3. Kapitel
Treue und Unbestechlichkeit / Dschung Liän

[134] Ein Staatsmann, der durch keine Verurteilung beschämt werden kann, ist wirklich groß zu nennen. Diese Größe ist erhaben über Reichtum und Stand. Aussicht auf Gewinn vermag ihn nicht von seiner Überzeugung abzubringen. Die Würde eines Landesfürsten und die Macht eines Kaisers vermag nicht sein Herz zu bewegen. Hat er wirklich seine Ehre verloren, so wünscht er nicht länger zu leben. Ein solcher Mann wird, wenn er zur Macht kommt, diese nie zu selbstischen Zwecken mißbrauchen. Wenn er ein Amt hat, wird er sich nie zu unreinlichen Umtrieben herablassen. Wenn er Einfluß auf die Massen besitzt, so wird er ihn nie zu einer Empörung benützen. Auf diese Weise zeigt sich ein treuer Diener seines Herrn. Er ist wirklich von Nutzen für seinen Herrn und von Vorteil für sein Vaterland. Er wird niemals über ihn aburteilen, ja bis zum Tode treu, wird er sein Leben für ihn lassen. Wenn es in einem Staat solche Staatsmänner gibt, so mag man wirklich sagen, daß er Männer besitzt. Solche Männer sind freilich schwer zu erlangen. Aber die Hauptschwierigkeit besteht darin, daß man sie erkennt.

Der König von Wu wollte den Prinzen King Gi töten lassen, aber niemand vermochte ihn zu töten. Der König von Wu war darüber in Sorge. Da sprach Yau Li: »Ich vermag es5.« Der König von Wu sprach: »Wie solltest Du es fertig bringen? Ich habe ihn schon mit sechs Pferden am Ufer des Giang verfolgen lassen, ohne daß man ihn einholen konnte. Ich habe mit Pfeilen nach ihm schießen lassen, daß es rechts und links nur so hagelte, ohne ihn treffen zu können. Du bist so klein, daß wenn Du ein Schwert aus der Scheide ziehen willst, Dein Arm nicht lang genug ist. Stehst Du auf dem Kriegswagen, so reichst Du nicht über die Brustwehr hinaus. Wie solltest Du es fertig bringen?« Yau Li sprach: »Bei einem Staatsmann braucht man nur besorgt zu sein, ob er auch mutig ist; um sein Können braucht man sich nicht zu kümmern. Wenn Ihr mir wirklich helfen könnt, so werde ich es sicher können.« Der König von Wu sagte zu. Am andern Morgen verhängte er über Yau Li[135] schwere Strafen, ließ seine Familie festnehmen und verbrennen und ihre Asche in den Wind streuen6.

Yau Li ging und traf den Prinzen King Gi in We7. Der Prinz Gi war erfreut und sprach: »Daß der König von Wu auf schlechten Wegen wandelt, habt Ihr selbst gesehen, und alle Fürsten wissen es. Nun seid Ihr glücklich aus seiner Hand entkommen, das trifft sich gut.« So blieb Yau Li beim Prinzen King Gi. Nach einiger Zeit sprach er zum Prinzen King Gi: »Die Verworfenheit des Königs von Wu wird immer schlimmer. Darf ich mit Euch hin, um sein Reich zu rauben?« Prinz King Gi sprach: »Gut«, und fuhr mit Yau Li über den Giang. Mitten auf dem Fluß zog dieser sein Schwert, um den Prinzen zu töten. Prinz King Gi stieß ihn zurück und warf ihn ins Wasser. Als er wieder auftauchte, packte er ihn und hielt ihn unter das Wasser. So machte er es dreimal. Schließlich sprach er zu ihm: »Du bist ein tapferer Staatsmann auf Erden. Ich will Dir Dein Leben lassen, um Deinen Ruhm zu vollenden.« So kam Yau Li mit dem Leben davon und kehrte nach Wu zurück. Der König von Wu war hocherfreut und wollte ihm die Hälfte seines Königreiches geben. Aber Yau Li sprach: »Es geht nicht an; ich werde unter allen Umständen sterben.« Der König wollte ihn hindern. Da sagte Yau Li: »Daß ich durch Euch meine Familie töten ließ und ihre Asche in den Wind streuen zur Erleichterung der Ausführung des Planes, war lieblos. Daß ich um des neuen Herrn willen den Sohn meines angestammten Fürsten töten wollte, war pflichtvergessen. Daß der Prinz King Gi mich ins Wasser stieß und dreimal untertauchte und dreimal wieder herauskommen ließ und mir schließlich das Leben schenkte, empfinde ich als eine Schmach. Lieblos gegen meine Familie, pflichtvergessen und ehrlos, so vermag ich nicht zu leben.« Ehe der König von Wu es hindern konnte, stürzte er sich in sein Schwert und starb.

Von Yau Li mag man sagen, daß er sich durch eine reiche Belohnung nicht verlocken ließ. Angesichts eines großen Vorteils nicht von dem abweichen, was man für recht erkannt, ist unbestechlich. Wahre Unbestechlichkeit wird niemals über Reichtum und Ehre die eigene Schande vergessen.[136]

Der Herzog I von We8 hatte einen Diener namens Hung Yin. Als dieser einst auf einer Gesandtschaft auswärts war, griffen wilde Stämme den Herzog von We an. Da sprachen die Untertanen: »Unser Fürst hat Rang und Einkommen an seine Kraniche verliehen und hat seine Eunuchen reich und geehrt gemacht. Der Fürst mag nun seine Eunuchen und Kraniche für sich kämpfen lassen, wir kämpfen nicht für ihn.« Damit zogen sie sich zurück und ließen ihn im Stich. Als die Wilden kamen, holten sie den Herzog I am Sumpfe Yung ein. Sie töteten ihn, fraßen ihn auf und ließen nur seine Leber übrig. Als Hung Yin von seiner Gesandtschaft zurückkam, erstattete er der Leber seinen Bericht. Als er damit zu Ende war, klagte er zum Himmel empor und weinte. Als er die Trauerklage beendigt hatte, sprach er: »Darf ich Euch als Hülle dienen?« Darauf tötete er sich selbst, nachdem er zuerst seine Eingeweide herausgenommen und mit seinem Leibe die Leber des Herzogs I umschlossen hatte. Als der Herzog Huan von Tsi von dieser Sache hörte, sprach er: »Der Staat We ist zugrunde gegangen wegen der Verworfenheit seines Fürsten. Da es aber noch solche Beamte in ihm gab, darf man ihn nicht erlöschen lassen.« Darauf setzte er die Dynastie von We wieder ein in dem Gebiet von Tschu Kiu. Hung Yin kann man treu nennen. Bis zum Tode getreu hat er sein Leben geopfert, um seinem Fürsten zu folgen, und nicht nur hat er sich für seinen Fürsten geopfert, sondern er hat es auch bewirkt, daß der Ahnentempel von We wieder errichtet wurde und die Ahnenopfer nicht aufhörten. Dadurch hat er sich ein großes Verdienst erworben.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 134-137.
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