Musik erreicht. Ein Herrscher eines ungeordneten Staates aber, der keine Ahnung hat von Musik, ist ein gemeiner Herrscher. Während der Himmel ihm die Herrschaft verliehen hat, hat er das Wesen der Herrschaft noch gar nicht begriffen. Ein solcher ist sehr zu bemitleiden. Er gleicht einem Manne, der in einem falsch orientierten Zimmer richtig sitzen wollte. Was er für richtig hält, ist (infolge der Lage des Zimmers) gerade verkehrt.

Alles Leben wird nicht durch eine einzelne Kraft geschaffen; alles Wachstum wird nicht durch eine einzige Funktion bewirkt; alle Vollendung ist nicht das Werk eines einzelnen Körpers. Darum,[76] wer alles Verkehrte anhäuft, den wird sicher das Unglück treffen. Dann kommen Wind und Regen nicht zur rechten Zeit; dann fällt der süße Regen nicht, dann kommen Schnee und Reif nicht, wenn es Zeit ist; Hitze und Kälte kommen nicht, wenn sie sollen; das Dunkle und das Lichte verliert seine Ordnung; die vier Jahreszeiten ändern ihre festen Termine, die Menschen werden ausschweifend, vergeuden ihre Kraft und halten nicht fest; Vögel und Tiere haben Fehlgeburten und gedeihen nicht; Bäume und Kräuter bleiben klein und wachsen nicht, das Korn verdorrt und wird nicht reif. Wenn das die Wirkungen sind, was ist dann von dem Musikverständnis eines solchen Fürsten zu denken?

In einer vollkommen ungeordneten Kultur sind Fürst und Diener gegenseitige Feinde, Alter und Jugend töten einander, Vater und Sohn sind kaltherzig gegeneinander, Brüder verklagen einander, die intimsten Freunde arbeiten einander entgegen, Mann und Frau betrügen einander. So mehrt sich Tag für Tag die Gefahr, und die Bande der Gesellschaft lösen sich auf. Die Gesinnung wird tierisch, das Laster und die Gewinnsucht wächst, Pflicht und Vernunft werden vergessen.

Da treten Wolken auf in der Gestalt von Hunden, von Pferden, von weißen Schwänen und Wagenkolonnen. Oder sie haben die Gestalt eines Menschen mit blauem Gewand und rotem Kopf, der sich nicht bewegt. Sein Name heißt: der himmlische Widersacher. Oder sie haben die Gestalt einer aufgehängten Fahne und sind rot: das nennt man die Wolkenfahne. Oder sie haben die Gestalt einer Schar von Pferden, die sich bekämpfen: das nennt man die scheuen Pferde. Oder sie haben die Gestalt von vielen Blumen, die emporwachsen, oben gelb und unten weiß: das nennt man die Fahne des Tschï Yu. An der Sonne treten Zeichen auf, daß zwei Sonnen sich bekämpfen und sich auffressen44; daß Nebensonnen auf der Seite oder oben erscheinen, daß es Sonnenhöfe gibt, oder Ohrringe45. Oder die Sonne verliert ihren Schein, oder sie wirft keinen Schatten, oder viele Sonnen stehen gleichzeitig am Himmel, oder der Tag verkehrt sich in Finsternis, oder bei Nacht ist es hell. Am Mond treten Zeichen auf, daß er bedrängt und aufgefressen[77] wird46; daß er einen Hof und Ohrringe hat; daß er schief und blind ist; daß vier Monde gleichzeitig aufgehen, daß zwei Monde gleichzeitig erscheinen, daß ein großer Mond einen kleinen über sich hat, daß es Mondfinsternisse gibt, daß er aufgeht und keinen Schein hat.

An den Sternen treten Zeichen auf: daß ein Feuerstern kommt47, oder ein Komet, oder eine Himmelsplanke, oder ein Himmelsbaum, oder ein Himmelsbambus, oder Himmelsblüten, oder ein Himmelsschild. Es gibt Diebssterne, kämpfende Sterne, Gaststerne48.

In der Luft zeigen sich folgende Erscheinungen: es gibt Luftströmungen, die oben nicht zum Himmel, unten nicht zur Erde gehören, solche die oben breit, unten spitz zulaufend sind49, solche, die wie Wasserwogen sind, solche, die wie rauschende Bergwälder sind. Im Frühling steigen gelbe Dünste auf, im Sommer schwarze, im Herbst blaue, im Winter rote.

An unheilbedeutenden Ereignissen kommen vor: daß bandartige Dinge geboren werden, daß Teufel den Menschen in den Rücken fahren, daß Hasen Fasanen gebären, daß Fasanen Kammwachteln erzeugen. Heuschrecken sammeln sich in der Hauptstadt, deren Geräusch ist wie das Murmeln einer Menge. Es kriechen Schlangen durch die Stadt von Westen nach Osten, Pferde und Rinder beginnen zu sprechen; Hunde und Schweine vereinigen sich. Wölfe kommen in die Stadt. Es fallen Menschen vom Himmel. Auf dem Markt tummeln sich Eulen, Schweine rennen durch die Straßen. Pferde bekommen Hörner; es gibt Hähne mit fünf Füßen, es gibt Schweine, die ohne Hornklauen zur Welt kommen. Die Hühner legen vielfach hohle Eier. Die Erdaltäre bewegen sich von der Stelle. Schweine gebären Hunde.

Wenn im Lande solche Dinge erscheinen und sein Herr fürchtet sich nicht und beugt sich nicht, indem er sich bessert, so wird Gott Unheil, Übel und Plagen senden, die nicht ausbleiben werden. Alle Arten von Tod, Vernichtung, Sterben, Untergang und Trauer werden eintreffen. Heimatlosigkeit, Zerstreuung, große Hungersnöte werden sich häufen. Das alles entsteht durch die Unordnung im Staate. Es läßt sich alles gar nicht aufzählen. Und wollte man alle Bambus von Tschu und Yüo zu Büchern machen, es ließe sich[78] doch nicht alles hineinschreiben. Darum sagt der Meister Dsï Hua: »Unter den Menschen verkehrter Zeitalter gibt es Riesen und Zwerge und schlimme Mißgeburten aller Art. Unter den Leuten gibt es viele Ruhrkrankheit, auf den Straßen sieht man allenthalben Mütter mit ihren Kindern auf dem Rücken wandern. Es gibt Blinde, Kahlköpfige, Bucklige und Krüppel, alle Arten von Sonderbarkeiten entstehen.«

Darum: wie könnte sich ein Herrscher eines verkehrten Geschlechts auf die höchste Musik verstehen! Weil er aber nichts weiß von der höchsten Musik, darum ist seine Musik nicht heiter.

Fußnoten

1 Das Zeichen Liu (Weide) umfaßt acht Sterne der Hydra. Das Zeichen Sin (Herz) enthält drei Sterne des Skorpions, Kui (Haupt) enthält Sterne der Bilder Andromeda und Fische. Bing und Ding sind das dritte und vierte Zeichen des Zehnerzyklus, sie sind dem Feuer zugeordnet. Yän Di, der flammende Herrscher, wird mit Schen Nung, dem göttlichen Landmann, identifiziert. Dschu Yung (der Schmelzer) ist der Nachkomme des Dschuan Hü, der Feuerbeamte unter Gau Sin; nach seinem Tode wurde ihm als Feuergott geopfert. Noch heute wird ihm auf dem Hong Schan in Hunan geopfert. Die Note Dschï ist die vierte Note der Tonleiter. Lin Dschung (Waldglocke) ist eine weibliche Tonart. Die Kraft des Lichten hat angefangen abzunehmen und die Kraft des Dunkeln steigt auf. Alle Geschöpfe sammeln sich jetzt und vollenden sich.


2 46 Tage nach dem Sommersolstiz ist Li Tsiu (Herbstanfang), da beginnt der erste Nordwind zu wehen. Das Heimchen entspricht der Kraft des Dunkeln, darum kommt es in die Häuser und singt, um zum Spinnen zu mahnen.


3 Lichthalle (Ming Tang) ist der südliche Flügel, der rechte Raum ist im Westen.


4 Die Alligatoren (Giau) sind schädlich, darum müssen sie getötet werden. Die Gaviale, salamanderartige Tiere (To), wurden wegen ihrer Haut, aus der Paukenfelle gemacht wurden, gefangen. Die Karettschildkröte (Gui) wird für Orakelzwecke benützt, darum wurde sie »dargebracht«. Die Meerschildkröten (Yüan) werden zu Suppen verwendet.


5 Der Förster hat die Aufsicht über Wälder und Teiche. Im Yüo Ling heißt er der Inspektor der Teiche. Diese Schilfarten wurden bei den Opfern zum Abschluß, wenn die Geister verabschiedet wurden, verbrannt.


6 Die hundert Kreise bedeutet die Gesamtheit der Kreise des kaiserlichen Gebietes. Ein Kreis (Hiän) war in jener Zeit ein chinesischer Li im Quadrat.


7 Die Frauen sind besonders geschickt in der Unterscheidung der Farben, darum werden ihre Aufseher angewiesen, Farbmaterialien bereitzustellen. Das Ornament Fu (Giles Wörterbuch Nr. 3630) ist in weißer und schwarzer Farbe gestickt und hat die Form eines Beils. Das Ornament Fu (Giles 3702) ist in schwarzer und blauer Farbe gestickt und hat die Form eines Kreuzes. Das Ornament Wen ist blau und rot gestickt. Vielleicht ist es flammenförmig gewesen. Das Ornament Tschang ist rot und weiß gestickt. Möglicherweise hatte es die Form von Reiskörnern. Alle diese Ornamente befanden sich auf den Gewändern des Herrschers.


8 Auf dem Südanger der Stadt wird das Opfer für den Himmel dargebracht.


9 Die Erdarbeiten sind Aufführungen von Terrassen oder Graben von Seen. Die Versammlungen von Fürsten geschehen zwecks Abschließung von Bündnissen und Konferenzen, ebenso sind kriegerische Unternehmungen in diesem Monat nicht zeitgemäß wegen der großen Hitze, wodurch Krankheiten im Gefolge großer Menschenansammlungen zu befürchten sind. Im Yüo Ling (Li Gi) heißt es: damit die nährende Kraft nicht erschüttert werde.


10 Schen Nung wird hier nur genannt als Repräsentant der Ackerbaugeschäfte. Es scheint daß hier Schen Nung direkt als Amtsbezeichnung steht.


11 Große Unternehmungen kriegerischer Art würden die Ernte beeinträchtigen.


12 30 Tage nach dem Sommersolstiz ist die große Hitze, während der das Feuer regiert.


13 Während die vier anderen Elemente je eine Jahreszeit beherrschen, steht die mittlere Zeit des Jahres unter dem Einfluß der Erde. In späterer Zeit hat man diese Tage der Erde jeweils an den Schluß der einzelnen Jahreszeiten verlegt. Huang Di, der Sohn des Schau Diän, beherrschte durch die Kraft der Erde die Welt. Nach seinem Tode wurde er als der göttliche Herrscher der Mitte verehrt. Hou Tu ist der Sohn des Gung Gung, namens Gou Lung. Er konnte die neun Erdarten ins Gleichgewicht bringen. Darum wurde er nach seinem Tode als Schutzgeist der erhabenen Erde verehrt. Er wird hier durchaus als männliche Gottheit aufgefaßt.


14 Das Haupt der unbehaarten Tiere ist das Kilin (nach anderen der Mensch).


15 Die Note Gung ist der Grundton, ebenso wie Huang Dschung (die gelbe Glocke), eine männliche Tonart, die Grundlage sämtlicher anderen Tonarten bildet.


16 Das Impluvium war ähnlich wie im römischen Haus die Mitte des Daches, die unbedeckt war. Das dort dargebrachte Opfer galt dem Hou Tu.


17 Die große Halle (Tai Schï) ist das zentrale Gemach des großen Tempels.


18 Huang Dschung (f) ist die Tonart des elften Monats. Lin Dschung (c) ist die Tonart des sechsten Monats. Tai Tsu (g) ist die Tonart des ersten Monats. Nan Lü (d) ist die Tonart des achten Monats. Gu Siän (a) ist die Tonart des dritten Monats. Ying Dschung (e) ist die Tonart des zehnten Monats. Sui Bin (h) ist die Tonart des fünften Monats. Da Lü (fis) ist die Tonart des zwölften Monats. I Dso (cis) ist die Tonart des siebenten Monats. Gia Dschung (gis) ist die Tonart des zweiten Monats. Wu I (dis) ist die Tonart des neunten Monats. Dschung Lü (ais) ist die Tonart des vierten Monats. Wenn die Länge von Huang Dschung gleich 3/3 oder 1 gesetzt wird, so ist die Länge von Lin Dschung 3/3–1/3 = 2/3 und dementsprechend eine Quinte höher als Huang Dschung. Nun ist Tai Tsu gleich Lin Dschung + 1/3 oder auf Neuntel gebracht 6/9 + 2/9 = 8/9 und dementsprechend eine Quarte tiefer usw. Die sogenannten oberen Tonarten, die jeweils eine Quarte tiefer sind als die vorangehenden, sind f, fis, g, gis, a, ais, h. Die übrigen Tonarten, die sogenannten unteren, sind eine Quinte höher als die ihnen vorangehenden. Die Tonart Sui Bin (h) wird korrekterweise auch noch zu den oberen gerechnet, weil auf diese Weise der Tonumfang innerhalb einer Oktave bleibt.


19 Elfter Monat, Mittwinter.


20 Zwölfter Monat.


21 Erster Monat. 46 Tage nach dem Wintersolstiz ist der Frühlingsanfang (Li Tschun), der in diesen Monat fällt.


22 Zweiter Monat.


23 Gemeint sind Kriege usw.


24 Dritter Monat. Da der Frühjahrsregen um den Weg ist, muß man die Winterstraßen in Ordnung bringen.


25 Vierter Monat.


26 Dadurch, daß man Fronarbeiten anordnet, die dem Landbau hinderlich wären.


27 Fünfter Monat.


28 Sechster Monat.


29 Siebenter Monat.


30 Achter Monat.


31 Neunter Monat.


32 Zehnter Monat.


33 Zu Türhütern wurden im Altertum Leute ohne Füße benutzt. Das Unheil war also eingetroffen.


34 Zwei Abschnitte des Schï Ging (Buch der Lieder).


35 Nach dem Kommentar zu Dso Dschuan leimten die Leute am Han-Fluß ein Schiff zusammen. Das Schiff löste sich im Wasser auf und der König er trank. Diese Überlieferung stimmt mit der vorliegenden nicht überein. Rechts im Kriegswagen stand der Lanzenkämpfer, links der Bogenschütze. Herzog Tsai war mit im Wagen.


36 Der Herr ist der Gott des Himmels. Er sandte eine Schwalbe, die ein Ei legte, das die Tochter des Herrn von Yu Jung schluckte, worauf sie den Siä, den Ahnherrn der Schang-Dynastie gebar, wie es im Buch der Lieder heißt: Der Himmel sandte die schwarze Schwalbe herab und erzeugte so Schang.


37 Vor denen Konfuzius gewarnt hat.


38 Vgl. erster Frühlingsmonat.


39 Nach anderen Quellen fand dieses Zeichen unter Tai Mou, dem fünften Nachkommen des Tang statt.


40 Vgl. Laotse 58.


41 Der Feuerstein ist Mars; er galt als die Essenz des Feuers. Das Sternbild des Herzens ist der Skorpion, der am Himmel das Gebiet von Sung repräsentierte. Es handelt sich jedoch hier offenbar um einen Kometen. Dsï We war der Großastrolog von Sung. Vgl. Sin Sü 4, Huai Nan 12.


42 Die 28 Mondbilder oder Sternhäuser der Ekliptik werden in vier Himmelshäuser oder Quadranten eingeteilt, je zu sieben Sternbildern.


43 Sonnenfinsternis. Tschï Yu ist der Feuerherr, mit dem Huang Di kämpfte. Die Fahne des Tschï Yu ist wohl ein Komet.


44 Die chinesischen Zeichen bedeuten: Be, wenn zu beiden Seiten der Sonne falsche Sonnen hervorkommen, wenn oberhalb der Sonne, so heißt es Güo. Wenn oberhalb der Sonne ein nach innen gekehrtes Bogenstück auftaucht, so heißt es Guan (Krone), im Text nicht erwähnt. Wenn zu beiden Seiten nach innen gekehrte Bogenstücke auftauchen, so heißt es Örl (Ohrring). Ein Sonnenhof heißt Yün.


45 Mondfinsternis.


46 Nach dem Kommentar zu Dso Dschuan leimten die Leute am Han-Fluß ein Schiff zusammen. Das Schiff löste sich im Wasser auf und der König ertrank. Diese Überlieferung stimmt mit der vorliegenden nicht überein. Rechts im Kriegswagen stand der Lanzenkämpfer, links der Bogenschütze. Herzog Tsai war mit im Wagen.


47 Alles verschiedene Arten von Kometen.


48 (im Text irrtümlich 34) Verschiedene Arten von Meteoren, Sternschnuppen, Sternschwanken.


49 Windhosen.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 76-79.
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