5. Kapitel
Das Aufsuchen von Männern / Kiu Jen

[396] Um die Person zu festigen, dem Reiche Frieden zubringen und die Welt zu ordnen, bedarf es tüchtiger Männer. Seit alter Zeit haben die Welt regiert einundsiebzig Heilige. Wenn man die Frühling-[396] und Herbstannalen nachliest, so sind es vom Herzog Yin von Lu bis auf den Herzog Ai zwölf Generationen. Wodurch sie ihr Reich gewonnen oder verloren, das ging immer auf dieselbe Weise zu. Wenn man einen Würdigen findet, so wird das Reich stets in Frieden kommen, der Name stets berühmt werden. Wenn man die Würdigen verliert, so kommt das Land stets in Gefahr und der Name stets in Schande. Die Könige des Altertums strebten nach Würdigen auf allerlei Weise. Sie suchten sie, auch wenn sie noch so niedrig und noch so verachtet, noch so fern und noch so mühsam zu erlangen waren.

Wenn Yü auf Gung Dschï Kis oder Wu auf Wu Dsï Hüs Worte gehört hätten, so könnten diese beiden Staaten heute noch bestehen. Auf diese Weise könnten die Staaten langlebig werden. Wenn es Leute gab, die das Alter der Menschen verlängern konnten, so waren sie überall auf Erden willkommen. Nun gibt es ein Mittel, um Staaten langlebig zu machen, und doch suchen es die Fürsten nicht, das ist ihr Fehler.

Yau übertrug dem Schun die Weltherrschaft; er ließ ihn durch die Fürsten verehren; er gab ihm seine beiden Töchter zu Frauen und seine zehn Söhne zu Dienern. Er selbst stellte sich mit dem Gesicht nach Norden und kam an seinen Hof, obwohl Schun aus niedrigem Stand war.

I Yin war ein Küchendiener, Fu Yüo war ein Strafarbeiter von Yin, beide wurden sie Kanzler von Großkönigen; und doch waren sie aufs äußerste verachtet gewesen.

Yü kam im Osten bis nach Fu Mu, wo die Sonne hinter den neun Furten aufgeht, und bis zur Ebene von Tsing Giang, bis zu dem Ort der hohen Bäume und dem Berg, der bis zum Himmel reicht, nach dem Land des Vogeltals und des grünen Hügels und dem Reich der Schwarzzähne.

Im Süden kam er bis zu dem Reich der Zehenkreuzer (Giau Dschï), Sun Pu, Sü Man, wo rotes Korn, Lackbäume und heiße Sprudelquellen auf dem Berge der neun Lichter sind, zu dem Ort, wo die geflügelten Menschen und nackten Leute wohnen, und in das Land, wo es keinen Tod gibt.[397]

Im Westen kam er bis zum Land San We (Drei Klippen), und unterhalb des Zauberberges, wo die Leute wohnen, die Tau trinken und Luft schlürfen, auf den Goldberg in die Gegend, wo die Einarmigen und Dreigesichtigen leben.

Im Norden kam er bis in das Land der Gerechten, in die armen Gegenden des Sommermeeres, bis auf den Berg Hong, in das Land der Küan Jung (Mongolen), in die Ebene des Sonnenjägers (Kua Fu), an den Ort von Yü Kiang, an den großen Wasserozean und den Berg mit den vielen Steinen und gönnte sich keine Rast noch Ruhe. So war er besorgt für die Massen des Volkes. Seine Haut war schwarzgebrannt, seine Eingeweide und Körperöffnungen waren verstopft, und er konnte nicht mehr ordentlich ausschreiten; das alles, um Würdige zu finden, um alle Vorteile der Erde zu gewinnen. Solche Mühe gab er sich. Er erlangte den Verkehr des Gau Yau, Hua (Bo I), Dschen Kui und Hong Go, alle fünf unterstützten den Yü.

Darum erwarb er sich Verdienste, die auf Erz und Steinen eingegraben und auf Wannen und Wassergefäßen eingeschrieben wurden.

Vor alters trat Yau vor Hü Yu inmitten der Sümpfe von Pe und sprach: »Wenn zehn Sonnen am Himmel stehen und man das Fackellicht doch nicht auslöschen wollte, wäre das nicht überflüssige Mühe? Wenn Ihr König werdet, so wird die Welt dadurch in Ordnung kommen. Darf ich die Welt Euch übergeben?«

Hü Yu lehnte ab und sprach: »Ist's weil die Welt nicht in Ordnung wäre? Aber sie ist ja schon in Ordnung. Ist's um meinetwillen? Das kleine Dschau Dsiau-Vögelchen nistet im Wald und braucht nur einen Zweig6. Die Spitzmaus trinkt im Gelben Fluß und braucht doch nur so viel, um ihren Leib zu füllen. Herr, kehrt heim! Wozu brauche ich die Welt!« Darauf zog er sich zurück an den Fuß des Berges Ki nördlich vom Flusse Ying und lebte von seiner Hände Arbeit, ohne jemals in seinem Leben irgendeine Äußerung zu tun über die Regierung der Welt.

Darum verhält sich ein würdiger Herrscher zu seinen würdigen Dienern so, daß er sich von keinem Ding der Außenwelt abhalten[398] läßt, von den nächsten Freunden und vertrauten Verwandten sich nicht bewegen läßt, sie zu schädigen. Darum versammeln sich die Würdigen um ihn. Wo die Würdigen sich sammeln, da bleibt Himmel und Erde vor Verderben geschützt, die Götter und Geister bringen keinen Schaden, die Unternehmungen der Menschen sind nicht ausgeklügelt; das ist die Wurzel der fünf beständigen Regeln.

Gau Dsï Dschung argwöhnte, daß Hü Yu das Reich von Yau annehmen könnte; da rief er Mau Gung Kiän und Kung Bo Tschan zu sich und alle Nachreden verstummten7.

Der Hof von Dsin wollte Dschong angreifen und schickte den Schu Hiang dorthin auf Besuch, um nachzusehen, ob sie dort Leute haben oder nicht. Dsï Tschan sang ihm ein Lied vor:


»Wenn du mein gedenkst,

So folg ich dir geschürzten Kleids durchs Wasser We.

Wenn du mein nicht gedenkst,

Find ich dann nicht einen andern?«


Schu Hiang kam zurück und sprach: »In Dschong gibt es wirklich Männer; solange Dsï Tschan dort ist, kann man es nicht angreifen. Es liegt nahe bei Tsin und Tschu und ist seinen Liedern nach auf mancherlei von uns gefaßt. Man darf es nicht angreifen.« Darauf stand man in Dsin davon ab, Dschong anzugreifen.

Meister Kung sprach: »In den Liedern heißt es:

Es gibt keine Macht außer durch tüchtige Männer.«

Dsï Tschan brauchte nur ein Lied zu zitieren und Dschong entging dem Verderben.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 396-399.
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