4. Kapitel
Einheitlichkeit des Wandelns / I Hing

[394] Was die alten Könige am meisten haßten, war die Unzuverlässigkeit. Durch Unzuverlässigkeit kommen die Beziehungen zwischen Fürst und Minister, Vater und Sohn, Alter und Jugend,[394] Freund und Freund, Mann und Frau in Verfall. Wenn diese zehn Beziehungen alle in Verfall geraten, so ist das die größte Unordnung, die man sich denken kann. Alle sozialen Beziehungen kommen in Ordnung durch Aufrechterhaltung jener zehn Klassen. Wenn diese zehn Klassen verlorengehen, so unterscheidet sich der Mensch nicht mehr von Hirschen, Tigern und Wölfen. Der Stärkste hat dann die Macht. Wenn jemand unzuverlässig ist, so gibt es keine Ruhe für den Fürsten, keine Freude für die Eltern, keine Ehre für die älteren Brüder, keine Liebe für die Freunde, keine Achtung für den Gatten.

Wes Land stark und groß ist, der hat deshalb noch lange nicht die Weltherrschaft. Aber wer die Welt beherrscht hat, dessen Land ist sicher stark und groß. Wodurch bringt ein Weltherrscher seine Wirkung zustande? Durch seine Würde und den Vorteil, den er zu gewähren vermag. Wenn er nicht stark und groß ist, so ist seine Würde keine wirkliche Würde, und der von ihm gewährte Vorteil kein wirklicher Vorteil. Wenn seine Würde nicht wirkliche Würde ist, so vermag sie niemand einzuschüchtern. Wenn der von ihm gewährte Vorteil kein wirklicher Vorteil ist, so vermag er niemanden anzufeuern. Darum sorgt ein tüchtiger Herrscher dafür, daß seine Würde und sein Vorteil nicht ihresgleichen haben. Dann wird das, was er verbietet, aufhören, und das, wozu er anfeuert, wird sicher geschehen. Wessen Würde und Vorteil ihresgleichen haben, der mag sein Volk anstrengen, wenn er nur zuverlässig ist, so wird er Weltherrscher. Wenn aber die Würde und der Vorteil eines Herrschers nicht ihresgleichen haben und er ist unzuverlässig, so geht er zugrunde. Wenn Kleine und Schwache in ihrem Wandel unzuverlässig sind, so mißtrauen die Großen und Starken ihnen. Es liegt aber in der Natur des Menschen, daß er den nicht lieben kann, dem er mißtraut. Wenn einer klein und schwach ist und ist unbeliebt bei den Großen, so vermag er nicht zu bestehen.

Darum ist der Weg der Unzuverlässigkeit einer, auf dem die Weltherrscher, wenn sie ihn gehen, ihr Reich verlieren, die Starken und Großen, wenn sie ihn gehen, in Gefahr geraten, die Schwachen und Kleinen, wenn sie ihn gehen, vernichtet werden.

Wenn ein Wanderer einen großen Baum sieht, so zieht er sich[395] aus, hängt seinen Hut daran, lehnt sein Schwert daran und schläft darunter. Ein großer Baum ist nicht von Natur ein guter Bekannter und intimer Freund des Menschen, und doch legt er sich so ruhig in seinen Schatten nieder, weil er ihm vertraut.

Wenn auf einem Berg ein großer Baum steht, so benützen ihn die Menschen als Stelldichein, weil er leicht zu kennen ist. Wieviel mehr ist das mit einem Staatsmann so! Denn einen Staatsmann, der pflichtgetreu wandelt, kann man kennen. Was man mit ihm verabredet hat, das ist sicher und gewiß. Wieviel mehr erst ein starker und großer Staat. Wenn man die Handlungsweise eines großen und starken Staates wirklich kennen kann, so ist es für ihn nicht schwer, die Weltherrschaft zu erlangen.

Warum die Menschen ein Schiff benützen, das ist, weil es schwimmt und nicht untergeht. Warum die Welt die Edlen schätzt, das ist, weil sie recht handeln können und keines Unrechts fähig sind.

Meister Kung fragte das Orakel und zog das Zeichen: »Anmut5«. Das hielt er für unheilbringend. Dsï Gung sprach: »Anmut ist doch ein günstiges Zeichen, warum sollte es unheilbringend sein?« Meister Kung sprach: »Weiß ist weiß und schwarz ist schwarz, aber was sollte denn an der Anmut günstig sein?« Darum, was der Edle an den Dingen am meisten haßt, das ist, wenn sie nichts Bestimmtes haben. Was die Welt am meisten haßt, das ist, wenn einer unzuverlässig in seinem Handeln ist. Wenn einer unzuverlässig ist, so machen selbst Räuber nichts mit ihm aus und Diebe planen nichts mit ihm zusammen. Räuber und Diebe sind große Verbrecher und finden doch Genossen ihrer Taten; wieviel mehr Leute, die etwas Großes vollbringen wollen. Wer etwas Großes vollbringen will, der muß so sein, daß die Welt leicht bereit ist, ihm zu helfen, dazu braucht er nötig Männer, die zuverlässig sind.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 394-396.
Lizenz: