2. Kapitel
Ungerechtigkeit / Wu I

[390] Die alten Könige haben in Ihren Beurteilungen das Rechte getroffen: die Gerechtigkeit ist die Grundlage aller Handlungen und die Wurzel alles Vorteils; das liegt aber außerhalb des Gesichtskreises mittelmäßig begabter Menschen. Weil es außer ihrem Gesichtskreis liegt, wissen sie es nicht. Weil sie das nicht wissen, so laufen sie dem Gewinn nach. Aber wenn sie auch dem Gewinn nachlaufen, er ist ihnen darum doch noch nicht sicher. Das zeigten Gung Sun Yang2, Dschong Ping, Sü Ging und Gung Sun Giä.

Wenn man der Gerechtigkeit entsprechend handelt, so gibt es keine mißlingenden Unternehmungen. Wenn ein Beamter mit einem andern Beamten auf Verrat sinnt, finden sie vielleicht Genossen. Wieviel mehr ist das der Fall, wenn ein Fürst mit seinem Beamten auf Gerechtigkeit sinnt. Wer sollte nicht sein Genosse sein! Nicht nur seine Untertanen tun mit, alle Welt nimmt an seinem Werke teil.

Gung Sun Yang war kein Verwandter des Fürsten von Tsin und auch kein alter Bekannter, aber er war für Tsin gut zu brauchen. Er wollte sein Amt ausfüllen; das konnte er nur dadurch machen, daß er einen Staat angriff. So wurde er zum Feldherrn von Tsin und griff Liang We an. Der Fürst von We sandte den Prinzen Ang[390] als Feldherrn aus, um ihm entgegenzutreten. Gung Sun Yang aber (der selbst aus We stammte) war während seines Aufenthalts in We mit dem Prinzen Ang befreundet gewesen. Nun sandte er einen Boten zum Prinzen Ang und ließ ihm sagen: »Daß ich ins Ausland gereist bin, um angesehen zu werden, geschah nur Euch zuliebe. Nun hat der Staat Tsin mich als Feldherrn ausgesandt und We hat Euch ausgesandt, um mir entgegenzutreten. Wie sollten wir es übers Herz bringen, einander zu bekämpfen. Saget Ihr das Eurern Herrn, ich will meinem Herrn auch davon sagen.« Darauf schlossen sie einen Waffenstillstand und waren im Begriff, ihre Heere zurückzuziehen.

Da sandte er noch einen Boten an den Prinzen und ließ ihm sagen: »Wenn wir jetzt zurückkehren, läßt sich noch nicht sagen, wann wir uns wiedersehen werden. Ich möchte noch einmal mit Euch zusammensitzen, um Abschied zu nehmen.« Der Prinz sagte zu, obwohl die Beamten von We ihm abrieten. Der Prinz aber hörte nicht auf sie, sondern traf mit Gung Sun Yang zusammen. Gung Sun Yang aber hatte Soldaten und Wagen und Reiter in den Hinterhalt gelegt und nahm den Prinzen Ang gefangen.

Als Herzog Hiau von Tsin gestorben war und der König Hui auf den Thron kam, faßte er wegen dieser Sache ein Mißtrauen gegen Gung Sun Yangs Charakter und wollte ihn bestrafen. Da kehrte Gung Sun Yang mit seinen Angehörigen und seiner Mutter nach We zurück. Aber Siang Pi nahm ihn nicht auf, indem er sprach: »Nach der Art, wie Ihr Euren Freund, den Prinzen Ang, verraten habt, kenne ich Euch nicht mehr!«

Daraus geht hervor, wie vorsichtig Staatsmänner in ihrem Wandel sein müssen.

Dschong Ping war dem König von Tsin gegenüber Beamter und dem Ying Hou gegenüber ein guter Bekannter. Er verriet seinen Freund und empörte sich wider seinen Herrn nur des Vorteils willen. Zur Zeit, als er Feldherr von Tsin war, standen ihm alle Ehren der Welt zur Verfügung; denn er war gewissenhaft. Was man durch Gewissenhaftigkeit erlangt, das verliert man sicher durch Leichtsinn. Als er Tsin verließ und nach Dschau und Liang We[391] ging, da traf ihn alle Niedrigkeit der Welt und alle Schande. Da sein Wandel gemein und schändlich war und ihm nicht mehr das Ansehen des Feldherrn von Tsin zur Seite stand, was konnte er da anderes als Mißerfolg erwarten.

Der Staat Dschau verfolgte den Li Hai. Li sagte zu Sü Ging, er solle mit ihm zusammen nach We zu Gung Sun Yü gehen. Gung Sun Yü empfing sie und nahm sie bei sich auf. Da verriet es Sü Ging den Behörden von We und ließ den Li Hai verhaften. Infolgedessen wurde Sü Ging in Dschau Beamter und wurde zum Mitglied des Rats der Fünfe ernannt. Und doch wollte niemand mit ihm zusammen zu Hofe gehen und selbst mit seinen Söhnen und Enkeln verkehrte niemand freundschaftlich.

Gung Sun Giä verriet die geheimen Besprechungen mit seinem Fürsten dem Minister Tschu Li. Dafür wurde er im Dienst von Tsin bis zum Mitglied des Rats der Fünfe befördert. Sein Verdienst war nicht klein, und doch durfte er sich in den drei Hauptstädten (von Dschau, Han3 und Liang We) nicht mehr blicken lassen. Wie viel mehr wird es jemand so gehen, der nicht seine Verdienste hat und dennoch also tut wie er.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 390-392.
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