6. Kapitel
Prüfung der Überlieferung / Tscha Tschuan

[399] Wenn man Worte hört, darf man sie nicht ungeprüft lassen. Wenn sie mehrfach überliefert werden, so wird aus weiß schwarz und aus schwarz weiß. Der Hund gleicht dem Pavian, der Pavian gleicht einem weiblichen Affen, der weibliche Affe gleicht dem Menschen, und doch steht der Mensch dem Hund fern. Das ist der Grund, warum Toren sich sehr irren. Wenn man etwas,[399] das man hört, beurteilt, so ist es ein Glück. Wenn man etwas hört ohne Urteil, so wäre es besser gar nichts gehört zu haben.

Herzog Huan von Tsi hörte durch Bau Schu über Guan Dschung. König Dschuang von Tschu hörte über den Sun Schu Au bei Schen Yin Schï: (Daß sie sie anstellten) darin zeigten sie ihre Urteilsfähigkeit. Darum wurden jene Staaten zu Führerstaaten im Reich.

Der König Fu Tschai von Wu hörte durch den Tai Dsai Pi über den König Gou Dsiän von Yüo8. Dschï Bo hörte von Dschang Wu über den Freiherrn Dschau Siang Dsï. Das war urteilslos, darum gingen ihre Staaten zugrunde und sie selber kamen ums Leben.

Wenn man Worte hört, muß man sorgfältig sich danach richten, von wem sie kommen und sie nach den Grundsätzen der Vernunft prüfen.

Herzog Ai von Lu befragte den Meister Kung: »Der Musikmeister Kui soll nur einen Fuß gehabt haben. Ist das wahr?« Meister Kung sprach: »Einst wollte Schun durch die Musik die ganze Welt beeinflussen. Da ließ er durch Dschung Li den Kui in der Steppe aufsuchen und vor den Thron bringen. Schun machte ihn zum Musikmeister. Kui stimmte die sechs Röhren, harmonisierte die fünf Noten, um sie mit den acht Kräften der Diagramme in Übereinstimmung zu bringen, und die ganze Welt unterwarf sich. Dschung Li wollte noch jemand suchen, aber Schun sprach: »Die Musik ist das Geistigste in der Welt, das Wichtigste und Wertvollste; nur Heilige können sie in Harmonie bringen. Das ist die Wurzel der Musik. Kui kann sie so abstimmen, daß die ganze Welt in Ruhe kommt. Dieser Kui allein ist als Einziger genug. Darum heißt es: Der Kui als Einziger ist genug, nicht: er hat einen einzigen Fuß.«

Die Familie Ding in Sung hatte zu Haus keinen Brunnen und ging nach auswärts um Wasser zu holen. Immer war ein Mann unterwegs. Als sie zu Haus einen Brunnen gegraben hatten, sagten sie: »Ich habe einen Brunnen gegraben und damit einen Mann mehr gewonnen.« Jemand hörte es und sagte es weiter: »Die Ding-Familie hat einen Brunnen gegraben und einen Mann darin gefunden.« Die Leute der Hauptstadt verbreiteten es, so daß es zuletzt dem Fürsten von Sung zu Ohren kam. Der Fürst sandte jemand[400] hin, um bei der Familie Ding nachzufragen. Die Familie sagte: »Wir haben die Arbeitskraft eines Mannes gewonnen, nicht haben wir einen Mann im Brunnen gefunden.«

Wenn man solche Dinge hören will, ist es besser, man hört gar nichts.

Dsï Hia ging nach Dsin und kam durch We. Da war einer, der studierte Geschichte und las: »Das Heer von Dsin ging als drei Schweine über den Fluß.« Dsï Hia sprach: »Nein, es heißt im Jahre Gi Hai. Das Zeichen Gi sieht ähnlich aus wie das Zeichen für drei. Das Zeichen für Schwein sieht ähnlich aus wie das Zeichen für Hai.« Als er nach Dsin kam, fragte er; da hieß es wirklich: Das Heer von Dsin ging im Jahre Gi Hai über den Fluß.

Oft gibt es Worte, die sinnlos scheinen und doch einen Sinn haben, oft auch solche, die einen Sinn zu haben scheinen und doch keinen haben. Den Faden von Sinn und Unsinn muß man sorgfältig unterscheiden. Das ist's, warum der Heilige vorsichtig ist. Wie zeigt sich diese Vorsicht? Er hält sich an die Verhältnisse der Dinge und Menschen, um das Gehörte zu beurteilen: dann findet sich das Richtige.

Fußnoten

1 Wörtlich: wie Sung (ein kleiner Staat).


2 Schang Yang aus We lebte als Kanzler in Tsin.


3 Im Kommentar steht das östliche We. Das ist vermutlich ein Druckfehler.


4 Die im Text folgenden vier Zeilen gehören wohl nicht in den Text, vgl. Yü Lan 338, sie wurden daher in der Übersetzung ausgelassen.


5 Bi, vgl. I Ging Diagramm Nr. 8.


6 Vgl. Dschuang Dsï I, 2.


7 Der Text ist etwas schwierig.


8 Tai Tsai Pi war bestochen. Vgl. zur Sache XXIII, 3.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 399-401.
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