III. Der theoretische Materialismus in seinem Verhältnis zum Ethischen und zur Religion

[946] Der Materialismus des Altertums war in seiner reifsten Form unmittelbar und offen gegen die Religion gerichtet, deren gänzliche Vernichtung Lucrez als die wichtigste Angelegenheit des Menschen betrachtet. Der Materialismus der neueren Jahrhunderte verrät vielfach dieselbe Tendenz, allein sie tritt nur selten offen hervor und richtet sich auch dann noch gewöhnlich mehr gegen das Christentum, als gegen die Religion als solche. Der Gedanke einer allmählichen Läuterung des Volksglaubens von allen abergläubischen Elementen hat so tiefe Wurzeln gefaßt, daß sich die meisten Bekämpfer des Aberglaubens unwillkürlich diesem Zuge anschließen, auch wenn ihr eigentliches Prinzip ein viel weitergehendes ist. Seit Voltaire die Kirche und den Kirchenglauben mit unversöhnlichem Haß verfolgte, während er den Glauben an Gott beibehalten wollte, richtet sich noch immer der Anprall des Sturmes vor allen Dingen gegen die Orthodoxie, gegen den Wortlaut der überlieferten Kirchenlehre, während das Fundament alles Glaubens, das Gefühl der Abhängigkeit von überirdischen Mächten, nur selten angetastet und oft ausdrücklich anerkannt wird. Die philosophischen Umgestaltungen und Umdeutungen, die Übersetzungs- und Übertragungskünste, welche aus dem »Grund alles Seins« einen liebenden Vater zu machen wissen, spielen eine große Rolle in der Entwicklungsgeschichte der jungen Geistlichen, eine etwas kleinere in der Erhaltung eines gewissen Zusammenhanges zwischen dem Volksglauben und der Denkweise der Gebildeten, und fast gar keine in den Angriffen der Materialisten und andrer Apostel des Unglaubens gegen die Religion. Man ignoriert oft in auffallender Weise die Art, wie sich die wissenschaftliche Theologie mit den Dogmen abzufinden pflegt; man betrachtet die freieren Mittelstandpunkte, die vergeistigte Auffassung kirchlicher Traditionen als nicht vorhanden und macht das Christentum unbarmherzig verantwortlich für alle Roheiten des Köhlerglaubens und alle Auswüchse extremer Richtungen; allein bei alledem läßt man ein »von allem Aberglauben geläutertes Christentum«, eine »reine Gotteslehre« oder auch eine »Religion ohne Dogmen« sehr häufig als ein unentbehrliches Lebenselement der Menschheit gelten.[946]

Die Wirkungsweise dieser Polemik ist leicht zu übersehen. Die große Masse der mehr oder minder aufgeklärten Theologen fühlt sich durch diese Angriffe gar nicht getroffen und sieht mit Geringschätzung auf die »Unwissenschaftlichkeit« solcher Gegner herab. Die Gläubigen finden sich durch den Spott über das, was ihnen heilig ist, verletzt und schließen sich ab gegen jede Kritik, auch da, wo sie vielleicht ohne solche Angriffe selbst geneigt gewesen wären, Kritik zu üben. Gewonnen werden nur schwankende und dem Glauben längst entfremdete Gemüter, denen die Sicherheit der neuen Apostel imponiert; befestigt und stärker erbittert gegen die Gläubigen werden alle diejenigen, welche ohnehin schon zur Partei des Materialismus und der radikalen Aufklärung gehörten. Das Resultat ist: eine Verschärfung der unser Volksleben zerreißenden Gegensätze, Erschwerung einer friedlichen Lösung des Problems der Zukunft.

Anders müßte eine Polemik wirken, welche mit Ernst und Entschiedenheit den Fortbestand der Religion selbst in Frage stellen würde. Unsre Zeit bietet wahrlich noch Stoff genug für das Lucrezische »Tantum religio potuit suadere malorum«, und es lohnte wohl der Mühe, einmal den Zusammenhang zwischen den Früchten des Baumes und seiner Wurzel genauer zu untersuchen. Wenn geistvolle und fromme Theologen wie Richard Rothe572 schon auf den Gedanken kommen können, daß die Kirche allmählich im Staate aufgehen müsse, so ziemte es den Freidenkern wohl, auch ihrerseits den Dualismus des politischen Gemeindelebens und der religiösen Genossenschaft einer strengen Kritik zu unterwerfen, statt blindlings die alten Formen auf einen total fremdartigen Inhalt zu übertragen. Wir haben neuerdings eine Fraktion unter den »freien Gemeinden«, welche nicht nur jeden Rest der alten Glaubensartikel verworfen hat, sondern auch darin einen besonderen Fortschritt sucht, daß die feierliche und zeremonielle Vollziehung gewisser Handlungen, welche sich auf das Verhältnis des einzelnen zur religiösen Gemeinschaft beziehen, verworfen wird. Die »Taufe« z.B., welche bis dahin wenigstens mit einer feierlichen Mahnung an die Eltern wegen der Erziehung und mit einer Empfehlung des Kindes an das Wohlwollen aller Gemeindegenossen verbunden war, ward aufgegeben, weil man darin eine unnütze Vermittlung des Geistlichen und also einen Rest des autoritativen Priestertums erblickt. Ronge, Baltzer und andre einstige Führer der Bewegung, welche an bestimmten, wenn auch sehr allgemeinen[947] Lehrgrundsätzen und entsprechend einfachen Kultusformen festhalten, werden von den Männern dieser Richtung häufig als anmaßende Pfaffen behandelt und fast mit dem unfehlbaren Papste auf eine Linie gestellt.573 Gleichwohl bildet man noch Gemeinden, stellt Prediger an und erbaut sich, so gut es gehen will, an der einförmigen Wiederholung der Negation. Vielfach verschwimmt dabei die Grenze zwischen Gemeinde und Verein; zum Teil wohl durch Schuld des Staates, der dem freien Vereinswesen noch immer große Hindernisse in den Weg legt, während er die Bildung von Religionsgemeinden mit einem verschwindenden Minimum von Religion zuläßt. Bisweilen traten Männer als Prediger solcher Gemeinden auf, welche ihre Abneigung gegen alle und jede Religion kaum verhehlen. Betrachtet man aber die Schriften derselben, so findet man, daß sie sich mit Vorliebe an die äußersten Extreme der Orthodoxie und des Pietismus halten und ihren Radikalismus nur in der Verwegenheit des Spottes und der Satire kundgeben, während es ihnen niemals einfällt, das Recht der Religion selbst einer prinzipiellen, auch die freien Standpunkte mit umfassenden Kritik zu unterwerfen. Für die ideale Seite des religiösen Lebens findet man in diesen Kreisen einfach keinen Sinn, und die Verwerflichkeit von allem, was sich nicht als wahr für den gemeinen Verstand erweisen läßt, gilt als selbstverständlich.574

Dasselbe einseitige Vorwalten des Verstandesprinzips verrät sich in dem Versuche eines entschiednen »Naturalisten«, eine religiöse Gemeinschaft von »Kogitanten« zu bilden; doch tritt hier ein neues Moment auf, welches man in Kürze als den entschiednen Protest gegen den ethischen Materialismus bezeichnen kann. Die Kogitantengemeinde Dr. Löwenthals soll ein »sozial humanitärer Kultusverband« sein, eine Gesellschaft, welche einerseits das Denken und Wissen selbst zum Gegenstande des Kultus macht, anderseits aber sich auf Pflege der Menschenwürde und Menschenliebe begründet.575 Noch entschiedner betont Dr. Eduard Reich den Kultus und die Zeremonien; ein Schriftsteller, der in einer Reihe von Werken für die materialistische Weltanschauung eingetreten ist, und der daneben in einem besondern Schriftchen den Plan zu einer »Kirche der Menschheit« entworfen hat. Reich will auch die Bedürfnisse des Gemütes und des poetischen Sinnes im Menschen berücksichtigen und ist deshalb nicht sparsam mit Festen und Festgesängen, mit Chören und feierlichen Aufzügen. Symbolische Handlungen, festlicher Kirchenschmuck, Gelübde und Weihen geben der Religion[948] des »ewigen Lichtes« ein Gepränge, das unter den bestehenden Religionen seinesgleichen sucht; Trommeln, Trompeten und Pauken vereinigen sich mit Orgelspiel und Glockengeläute, um den religiösen Gefühlen der andächtigen Menge höheren Schwung zu verleihen.576

Am weitesten hat Comte die Idee dieses Kultus der Humanität getrieben, und nach seinem System würde die Religion einen weit größeren Raum im Leben des einzelnen und der Nationen einnehmen als je zuvor. Sind doch zwei volle Tagesstunden allein dem Gebete gewidmet, das in einer Ausströmung der Gefühle besteht, mit denen wir die Ideen der Verehrung, der Liebe und der Anhänglichkeit unter dem Bilde von Mutter, Gattin und Tochter in uns erwecken. Der öffentliche Kultus erfordert vierundachtzig Feste im Jahre und verfügt über neun Sakramente. Am merkwürdigsten aber, neben hundert Sonderbarkeiten harmloser Art, erscheint die entschiedene Vorliebe für eine hierarchische Leitung des Volkes. 18 Auch bei Reich findet sich ein hierarchisch gegliedertes Priestertum, und die Kogitantenreligion hat wenigstens ihren »Kultmagister«, der mit einer gewissen Autorität des Amtes bekleidet ist. Hier ist also ein Faktor der »überlebten« christlichen Religion aufgenommen, der unzweifelhaft zu den bedenklichsten und gefährlichsten gehört: organisierte Priesterschaft und Autorität des Amtes. Man darf sich wohl ernstlich fragen, ob nicht unser Entscheid ganz anders ausfallen müßte, wenn wir die Wahl hätten, entweder gewisse unhaltbare Lehrmeinungen und mystisch dunkle Glaubenssätze beizubehalten und dafür die Hierarchie sprengen zu können, oder bei völliger Aufklärung in den Lehrmeinungen die Fessel der Hierarchie wieder anzulegen.

Sind nicht die psychologischen Gesetze, welche jede Hierarchie, jedes über den Stand des Volkes emporgehobene Priestertum herrschsüchtig machen und die Eifersucht auf Erhaltung der Autorität in ihm wecken, unabänderlich in der menschlichen Natur begründet und unabhängig vom Inhalte des Glaubens ? In der Tat finden wir diese unausbleibliche Wirkung nicht nur bei den großen typischen Formen der tibetanischen, der christlich-mittelalterlichen, der altägyptischen Hierarchie, sondern wie die neueren ethnographischen Forschungen zeigen, auch bei den kleinsten Religionsgruppen der entlegensten Völker, bei den verkommensten Negerstämmen und auf den kleinsten Inseln des Weltmeeres.

Sollte man etwa meinen, daß die vollkommne Aufklärung auf[949] theoretischem Gebiete gegen diese Erscheinung Schutz böte, so müßte doch erst gezeigt werden, woher die Macht kommen soll, welche dem unwillkürlich sich einschleichenden Gelüste der Herrschsucht ein so starkes Gegengewicht geben würde. Aus bloß theoretischen Studien läßt sie sich schwerlich ableiten, und was man auch von der läuternden Kraft der Wahrheit sagen mag, so hat sich doch noch nirgend gezeigt, daß sie dieser Aufgabe gewachsen ist Die Reformatoren glaubten auch die volle Wahrheit erfaßt und allen Irrtum abgetan zu haben, und welche Herrschsucht, Intoleranz und Verfolgungssucht hat sich nicht gleichwohl unter der lutherischen Geistlichkeit kundgegeben, bis sie von der Übermacht des modernen Staates gedämpft und im Zaume gehalten wurde! Meint man vielleicht, daß die Kirchenlehre der absoluten Aufklärung keinen Stoff mehr bieten möchte zu großen und erbitterten Streithändeln und Verketzerungen, so betrachte man nur einen Augenblick die spärlichen naturwissenschaftlichen Lehrsätze, welche Ronge für wichtig und unerschütterlich genug hielt, um sie in sein Religionsbuch für den Jugendunterricht577 aufzunehmen. Hier finden sich sehr viele Behauptungen, welche durch die fortschreitende Wissenschaft teils schon als irrig erkannt, teils aber sehr zweifelhaft gemacht worden sind. Solche Irrtümer dringen allerdings beständig in die Schulen ein oder verbreiten sich durch die populäre wissenschaftliche Literatur und manchmal erhalten sie sich mit erstaunlicher Zähigkeit. Die Ansichten von der Existenz einer Zentralsonne, von dem geschlossenen Milchstraßensystem, das in den Nebelflecken sich wiederholt, von der Bewohnbarkeit der Mehrheit der Weltkörper durch »vernünftige Wesen, wie die Menschen«, von den Kometen als Übergangsform bei der Bildung der Weltkörper und viele ähnliche schweben auf diese Weise geraume Zeit in den Meinungen der Menschen umher, ohne daß damit viel Schaden geschieht. Wenn aber dergleichen Sätze die Weihe der Religion erhalten und wenn nun vollends noch eine solche Religion von einer auf ihre Autorität eifersüchtigen Priesterschaft gehegt und gepflegt wird, so müssen sie auf eine viel schlimmere Weise einrosten, und es ist noch gar nicht abzusehen, ob eine freie Naturwissenschaft dabei überhaupt auf die Länge fortbestehen könnte. Welche Kämpfe könnten erst entstehen durch das Auftreten großer neuer Prinzipien, wie z.B. des Darwinismus! Auch jetzt bringt dieser Kämpfe mit sich, aber wie harmlos verlaufen sie, verglichen mit Religionsstreitigkeiten irgendwelcher Art, und wie viel[950] harmloser würden sie noch verlaufen, wenn nicht auch jetzt die Beziehungen zur Religion eine gewisse Bitterkeit mit sich brächten. Wenn der Staat sich endlich entschließt, wie dies zu seiner natürlichen Aufgabe gehört, den naturwissenschaftlichen Unterricht in die allgemeine Volksschule einzuführen, so wird damit ein großer und segensreicher Fortschritt erzielt werden. Die Kluft zwischen der Denkweise des Volkes und derjenigen der Gebildeten wird verringert, die Selbständigkeit jedes einzelnen Bürgers, die Widerstandsfähigkeit gegen Trug und Aberglauben aller Art wird erhöht werden, und das Verhältnis dieser Lehre zur Religion wird sich allmählich ähnlich gestalten müssen, wie es jetzt bei den Gebildeten besteht, ohne daß irgendein Konflikt der Ansichten provoziert wird. Je unbefangener und positiver ein solcher Unterricht ohne alle polemische Nebenabsicht erteilt wird, desto günstiger muß der Prozeß der Ausgleichung zwischen den alten und den neuen Anschauungen verlaufen. Eine Kirche aber oder eine religiöse Gesellschaft irgendwelcher Art vermag unmöglich den Gegenstand so harmlos und unbefangen zu behandeln. Sie wird den Lehrsätzen eine Weihe und ein Gewicht geben, deren sie nicht bedürfen, und wird, je tiefer sie das Einzelne einprägt, desto mehr den Geist des Ganzen verunstalten.

Zur Verbreitung theoretischer Einsicht und Aufklärung bedarf es überhaupt keiner Gemütserhebung. Sie ist nicht einmal förderlich denn in der größten Ruhe stiller und regelrechter Betrachtung findet sich die richtige Erkenntnis am schnellsten und leichtesten. Ebensowenig bedarf die Wahrheit eines großen internationalen Verbandes; sie bildet selbst einen solchen und bricht durch alle sozialen und geographischen Schranken.

Anders verhält es sich mit der Sittlichkeit mit der Läuterung des Begehrens und mit der Richtung der Triebe zum Wohle des Ganzen. Aber auch hier wird die bloße moralische Belehrung schwerlich je eine Gemütsstimmung zeugen, zu welcher Posaunenklänge und Hymnen passen. An menschliche Freuden und Leiden, an Fürchten, Sehnen und Hoffen knüpft alle Religion an wie alle Poesie, und wenn es oft zum Nachteil der Religion erwähnt wird, daß sie aus Furcht und Begehrlichkeit entsprungen sei, so läßt sich dem gegenüberstellen, daß die Religion gerade deshalb auch ein geeignetes Gebiet ist, um Furcht und Begehrlichkeit zu läutern und zu veredeln. Ob aber hierzu die natürlichen Anlässe des menschlichen Lebens, Geburt und Tod, Hochzeiten und Unglücksfälle ausreichen,[951] ist sehr zu bezweifeln. Soll das Objekt der Gemütsbewegungen aus der Nähe in die Ferne versetzt und der Trieb dadurch vom Endlichen auf ein Unendliches hinübergelenkt werden, so tritt der Mythus in seine Rechte. Ein Stoff, der einerseits echt menschlich, anderseits auf Göttliches und Ewiges hinweisend die Herzen berührt, bildet die Grundlage, mit welcher die ethische Tendenz der Religion sich unauflöslich verbindet. Die Tragik des leidenden Göttersohnes ist daher vielleicht von den Mysterien der alten Griechen bis auf die Ausläufer des Christentums im Protestantismus herab ein wesentlicherer Bestandteil des eigentlich religiösen Lebens gewesen als alle andern Überlieferungen und Lehrsätze. Einen solchen Stoff aber kann man nicht machen. Er muß werden. Bedarf man seiner nicht mehr, so fragt es sich dann sehr, ob man überhaupt noch der Religion bedarf.

Ein gewisser Kultus der Humanität hat sich schon jetzt angebahnt, aber er enthält zum Glück keinen Keim eines Kirchenwesens mit geschlossenen Formen und gesondertem Priesterstande. Die Feste zum Andenken an große Männer, an die Begründung wichtiger Pflegestätten der Kultur, an die Stiftung wohltätiger Anstalten und Vereine; die großen nationalen und internationalen Zusammenkünfte zur Pflege der Wissenschaften und Künste oder zur Vertretung wichtiger Prinzipien sind weit gesundere Anfänge eines Zeitalters der Humanität als der willkürlich zusammengesetzte Heiligenkalender Comtes und als die Feste der »Eintracht«, »der großen Menschen« usw., welche Reich an die Stelle der christlichen Feste bringen will. Wenn man aber auch hier einen beginnenden Kultus der Humanität erkennen kann, so hat dieser doch nichts vom Wesen der Religion an sich. Das Fehlen des geschlossenen Priesterstandes haben wir schon erwähnt; aber auch nach der inneren Seite ist der Geist dieser neuen Veranstaltungen zur Erhebung des Herzens und zur Verbündung der Kräfte im Kampf für die hohen Ziele der Menschheit durchaus verschieden von allem, was wir Religion zu nennen gewohnt sind. In den großen Männern feiern wir nicht Dämonen, von deren Gewalt wir uns abhängig fühlen, sondern herrliche Blüten und Früchte an einem Stamme, zu dem auch wir gehören. Selbst die unzweifelhaft vorhandene Abhängigkeit unsres Denkens und Empfindens von den Formen, welche die großen Geister der Vergangenheit ausgeprägt haben, wird nicht im Sinne der religiösen Gebundenheit aufgefaßt, sondern als eine freudige Anerkennung der Lebensquellen, aus den wir schöpfen, und die[952] noch fort und fortsprudeln und immer neues und frisches Leben zu spenden verheißen.578

Es scheint sonach, daß der theoretische Materialismus nicht nur am konsequentesten verfährt, sondern auch das relativ günstigste Ergebnis für die geistige Zukunft der Menschheit erzielt, wenn er die Religion gänzlich verwirft und die Pflege der Sittlichkeit und Humanität teils dem Staate, teils aber privaten Bestrebungen überläßt. Ein großer Teil der Funktionen, welche jetzt der Kirche zufallen, wird alsdann auf die Schule übergehen; allein man wird sich hüten müssen, aus dieser eine geschlossene, die Menschheit leitende Institution werden zu lassen, welche gleichsam in das verlassene Erbe der Kirche einträte. Es gäbe das nur ein neues Pfaffentum. Nur als Organ des Staates und als freie Unternehmung selbstbewußter sozialer Kreise kann die Schule eine Entwicklung gewinnen, welche zur Förderung wahrer Bildung und echter Sittlichkeit dient, ohne die Gefahren hierarchischer Berufsautorität und herrschsüchtiger Korporationspolitik mit sich zu bringen.

Es fragt sich nun aber ferner, ob nicht die letzte Konsequenz des theoretischen Materialismus doch noch weiter führen und unter Verwerfung aller ethischen Ziele des Staates einen sozialen Atomismus anstreben müßte, in welchem jedes einzelne Atom der Gesellschaft schlechthin seinen Interessen folgte.

Bei Beantwortung dieser Frage darf man sich ebensowenig durch die bloße Analogie des Atomismus mit dem extremen Individualismus leiten lassen, als es anderseits genügen würde, auf den Protest unsrer Materialisten gegen diese Konsequenz zu verweisen. Die Analogie würde uns, ganz abgesehen von ihrer prinzipiellen Unzulänglichkeit, nicht weit führen, denn der Materialist anerkennt doch die Dinge, die sich aus den Atomen bilden, und die durch ihre Form vom Ganzen aus wieder auf die Bewegung der Teile zurückwirken; warum sollte er nicht auch soziale Gebilde anerkennen, welche als Ganzes die Bahn der einzelnen Individuen bestimmen? Der Protest der Materialisten aber kann die Frage schon deshalb nicht entscheiden, weil sie keine persönliche, sondern eine prinzipielle ist. So gut es Materialisten geben kann, welche mit den bestehenden Religionen ihren Frieden machen oder eine neue Religion begründen möchten, während andre das Fundament aller Religionen durch den Materialismus beseitigen wollen: ebensogut könnte es auch sein, daß unsre sämtlichen Materialisten der Gegenwart gegen den ethischen Materialismus protestieren, während eine spätere[953] Schule diesen als notwendige und richtige Konsequenz aufnähme. Geschichtlich hat sich der ethische Materialismus in den Kreisen der Gewerbetreibenden entwickelt, der theoretische unter den Naturforschern. Jener ist mit der kirchlichen Orthodoxie vortrefflich zusammen gegangen, dieser hat fast immer für Aufklärung gewirkt. Gleichwohl könnte ein tieferer Zusammenhang bestehen, welcher beide Erscheinungen als Folge des gleichen Kulturzustandes aus wesentlich gleichen Quellen hervorgehen ließe. Zuerst getrennt auftauchend, würden sie ihren inneren Zusammenhang erst allmählich hervortreten lassen, um schließlich sich völlig zu vereinigen.

Vollberechtigt ist natürlich der Protest der Materialisten gegen diejenige Auffassung, welche unter Materialismus nur das »Haschen nach sinnlichen Genüssen« versteht. Die Zügellosigkeit der sinnlichen Begierde ist zunächst eine Sache des Temperaments und der Bildung und ist mit jedem philosophischen Standpunkte prinzipiell unvereinbar, aber tatsächlich vereinbar. Selbst wenn die einzelne sinnliche Lust, wie bei Aristipp oder bei Lamettrie, zum Prinzip erhoben wird, bleibt noch die Selbstbeherrschung eine Forderung der Philosophie, wäre es auch nur wegen der dauernden Erhaltung der Genußfähigkeit; und umgekehrt bricht gerade bei recht asketischen Grundsätzen einer Philosophie oft genug in ihren Anhängern die sinnliche Begierde sich Bahn, sei es in offner Verletzung der eignen Grundsätze, sei es auf den gewundenen Irrwegen der Selbsttäuschung.

Wir haben im ersten Kapitel dieses Abschnittes gesehen, daß die Genußsucht gar nicht einmal als ein hervorstechender Zug unsrer Zeit betrachtet werden kann; um so mehr ist es die rücksichtslose Sorge für die eignen Interessen, zumal auf dem Gebiete des Gelderwerbes. Das Prinzip der ausschließlichen Sorge für die eignen Interessen, in welchem wir das Wesen des ethischen Materialismus erkannt haben, findet sich nun aber allerdings nicht selten mit dem theoretischen Materialismus verbunden, so z.B. bei Büchner in der ersten Auflage von Kraft und Stoff; weit häufiger freilich bei denjenigen Materialisten, welche keine Bücher schreiben.579

Entscheidend für die Frage des Zusammenhangs ist aber weder die historische Betrachtung, noch die Sammlung von Stimmen aus der Gegenwart, sondern die Untersuchung darüber, ob ein ethisches Prinzip sich nach den Ansichten des theoretischen Materialismus naturgemäß begründen läßt, und umgekehrt, ob der theoretische[954] Materialismus mit einem gegebenen ethischen Prinzip vereinbar ist. Wir haben nun schon gefunden, daß sich aus einer streng materialistischen Weltanschauung keineswegs bloß das Prinzip des Egoismus ableiten läßt, sondern auch das große Gegengewicht gegen denselben: die Sympathie. Beide Prinzipien können ohne allen Einfluß transzendenter Ideen oder abergläubischer Annahmen schlechthin aus der sinnlichen Natur des Menschen abgeleitet werden, und wer ihnen huldigt, kann dabei im vollen Umfange des Wortes Materialist sein. Das Kantische Moralprinzip aber müßte man zum mindesten von der Höhe seiner apriorischen Geltung herabziehen und rein psychologisch begründen, wenn es mit dem Materialismus vereinbar sein sollte. Auch kann umgekehrt niemand, wenn er von der Apriorität dieses Sittengesetzes überzeugt ist, beim theoretischen Materialismus stehen bleiben. Die Frage nach dem Ursprung des Sittengesetzes wird ihn stets über die Schranken der Erfahrung hinausweisen, und er kann ein Weltbild welches schlechthin auf der Erfahrung ruht, unmöglich für vollständig und für absolut richtig ansehen.

Aber auch die Sympathie ist für den Materialisten nicht dasselbe wie für den Idealisten. Büchner bemerkt einmal, das Mitleid sei im Grunde nur ein »verfeinerter Egoismus«, und dies läßt sich in der Tat wenigstens von der materialistischen Auffassung desselben wohl annehmen.580 Da beginnt die Sympathie naturgemäß in den engsten Kreisen von gemeinsamem Interesse, z.B. in der Familie, und sie ist mit dem schroffsten Egoismus gegen alles, was außerhalb dieses Kreises liegt, vereinbar. Der Idealist dagegen ist mit einem Sprung im Allgemeinen. Das Band, welches ihn an den Freund fesselt, ist ihm nur das nächste Glied in einer unendlichen alle Wesen umfassenden Kette: »vom Mongolen«, wie Schiller sagt, »bis zum griech'schen Seher, der sich an den letzten Seraph reiht.« Die natürlichen Empfindungen, welche in engeren Kreisen erwachen, werden sofort auf eine allgemeine Ursache zurückgeführt und an eine Idee geknüpft, welche unbedingte Geltung verlangt. Das Bild einer idealen Vollkommenheit entspringt im Gemüte, und die Anschauung dieses Ideals wird zu einem Leitstern bei allen Handlungen. Der theoretische Materialismus kann sich ohne Inkonsequenz nicht zu diesem Standpunkt erheben, weil für ihn dies Ausgehen vom Ganzen und von einem allgemeinen, vor jeder Erfahrung feststehenden Prinzip ein Irrtum ist. Der Materialist kann nicht dem Worte Schillers folgen: »Wage du zu irren und[955] zu träumen«, denn die strenge Übereinstimmung seines Weltbildes mit den Resultaten des Verstandes und der Sinnlichkeit ist ihm höchstes Gesetz.

So sehr daher auch der Materialismus befähigt ist, alle zum Bestande der Gesellschaft nötigen Tugenden aus seinen Grundsätzen abzuleiten, so wird doch das psychologische Gesetz sich auch hier geltend machen, daß in der Anwendung unsrer Grundsätze stets die ersten Ausgangspunkte ein gewisses Übergewicht erlangen, weil sie am meisten wiederholt werden und sich dem Gemüte am tiefsten einprägen. Die Ausbreitung der materialistischen Weltanschauung wird aus diesem Grunde auch notwendig auf die Dauer dem ethischen Materialismus Vorschub leisten, sowie umgekehrt die Verehrer des Egoismus als Moralprinzip sich allmählich zum Materialismus hingezogen sehen; mögen sie auch ursprünglich auf theoretischem Gebiete ganz andre Anschauungen gehegt haben. In der Tat läßt sich schon heute kaum verkennen, daß die Weltanschauung derjenigen Kreise, welche vor allen Dingen dem Erwerb nachjagen, und welche einem praktischen Egoismus huldigen, sich mehr und mehr zum Materialismus hinneigt; während die theoretischen Materialisten mit Vorliebe jene Züge des Christentums angreifen, welche eine so schroffe Opposition bilden gegen den Geist des modernen Erwerbslebens. Unter den Angriffen, welche sich in neuester Zeit nicht nur gegen die mythischen Überlieferungen des Christentums, sondern auch gegen seine Moral wenden, spielt derjenige nicht die letzte Rolle, welcher das Christentum als eine Religion des Neides und des Hasses der Armen gegen die Besitzenden bezeichnet.

Alle diese Wechselbeziehungen und Zusammenhänge werden uns noch klarer werden, indem wir im folgenden die Weltanschauung zweier Männer betrachten, welche sich durch Konsequenz und Klarheit des Denkens wie durch philosophische Bildung auszeichnen und welche sich erst im reiferen Alter mit Entschiedenheit einer materialistischen Weltanschauung zugewandt haben. Man wird darin vielleicht zugleich eine willkommene Ergänzung unsrer Geschichte des Materialismus finden, da wenigstens das eine der beiden zu besprechenden Systeme in neuester Zeit großes Aufsehen erregt hat, während das andre aus der Stille eines Briefwechsels erst hier ans Licht gezogen wird: wir meinen die Systeme von Friedrich Ueberweg und David Strauß.

Der Materialismus ist bei Ueberweg wie bei Strauß erst das letzte[956] Resultat einer längeren Entwicklung. Es kann dies auffallend erscheinen, da der Materialismus naturgemäß die erste und roheste Form der Philosophie darstellt, von wo aus mit Leichtigkeit zum Sensualismus und zum Idealismus fortgeschritten werden kann, während kein andrer in sich konsequenter Standpunkt durch bloße Erweiterung des Erfahrungskreises oder durch logische Bearbeitung auf den Materialismus zurückgeführt werden kann. In der Tat ist denn auch dies nicht der Gang der Entwicklung gewesen, wiewohl wir sehen werden, daß auf beide Männer der Darwinismus einen bedeutenden und vielleicht entscheidenden Einfluß geübt hat. Vielleicht befanden sich Ueberweg sowohl wie Strauß beim Beginn ihres Philosophierens durch Tradition und Studiengang auf einem abschüssigen Boden; sie hatten sich in eine Weltanschauung hineingedacht, welche weder objektiv haltbar noch ihrer subjektiven Anlage und Neigung entsprechend war. Ihr Fortgang von einer Stufe zur andern war daher wesentlich ein Zersetzungsprozeß und ein schließliches Ausruhen auf dem anscheinend festen Boden des Materialismus.

Ueberweg war von vornherein für den Materialismus gleichsam prädestiniert durch die entschiedene Abneigung gegen Kant,581 welche ihn bei der Ausbildung seiner eignen Ansicht von Anfang anleitete. Als Schüler Benekes, der sich an die englische Philosophie anschloß und die Psychologie zur Grundwissenschaft machte, vertrat Ueberweg schon als Student seinem Lehrer gegenüber eine naturalistische Wendung dieser Psychologie. Gleichzeitig aber stand er unter dem mächtigen Einflusse des Aristotelikers Trendelenburg, und so waren es denn auch in der Tat wesentlich Elemente der aristotelischen Philosophie, welche ihn vom Materialismus trennten und deren allmähliche Überwindung die Umwandlung seiner Denkweise bedingten. Wir können drei Stufen in dieser Bewegung unterscheiden: die erste, in welcher das teleologische Prinzip in ihm noch seine volle Kraft hat, die zweite, in welcher dasselbe mit seinem Naturalismus im Kampfe liegt, und endlich die dritte, in welcher es völlig gebrochen war.

Wie weit Ueberweg auf der ersten Stufe noch vom Materialismus entfernt war, mag folgender kurze Abriß zeigen, welchen Dr. Lasson, ein vertrauter Freund und fleißiger Korrespondent unsres Philosophen,582 von der Metaphysik gibt, wie Ueberweg sich dieselbe dachte in der Zeit, in welcher er seine Logik schrieb (1855): Sie sollte eine rationelle Ontologie, Theologie und Kosmologie enthalten.[957] Die Einleitung sollte eine Phänomenologie mit Rückweisung auf die Logik bilden. Die Ontologie betrachtet die empirisch gegebenen Formen von der abstraktesten aus und prüft ihre Realität und Bedeutung. Sie gliedert sich in die Lehre vom Sein überhaupt (Zeit, Raum, Kraft und Substanz, analog der Wahrnehmung); vom Fürsichsein (Individuum, Gattung, Wesen und Erscheinung, analog der Anschauung und dem Begriff); und vom Zusammensein (Relation, Kausalität, Zweck, analog dem Urteil, Schluß, System). Die Theologie sodann (allgemeine rationelle Theologie) betrachtet auf Grund jener ontologischen Erörterungen die Beweise für das Dasein Gottes und zugleich das Wesen Gottes. Die Kosmologie sucht aus dem Wesen Gottes und dem Zwecke der Schöpfung die Welt und ihre Formen zu begreifen. Die Welt wird als Offenbarung Gottes, als zeitliche räumliche Darstellung der ewigen und ungeteilten Vollkommenheit Gottes betrachtet.583

Man würde freilich nach diesen fast an Hegel mahnenden Konstruktionen eine sehr unvollständige Anschauung von Ueberwegs damaligen Ansichten gewinnen. Der materialistische Zug in seiner Philosophie, welcher sich in diesem Überblick der Metaphysik gänzlich verbirgt, war damals gleichzeitig schon sehr entwickelt in seinem Plane für die Psychologie, welche er am liebsten sofort nach der Logik in Angriff genommen hätte. Ich lernte Ueberweg im Herbst 1855 kennen und habe in meinen fast täglichen Unterredungen mit ihm sehr viel von dieser Psychologie gehört, aber nichts von der Metaphysik. Ob er in seinen metaphysisch-theologischen Anschauungen schon damals etwas schwankend geworden war, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls folgte dies Schwanken schon in den nächsten Jahren, während er dagegen seine psychologischen Grundanschauungen unentwegt festhielt.

Diese Psychologie ist eine sehr paradoxe; sie beruht aber auf einer kernhaften Schlußreihe, die wir hier in möglichster Kürze wiedergeben wollen.

Die Dinge der uns erscheinenden Welt sind unsre Vorstellungen. Sie sind ausgedehnt; also sind die Vorstellungen ausgedehnt. Die Vorstellungen sind in der Seele, also ist auch die Seele ausgedehnt, und ferner ist die ausgedehnte Seele auch materiell nach dem Begriff der Materie als einer ausgedehnten Substanz. Wir können die Vorstellungen nicht außerhalb der Seele haben; also reicht unsre Seele so weit und weiter, als der Inbegriff aller Dinge, die wir wahrnehmen,[958] einschließlich Sonne, Mond und Sterne. Es ist nunmehr sehr wahrscheinlich nach starken Analogieschlüssen, daß diese Welten nicht ohne äußere Ursachen in der Seele erzeugt werden, und daß die veranlassenden Ursachen (Ueberwegs »Dinge an sich«) den Erscheinungen zwar nicht gleich, aber doch sehr ähnlich sind. Das Bild der Camera obscura führt alsdann auf die oben bereits geschilderte Annahme einer vergleichsweise riesengroßen und vielleicht umgekehrten Originalwelt, welche sich in den übereinstimmenden Weltbildern der Individuen spiegelt. Ist die Seele als ein »Ding an sich« materiell, so ist vorauszusetzen, daß dies die Dinge an sich überhaupt sind. Wir haben also auch einen materiellen Körper mit einem materiellen Gehirn und in irgendeinem kleinen Teile dieses Gehirns liegt der Raum, in welchem sich unsre Vorstellungen bilden, und welche also, als eine einfache, strukturlose Substanz, die Welt unsrer erscheinenden Dinge umschließt.584 Wie Ueberweg glaubte, streng mathematisch beweisen zu können, daß die Welt der Dinge an sich räumlich sein und gleich unsrer Erscheinungswelt drei Dimensionen haben müsse, haben wir ebenfalls schon erwähnt. Es erübrigt noch, seine Ansichten von der Materie und ihrem Verhältnisse zum Bewußtsein darzustellen.

Ueberweg nahm nicht Atome an, sondern eine stetige Raumerfüllung durch die Materie, und dieser Materie schrieb er in allen ihren Teilen die Fähigkeit zu, einmal von mechanischen Kräften bewegt zu werden, sodann aber »innere Zustände« zu erlangen, welche von den mechanischen Bewegungen hervorgerufen werden, aber auch auf sie zurückwirken können. Die inneren Zustände unsrer Gehirnmaterie sind unsre Vorstellungen; diejenigen niederer Organismen und der unorganischen Materie dachte er sich in einem ähnlichen Verhältnisse zu unserm Bewußtsein wie etwa Leibniz das »Vorstellen« der niederen Monaden zu dem der höheren, nur war ihm das traumhafte oder noch weniger als traumhafte Vorstellen der unorganischen Materie nicht etwa wie bei Leibniz eine unvollkommene Vorstellung des Universums, sondern es war etwas Einfaches und Elementares: bloße Empfindung oder ein schwaches Analogon von Empfindung, aus welchem sich mit der vollkommneren Organisation der Materie auch die vollkommneren psychischen Gebilde herstellten.

Hier kann nun der Punkt scharf bezeichnet werden, an welchem Ueberwegs damalige Ansichten sich vom Materialismus scheiden. Setzt man die »inneren Zustände« der Materie schlechthin abhängig[959] von der äußeren Bewegung, die letztere dagegen unabhängig von den inneren Zuständen, so hat man einen entschiednen, der atomistischen Theorie mindestens gleichstehenden oder noch überlegenen Materialismus. Es braucht dabei nicht jede Rückwirkung der inneren Zustände auf die Bewegung der Materie aufgegeben zu werden, aber die Rückwirkung muß nach mechanischen Äquivalenten der vorausgehenden Einwirkungen erfolgen; mit andern Worten: das Gesetz der Erhaltung der Kraft muß durch die Organismen, wie durch die unorganische Welt, durchgeführt werden; die Bewegung aller Körper muß mit Einschaltung der inneren Zustände genau ebenso erfolgen, als wenn es keine inneren Zustände gäbe. Dies war nun aber damals Ueberwegs Meinung entschieden nicht. Er nahm an, daß das Gesetz der Erhaltung der Kraft durch die psychischen Vorgänge durchbrochen werde.585

Was ihn zu dieser Annahme zwang, war vor allen Dingen sein Festhalten an der aristotelischen Teleologie. Sobald Ueberweg diese aufgab, mußte sein System notwendig in Materialismus übergehen. Solange nämlich in den Organismen aus ihrer Idee heraus Kräfte entstehen, welche die Form bestimmen, kann diese Form nicht ausschließlich ein Werk der physikalischen und chemischen Kräfte sein. Im menschlichen Denken vollends wird die Folge der Begriffe gänzlich von der physiologischen Grundlage abgelöst. Die Gedanken sind zwar in gewissem Sinne Eigenschaften der Hirnmaterie, allein sie folgen rein logischen Gesetzen und können ein Endresultat liefern, welches durchaus nicht aus den mechanischen Bedingungen der Stoffbewegung zu erklären ist. Auch diese Annahme ist insofern teleologisch, als bei Aristoteles der Zweck zugleich der leitende Gedanke ist, dem sich die übrigen logischen Momente dienend anschließen müssen. Soll der Mensch seine Bestimmung erfüllen, so muß der Gedanke seines vernunftmäßigen Lebenszweckes ohne alle Rücksicht auf die Materie zur Herrschaft gelangen.

Auf die Teleologie stützt er auch seine Annahme eines mit Bewußtsein die Welt regierenden Gottes; allein gerade hier wurde er auch am frühesten schwankend. In dem anonym erschienenen »Sendschreiben des Philalethes« bemüht er sich zunächst, die bloße Möglichkeit der Existenz Gottes gegenüber dem von der Form des Weltganzen hergenommenen Argumente zu retten; erst dann sucht er aus der Teleologie die Wirklichkeit derselben zu erweisen. Der genannte Einwand hätte für manchen andern vielleicht wenig[960] Gewicht gehabt; für Ueberweg selbst aber war er nahezu erdrückend. Die Analogie mit den innern Zuständen der Tierwelt und besonders des Menschen mußte ihn mit Notwendigkeit dazu führen, auch für das göttliche Denken eine analoge Konzentration der im Weltall verbreiteten Bewußtseinselemente anzunehmen, und hierfür bedurfte er im Grunde, ganz wie Du Bois-Reymond dies fordert, eines Weltgehirns und Weltnervensystems. Auch die Schwächen des teleologischen Prinzips waren ihm nicht unbekannt, wiewohl er dasselbe damals noch standhaft verteidigte. So schrieb er mir denn in einem Briefe vom 18. November 1860 folgendes: »Ich weiß recht wohl, daß man die bloß subjektive Bedeutung des Zweckbegriffs entgegenzuhalten pflegt; aber diese steht doch auch in Frage. Wer in diesem Punkte auf der Seite Spinozas steht, muß nachweisen: wie denn die Erscheinungen des organischen Lebens, die wir uns am bequemsten mittels jenes Begriffs zurechtlegen, ohne denselben irgend denkbar seien. ›Kausalität‹ pflegt doch objektiv genommen zu werden; nun aber kommen wir mit einer Zusammenwürfelung der Atome allein sicher nicht aus, Hegels ›Immanente Zweckmäßigkeit‹, ›schöpferischer Begriff‹ hält aber eine unklare Mitte zwischen Atomistik und Theologie und weist über sich selbst hinaus. Kants Theorie ist an den Kantianismus überhaupt gebunden, der doch als Ganzes, wie er in den drei Kritiken vorliegt, nicht haltbar ist und bei Fichte nur noch toller wird. Ich bin beinahe in der nämlichen Klemme, worin Herbart sich fand: einesteils ist die Annahme notwendig, anderseits entweder unvollziehbar (nach der Herbartschen Metaphysik) oder doch schwer vollziehbar (auf Fechners und meinem Standpunkte). Helfen Sie mir aus der Klemme und ich werde Ihnen Dank wissen; dazu genügt aber nicht, daß Sie mir als unwahrscheinlich nachweisen, was ich selbst als an sich wenig wahrscheinlich anerkenne, sondern daß Sie mir eine andre Aussicht eröffnen, die mir auch nur einigermaßen plausibel erscheine. Ich kenne keine.«

In Beziehung auf das Dasein Gottes schreibt er so dann in dem gleichen Briefe: »Glauben Sie übrigens nicht, daß meine einzige Absicht, oder auch nur meine Hauptabsicht gewesen sei, den persönlichen Gott gleichsam um jeden Preis zu retten. Was den Kultus betrifft, so steht unter Verständigen gar nicht in Frage, daß derselbe viel Anthropomorphistisches, also bloß poetisch Gültiges enthalten muß. Aber soll der Anthropomorphismus religiöse Berechtigung haben, so muß etwas Wirklichkeit haben, was anthropomorphistisch[961] vorgestellt wird, und es ist eine Frage, die für den Philosophen und für alle auf Philosophie basierten religiösen Gemeinschaften von Wichtigkeit ist, was es sei, das die poetische Vorstellung so ausschmückt. Die Einheit des Weltganzen? – Aber in welcher Form hat dieselbe objektive Existenz? – Oder der Menschengeist? – Wie verhält sich der allgemeine Geist zum individuellen? usw. usw.« – Weiterhin bemerkt er, es sei ihm (im »Sendschreiben des Philalethes«) mehr um die Erörterung selbst zu tun gewesen als um das Resultat. Er habe gleichzeitig auch denjenigen, welche liberal sein wollen, aber die »Atheisten« verabscheuen, zeigen wollen, daß allerdings unabweisbare Betrachtungen die Annahme eines Gottes nahe legen, aber auch berghohe Schwierigkeiten sich ihr entgegentürmen und daher für eine freie Diskussion Raum gelassen werden müsse.

Diese zweite Stufe der Entwicklung Ueberwegs, diejenige des Schwankens zwischen Materialismus und Teleologie, habe ich meiner Darstellung seiner Philosophie in der Berlin 1871 erschienenen Denkschrift zugrunde gelegt. Ich hielt mich nicht für berechtigt, nach einzelnen, auch in meinem Briefwechsel vorkommenden Spuren einer Entscheidung für den Materialismus diesen als das letzte Resultat der Philosophie Ueberwegs zu proklamieren; zumal der von mir geschilderte Ueberweg jedenfalls gleichsam der offizielle war, der Verfasser der in so weiten Kreisen geschätzten vortrefflichen Lehrbücher, der allseitig anregende, scharf kritisierende und doch nach allen Seiten tolerante Denker. Bald nach dem Erscheinen meiner kleinen Biographie erhielt ich mehrere Briefe von Dr. Czolbe, dem bekannten Materialisten, welcher in Königsberg Ueberwegs vertrautester Freund war und bis an sein Lebensende täglich mit ihm verkehrte und philosophierte. Czolbe bestreitet in diesen Briefen, daß Ueberweg irgendwie noch der aristotelischen Teleologie gehuldigt habe; er bestreitet, daß Hartmanus »Philosophie des Unbewußten« ihn sympathisch berührt habe und behauptet, Ueberweg sei entschiedner Darwinist gewesen. Wörtlich heißt es sodann in einem Briefe vom 17. August 1871: »Er war nach allen Richtungen entschieden Atheist und Materialist, wenn er als offizieller Professor es auch (vorzugsweise) nur als seine Aufgabe ansah, den Studenten Kenntnisse in der Geschichte der Philosophie und Gewandtheit in der Logik beizubringen. Er gehört im Grunde in Ihre ›Geschichte des Materialismus‹ und ist mir ein leuchtendes Beispiel dafür, wie töricht die Meinung[962] gewisser Theologen und Philosophen ist, daß Unwissenheit, Dummheit und Gemeinheit das Fundament des Materialismus seien. Es würde vollständig im Sinne Ueberwegs sein, wenn Sie ihn unter die Materialisten aufnehmen.«586

Den Beleg dazu bilden vier Briefe Ueberwegs an Czolbe,587 der sich damals in Leipzig aufhielt, vom 4. Januar, 17. und 22. Februar und vom 16. März 1869. – In dem Briefe vom 4. Januar schreibt Ueberweg u. a.: »Was in unserm Gehirn geschieht, würde meines Erachtens nicht möglich sein, wenn nicht derselbe Vorgang, der hier nur am mächtigsten oder in größter Konzentration auftritt, in ähnlicher Art, nur in weitaus geringerem Grade, ganz allgemein stattfände. Ein Paar Mäuse und ein Mehlfaß – Sie wissen, daß ich Sie öfters hierauf verwiesen habe. Bei reichlicher Nahrung vermehren sich die Tiere und eben damit die Empfindungen und Gefühle, die wenigen, deren das erste Paar fähig war, können sich nicht bloß ausgebreitet haben, denn dann müßten die Nachkommen schwächer empfinden; also müssen im Mehl die Empfindungen und Gefühle, wenn schon nur schwach und blaß, nicht konzentriert, wie im Gehirn, vorhanden sein; das Gehirn wirkt wie ein Destillationsapparat. Sind aber die Empfindungen und Gefühle in den tierischen Gehirnen anregbar durch Vibrationen, so ist nicht einzusehen, wie sie diese Eigenschaft erlangt haben sollten, wenn ihnen dasselbe nicht von Hause aus zukäme, d.h. in irgendeinem (geringen) Grade bereits in der Mehlform (d.h. als sie noch als Mehl, resp. im Mehl, existierten).« – Weiter unten heißt es im gleichen Briefe: »In gewissem Sinne sagen Sie mit Recht, ich gebe die Materie vollständig auf. Meine Ansicht ist ebensosehr einerseits ›kraß materialistisch‹ wie anderseits exklusiv spiritualistisch. Alles, was wir Materie nennen, besteht aus Empfindungen und Gefühlen (nur nicht, wie die Berkeleyaner wollen, bloß aus den unsrigen) und ist in diesem Sinne psychisch; dieses Psychische aber ist ausgedehnt, also ›materiell‹, denn die Materie ist ihrer Definition gemäß ›ausgedehnte Substanz‹.«

Die drei übrigen Briefe enthalten Ueberwegs Kosmogonie, welche sich durch Hinzufügung eines eigentümlichen Zuges zu den Ansichten von Kant und Laplace auszeichnet. Ueberweg sucht nämlich (im Anschluß an eine Äußerung Kants) als notwendig zu deduzieren, daß je zwei benachbarte Himmelskörper oder ganze Sonnensysteme und noch größere kosmische Einheiten mit der Zeit notwendig zusammenstürzen müssen. Die Folge wird jedesmal[963] dieselbe sein: Aufglühen und Zerstreuung der Materie im Raume, worauf dann das Spiel der Kräfte wieder eine neue Weltbildung folgen läßt. Das Leben geht bei der allmählichen Erkaltung der Weltkörper verloren, aber der Zusammensturz stellt früher oder später die Wärme wieder her und es ist kein Grund vorhanden, warum sich nicht das Leben, wenn wir auch nicht wissen wie, genau aus denselben Gründen wieder erzeugt, aus welchen es bei uns entstanden ist. Der Kant-Laplacesche Anfangszustand ist also nur relativ ein Anfangszustand. Er setzt den Zusammensturz früherer Welten voraus und wird sich unendlich oft wiederholen, da wir keinen Grund haben, die Unendlichkeit der Materie und des Raumes zu bezweifeln.

An diese ebenso sinnreiche als verteidigungsfähige Theorie knüpfte dann Ueberweg eine weitere Ansicht, auf die er großen Wert legte, und welche den Darwinismus zur Voraussetzung hat. Durch das sukzessive Zusammenstürzen der Welten nämlich, lehrt Ueberweg, müssen sich immer größere Weltkörper bilden, und wenn auf diesen das Leben zur Entwicklung kommt, muß auch der Kampf ums Dasein immer größere Dimensionen annehmen, und dadurch müssen immer vollkommenere Formen erzeugt werden. Nimmt man diese neuen Züge zusammen mit der oben dargestellten Grundlage der Weltanschauung Ueberwegs, so ergibt sich allerdings ein konsequentes und in sich geschlossenes materialistisches System. Ob dasselbe in anderm Sinne zugleich »spiritualistisch« genannt werden dürfe, kann man bezweifeln; denn der eigentliche Spiritualismus schließt immer den streng mechanischen Kausalzusammenhang des Weltganzen aus. Auch betont Ueberweg diese Seite seiner Weltanschauung sehr selten, während er sich dagegen in seinen Briefen häufig und mit Vorliebe als Materialisten bezeichnet. Der Gedanke, daß sich auf Grundlage seiner Theorie ein wirklich konsequenter Materialismus errichten ließe, gefiel ihm schon zu einer Zeit, wo er sich noch nicht völlig für diese Wendung entschieden hatte. So erwähnt er in einem an mich gerichteten Briefe aus Königsberg vom 14. Dezember 1862 folgendes Epigramm gegen Czolbe aus der »Walhalla deutscher Materialisten« (Münster, 1861):


»Völlig ist deine Vernunft noch immer zum Ziel nicht gekommen,

Da die unendliche Welt nicht dir den Schädel erfüllt.«


Er knüpft daran folgende Bemerkung: »Hätte der Dichter meine[964] Abhandlung ›zur Theorie der Richtung des Sehens‹ gekannt, vielleicht hätte er sich zu einem Distichon gegen mich veranlaßt gefunden, da ich in der Tat eben jene Konsequenz ziehe. Ich möchte wissen, ob er auch dann noch die Überschrift beibehalten hätte: ›Der Materialismus ist unausführbar‹; ich würde ihm beistimmen, wenn er schriebe: (bei Czolbe und den übrigen) ›unausgeführt‹.«

Daß wir Ueberweg die Konzeption eines umfassenden und originellen materialistischen Systemes zuschreiben müssen, kann hiernach nicht bezweifelt werden. Gleichwohl kann man zweifeln, ob Czolbe recht hat, wenn er Ueberweg schlechthin als »Atheisten und Materialisten« bezeichnet. Es fragt sich nämlich zunächst, ob nicht Ueberweg bei längerer Lebensdauer auch diesen Standpunkt überwunden und seinem definitiven System wieder eine neue Wendung gegeben hätte. Nach meinem Gefühle hatte er niemals völlig abgeschlossen, und noch in seinen letzten Briefen verrät sich eine gewisse Geneigtheit, bei mehr Zeit und Ruhe ganze, wichtige Bestandteile seiner Weltanschauung noch einmal zu revidieren. Was aber den »Atheismus« betrifft, so ist Czolbe trotz seiner intimen Freundschaft mit Ueberweg hier schwerlich ein ganz kompetenter Zeuge. Da Czolbe selbst bei seinem Materialismus zugleich für das Papsttum schwärmte, so fanden sich auf diesem Boden zwischen ihm und Ueberweg wenig Berührungspunkte; auch finden sich in Ueberwegs Briefen an Czolbe keine Spuren von einer Besprechung der religiösen Frage. Ueberwegs Materialismus schließt die Annahme einer Weltseele noch immer nicht völlig aus, und mehr verlangt ja Ueberweg nicht, um zum Kultus eines Gottes zu gelangen, als die Existenz eines Wesens, welches sich dazu eignet, in anthropomorpher Auffassung zum Gottumgeschaffen zu werden. Stellen wir uns nun im ganzen die Frage nach den ethischen Konsequenzen der Weltanschauung Ueberwegs, so mag zunächst hervorgehoben werden, daß er in seinen politischen Ansichten wesentlich konservativ war. Natürlich huldigte er nicht der giftigen Restaurationssucht, welche sich in Deutschland so lange Zeit als »konservativ« geltend machte, sondern er ging mit dem großen Strome des gemäßigten Liberalismus, dabei aber mit entschiedner persönlicher Vorliebe für monarchische Staatseinrichtungen und für die möglichst korrekte Lösung jedes Problems auf dem Boden der Rechtsverhältnisse, wie sie einmal waren. Dies Prinzip führte ihn sogar zur Verteidigung des Legitimismus, der ihm gleichsam die Logik in der Politik zu vertreten schien. Das Recht der Idee gegenüber[965] veralteter Tradition, und damit das Recht der Revolution mochte er als Philosoph nicht verwerfen, aber er wünschte es auf die seltensten und unzweideutigsten Fälle einer innern Notwendigkeit beschränkt zu sehen. Die Veränderungen, welche das Jahr 1866 mit sich brachte, machten ihm keine Bedenken, wie er denn im ganzen mit dem Gang der Dinge in Deutschland seit 1858 außerordentlich zufrieden war.

In der sozialen Frage bekannte er sich in Ermanglung eigner Studien zu einer »instinktiven Sympathie mit Schulze-Delitzsch«. Meine in ganz anderm Sinne verfaßten Abhandlungen las er mit Aufmerksamkeit, stimmte, namentlich in den rein theoretischen Erörterungen, manchem Gedanken zu, kehrte aber in allen praktischen Konsequenzen möglichst auf die Verteidigung der bestehenden Verhältnisse zurück.588

Um so radikaler war Ueberweg gegenüber der religiösen Überlieferung. Schon zu Anfang der zweiten Periode seines philosophischen Entwicklungsganges trug er sich mit dem Gedanken, ob es nicht Pflicht für ihn sei, zu den freien Gemeinden überzutreten, und nur der Gedanke hielt ihn davon ab, daß er zu keinem andern Berufe befähigt sei als zur Professur, und daß in dieser Ausschließlichkeit seiner Naturanlage für ihn ein gewisses Recht liege, seine Stellung zu behaupten, so weit er es irgend ohne offene Unredlichkeit könne.589 Gegen das positive Christentum sprach er sich in seinen Briefen um so schärfer aus, je mehr er sich von dem Bewußtsein gedrückt fühlte, daß er in seinen Vorlesungen und Büchern zwar nichts Unwahres sage, aber auch nicht die volle Wahrheit sagen könne. In einem besonders erregten Briefe an mich vom 29. Dezember 1862 äußert er unter anderm, um die Anerkennung der Reformation habe man 30 Jahre und länger aufs Blut kämpfen müssen; er glaube nicht, daß Gemeinschaften, welche den Materialismus zur theoretischen Voraussetzung haben, früher eine gesicherte Anerkennung finden werden, »als bis vorher Fanatiker des Materialismus aufgekommen sind, die gleich den alten Puritanern bereit sind, ihr Leben einzusetzen und mit Wonne die katholischen und protestantischen Christen samt den alten Rationalisten niederkartätschen, dreißig Jahre lang, wenn's not tut. Danach erst, wenn der Sieg, der blutige Sieg errungen ist, danach wird es dann eine erfreuliche und schöne Aufgabe sein, nun wieder den Grundsätzen der Milde und Humanität Eingang zu verschaffen. Ein reiner Religionskrieg wird nicht kommen, so wenig wie die Kriege Konstantins[966] und der Dreißigjährige Krieg dies waren; wohl aber bin ich überzeugt, daß in nicht zu ferner Zukunft das religiöse Element, der Gegensatz der Weltanschauungen, sich mit politischen Gegensätzen und Kriegen sehr eng komplizieren wird.«590

Drei Jahre später, zu einer Zeit, als sich wohl schon die Weltanschauung der dritten Periode bei Ueberweg festgesetzt hatte, schrieb er (in einem an mich gerichteten Briefe vom 31. Dezember 1865) über die Religionsfrage (die ihm mehr als die soziale am Herzen liege) folgendes: »Eine Religion, in deren Dogmatik nichts wissenschaftlich Falsches sei, halte ich allerdings 1. für möglich, 2. für Bedürfnis. Aber, bester Freund, stellen Sie ›um Gottes willen‹ diesen Satz nicht mit dem andern gleich, daß die Religion selbst in Wissenschaft aufgehen solle. Wissenschaft und Dichtung sollen in der reinen Religion miteinander, reinlich gesondert und doch innigst verbunden, erscheinen. Diese Trennung und dieses Zusammenwirken soll an die Stelle des ursprünglichen Einsseins treten, welches letztere unerträglich wird und in das entsetzliche Dilemma der Borniertheit oder der servilen Heuchelei hineinführt, in dem Maße, wie das wissenschaftliche Zeitbewußtsein darüber hinausgeschritten ist«... »Ich halte nicht dafür, daß der Religion das Beharren im Kindheitszustande wesentlich sei. Keine andre ›Dogmatik‹, kein andrer ›Katechismus‹ als Natur- und Geschichtslehre, in zusammenfassender, den Blick auf das Ganze, auf die Weltordnung lenkender und dadurch den Schulunterricht abschließender Darstellung! Aber auf die Kanzel gehört diese Doktrin so wenig wie auf christliche Kanzeln die kirchliche Dogmatik als solche; die Doktrin bleibt nur die theoretische Basis für die Predigt, – nur den Anknüpfungspunkt für Gesang und Orgelspiel und meinetwegen auch Gemälde und Zeremonien. Aber bei reinlichster Sonderung muß eine enge Beziehung bestehen.« Aus der neuen Theorie, sucht er ferner zu zeigen, müsse sich auch eine neue religiöse Kraft er geben.

Hier haben wir also noch die Voraussetzung eines dem christlichen ganz analogen Kultus. Etwas anders lautet diese Evolutionstheorie in einem Briefe vom 28. April 1869. Hier bemerkt Ueberweg, daß die drei Funktionen: Erkenntnis, Gefühl und Wollen sich erst mit dem Fortschritt der Bildung bestimmter sondern, und dann treten Wissenschaft, Kunst und Sittlichkeit, das Theoretische, Ästhetische und Ethische nebeneinander. »Ursprünglich besteht ein keimartiges Ineinander (oder, um Schellingisch zu reden, eine ›Indifferenz‹)[967] derselben, und dieses primitive Ineinander ist wesentlich auch die Stufe der Religion.«... Die Zerlegung dessen, was in der Religion geeinigt ist, in jene drei Formen (nicht die bloße Auffassung der religiösen Vorstellungen als ästhetischer Gebilde) wäre der zu fordernde Fortschritt, dem Goetheschen Spruch gemäß: »Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, Der hat Religion. Wer diese beiden nicht besitzt, Der habe Religion.« Hier kann man sich in der Tat fragen, ob Ueberweg hinsichtlich der Religion nicht vollständig auf demselben Punkte angelangt ist, wie Strauß, dessen Ansichten wir gleich betrachten werden.

Eine unverkennbare Schwierigkeit dieser Evolutionstheorie liegt übrigens darin, daß die theoretischen, ästhetischen und ethischen Elemente, welche sich aus dem »keimartigen Ineinander« der Religion entwickeln sollen, zugleich sich qualitativ verändern und fast zum Gegenteil dessen werden, was im religiösen Keim enthalten war. Über das Theoretische ist in dieser Beziehung kein Wort zu verlieren; aber auch die ästhetischen und ethischen Forderungen welche Ueberweg an eine Religion der Zukunft stellt, weichen von den christlichen Prinzipien sehr weit ab. Dies trat bei unsern vielfachen Gesprächen über die Zukunft der Religion sehr deutlich hervor. Ich versuchte oft zu zeigen, daß das Christentum teils im Volksleben noch gewaltige Wurzeln habe, teils aber in einzelnen Grundzügen aus psychologischen und sozialen Ursachen überhaupt unersetzlich sei. Der philosophische Gebildete, welcher das Volk wahrhaft fördern wolle, müsse auch mit ihm in innerer Verbindung bleiben und fähig sein, seinen Herzschlag zu verstehen. Dazu aber gehöre auch eine religionsphilosophische Vermittlung, wie sie von Kant und Hegel angebahnt ist: eine Kunst der Übersetzung der religiösen Formen in philosophische Ideen. Wenn diese echt sei, müsse sogar der Gemütsprozeß im Kultus beim Philosophen wesentlich derselbe sein können, wie beim Gläubigen. Es sei daher ein Austritt aus der Kirche für den Philosophen nicht nur nicht geboten, sondern im Gegenteil sehr abzuraten, weil dadurch dem religiösen Volksleben ein seiner Natur nach zum Fortschritt treibendes Element entzogen und die Masse wehrlos der geistigen Herrschaft blinder Zeloten anheimgegeben werde.

Diesen »Isomorphismus« der Gemütsprozesse beim Philosophen und beim naiven Gläubigen wollte Ueberweg nur in sehr geringem Maße als berechtigt anerkennen; ohne Zweifel wohl hauptsächlich, weil er die religiösen Gemütsprozesse, welche das Christentum[968] fordert, im Prinzip verwarf. Was die ästhetische Seite des religiösen Lebens betrifft, so waren wir freilich darin einig, daß die Religion der Zukunft wesentlich eine Religion der Versöhnung und der Freude sein müsse, mit entschiedner Richtung auf die Vollkommenheit des diesseitigen Lebens, welches vom Christentum aufgegeben wird. Nun verwarf Ueberweg infolge dieses Grundsatzes die ganze Leidens- und Jammerpoesie des Christentums samt den dazu gehörigen tief ergreifenden Melodien und samt der erhabenen Architektur des Mittelalters, die mir sehr ans Herz gewachsen war. Er warf mir vor, ich wolle den neuen Tempel der Menschheit doch wieder gotisch bauen; er verlange einen neuen und heiteren Baustil. Ich wies darauf hin, daß wir doch das soziale Elend und den Kummer des einzelnen nicht wegschaffen könnten, daß in der Verschuldung aller, auch der Gerechtesten, ein tiefer Sinn liege, daß der rücksichtslose Aufruf an die Willenskraft des einzelnen eine tiefe Unwahrheit und Ungerechtigkeit in sich schließe. Demgemäß verlangte ich auch neben dem heitern Neubau der Religion der Zukunft zum mindesten meine gotische Kapelle für bekümmerte Gemüter und im nationalen Kultus gewisse Feste, in denen auch der Glückliche lernen sollte, in den Abgrund des Elends niederzutauchen und sich mit dem Unglücklichen und selbst mit dem Bösen in der gleichen Linie der Erlösungsbedürftigkeit wiederzufinden. Mit einem Worte: wenn in unserm jetzigen Christentum Jammer und Zerknirschung die Regel, heitre Erhebung und Siegesfreude die Ausnahme bilden, so wollte ich dies Verhältnis umkehren, aber den finstern Schatten, der nun einmal das Leben durchzieht, nicht ignorieren.

Ich erinnere mich noch sehr genau, wie einmal die Rede davon war, daß man unsre besten Kirchenlieder in den neuen Kultus mit hinübernehmen müsse, wie etwa die Psalmen in den christlichen Kultus. Ueberweg fragte mich, was ich denn etwa für ein Lied aus dem protestantischen Liederbuche nehmen möchte, und ich antwortete, im vollen Bewußtsein unsrer Differenz, gleich: »O Haupt voll Blut und Wunden.« Ueberweg wandte sich ab und verzichtete darauf, sich mit mir über die religiöse Poesie der Kirche der Zukunft zu verständigen.

Fast gleich schroff stand Ueberweg der christlichen Ethik gegenüber. Zwar anerkannte er das Prinzip der Liebe und wollte diesem auch eine bleibende Bedeutung zuerkennen; allein die Liebe als Gnade müsse um so schärfer bekämpft werden. Es ist bezeichnend,[969] daß gerade meine Schrift über die Arbeiterfrage ihn zu einer scharfen Äußerung hierüber (in einem Briefe vom 12. Februar 1865) veranlaßte. Nicht von der Durchführung, sondern im Gegenteil von der Umgestaltung der christlichen Prinzipien erwartet er erhebliche soziale Verbesserungen. »Der reiche Mann und der arme Lazarus, das Geben an die Armen, das irdische Dulden und die jenseitige Rache, die der Gott, der die Armen liebt, an den Begünstigten durch ewige Höllenqualen vollzieht, das sind ja doch die Grundgedanken des Stifters des Messiasreiches, und Zachäus wußte wohl, was Jesu gefiel, wenn er diesem versprach, die Hälfte seines Vermögens fortschenken zu wollen. Das ist der ethische Dualismus in ausgeprägtester Form. Der Mammon ist einmal ungerecht, das liegt in seiner Natur; nicht sorgen um den Mammon, sich beschenken lassen von Gott und den Menschen, das ist das Rechte, und sind die bösen Menschen zum Geben zu hartherzig (oder verlangen sie viel mehr Arbeit als Bettel), so kommt kein Gedanke an positive Würdigung der Arbeit, sondern dann wird eben das Elend getragen und im Opiumrausch der Vorstellungen von der Seligkeit des Messiasreichs oder überhaupt des Jenseits vergessen. Paulus war zu gebildet und zu sehr an Arbeit gewöhnt, um so roh, wie Jesus, über die Arbeit und den Bettel zu denken; aber bei ihm schlug das jämmerliche Bettelprinzip des Christentums nach innen, wo es fast noch verderblicher wirkte: die Gnade Gottes trat an die Stelle selbstbewußter ethischer Tat, das Offenbarungsprinzip an die Stelle der Forschungsarbeit. Zur ersten Zähmung von Barbaren mochte der geistige Opiumrausch gut sein; jetzt wirkt er lähmend und deprimierend fort.« – In ganz gleichem Sinne sprach er sich in einem Briefe vom 29. Juni 1869 aus, mit Beziehung auf die Kritik der christlichen Moral in Valliß591 Lehre von den Menschenpflichten: »Daß auf die Mängel der christlichen Ethik hingewiesen wird, namentlich auf die Hintansetzung der Arbeit (im weitesten Sinne des Wortes) gegenüber der Begünstigung moralischer Paradekunststückchen, wie ›Feindesliebe‹ (gepaart mit Verdammnis der Gegner und der Beneideten zu ewigen Höllenqualen), auf die Preisgebung der Selbständigkeit und persönlichen Ehre zugunsten serviler Wegwerfung an den Meister, der zum Messias, ja zum eingebornen Gottessohn gestempelt wird, das hat meine volle Sympathie.«

Es versteht sich hiernach von selbst, daß Ueberweg die Ethik als Wissenschaft rein naturalistisch und anthropologisch begründete.[970]

Die kurzen Grundzüge eines Systems der Ethik, welche Rud. Reicke aus dem handschriftlichen Nachlasse Ueberwegs veröffentlichte (Königsberg 1872), nähern sich jedoch insofern den Systemen, welche auf Annahme eines a priori gegebenen Prinzips der Sittlichkeit beruhen, als Ueberweg die Wertunterschiede zwischen den verschiedenen psychischen Funktionen seiner Ethik zugrunde legt. Er teilt diese in zwei Hauptklassen: »Durch Lust und Schmerz bekundet sich der Unterschied des Förderlichen und Schädigenden, durch die Achtungs- und Schamgefühle der Unterschied niederer und höherer Funktionen.« Gibt es aber ein solches ursprüngliches Gefühl des Unterschiedes zwischen niederen und höheren Funktionen, so gibt es auch ein natürliches Gewissen, und die Untersuchung wird sehr nahe liegen, ob nicht zwischen der subjektiven Begründung desselben und einem objektiven Prinzip sich ein Zusammenhang nachweisen ließe.

Während Ueberweg durch den Tod mitten aus seinen Arbeiten und Entwürfen herausgerissen wurde, hatte David Friedrich Strauß das Glück, sich voll auszuleben. Nach seinem eignen Zeugnis hat er mit seinem letzten Buch auch das letzte Wort gesprochen, das er der Welt noch zu sagen hatte. Dies letzte Wort aber ist ein Bekenntnis zu einer materialistischen Weltanschauung. Zwar bemerkt Strauß, unter Berufung auf Schopenhauer und den »Verfasser der Geschichte des Materialismus«, daß Materialismus und Idealismus ineinander übergehen und im Grunde nur einen gemeinsamen Gegensatz gegen den Dualismus bilden; allein dies Verhältnis kann unmöglich so gefaßt werden, als sei es gleichgültig, von welchem Punkte man ausgehe, oder als könne man Materialismus und Idealismus beliebig miteinander wechseln lassen. In Wahrheit ist der Materialismus doch nur die erste, zunächstliegende, aber auch niedrigste Stufe unsrer Weltanschauung; einmal in Idealismus hinübergeführt, verliert er als spekulatives System seine Geltung vollständig. Der Idealist kann und muß sogar in der Naturforschung überall dieselben Anschauungen und Methoden verwenden wie der Materialist; allein was diesem definitive Wahrheit ist, das gilt dem Idealisten nur als notwendiges Resultat unsrer Organisation. Auch genügt es nicht, dies einfach einzuräumen. Sobald dabei der Gedanke vorwaltet, daß dieses Resultat unsrer Organisation das einzige ist, worum wir uns zu kümmern haben, bleibt der Standpunkt doch im wesentlichen materialistisch, wenn man nicht für diese, bekanntlich neuerdings auch von Büchner eingenommene[971] Stellung einen eignen Namen erfinden will. Der echte Idealismus wird stets neben die Erscheinungswelt eine Idealwelt stellen, und der letzeren, selbst wenn sie nur als ein Hirngespinst auftritt, alle diejenigen Rechte einräumen, welche aus ihren Beziehungen zu unsern geistigen Lebensbedürfnissen folgen. Er wird daher auch stets mit Vorliebe auf die Punkte verweisen, in welchen sich die Unmöglichkeit kundgibt, die ganze Wahrheit der Dinge materialistisch zu begreifen. Bei Strauß findet sich weder der positive noch der kritische Grundzug des Idealismus irgend angedeutet, und gerade die Art, wie er die von Du Bois-Reymond aufgestellten Schranken des Naturerkennens bespricht, zeigt deutlich, wie entschieden er auf der materialistischen Seite steht.592 Mit glänzendem Scharfsinn hebt Strauß alle diejenigen Punkte hervor, welche beweisen, daß Du Bois-Reymond nicht gesonnen sein kann, mit seinen »Schranken« des Naturerkennens zugleich das Wesen desselben, nämlich die konsequente mechanische Weltanschauung in Frage zu stellen, oder hinter jenen Schranken veraltete Dogmen sich ansiedeln zu lassen. Den eigentlichen Kernpunkt der erkenntnistheoretischen Frage aber bespricht Strauß fast ohne Verständnis und wie etwas Gleichgültiges. Die absolute Kluft zwischen Bewegung der Hirnatome und Empfindung ist für Strauß, abgesehen davon, daß er sie noch anzweifelt, kein Grund, seinen Handel verloren zu geben; sobald wenigstens der Kausalzusammenhang zwischen beiden Erscheinungen wahrscheinlich gemacht wird.593 Dies ist aber genau der Standpunkt des Materialismus, welcher das unlösbare Problem zurückschiebt und sich an den geschlossenen Ring des Kausalgesetzes hält, um von hier aus seine Polemik gegen die Religion zu eröffnen.

Wie für Ueberweg der Zusammenbruch seiner aristotelischen Teleologie, so mußte für Strauß die Befreiung von den Fesseln der Hegelschen Philosophie fast mit Notwendigkeit zum Materialismus führen; denn keine neuere Philosophie hatte den springenden Punkt der philosophischen Kritik so gründlich verdeckt und mit ihren Begriffsgebilden überwuchert, wie dies Hegel mit seiner Lehre von der Identität vom Denken und Sein getan hatte. Der ganze Geist eines richtigen Hegelianers war gleichsam darauf geschult und eingeübt, ahnungslos an dem Punkte vorüberzugehen, wo Materialismus und Idealismus sich scheiden. Für Strauß trat diese Wendung, oder wenigstens der Anfang derselben, schon bald nach seinen großen theologischen Arbeiten ein; es dürfte aber[972] schwer halten und wird zu den Aufgaben seines Biographen gehören, an die wir hier nicht rühren dürfen, diesen Prozeß in allen seinen Stadien darzustellen.594 Sein materialistisches Vermächtnis, die Schrift: der alte und der neue Glaube, Leipzig 1872, erscheint durchaus als eine seit Jahren gereifte Frucht, und von einer etwaigen Neigung des Verfassers, über diesen Standpunkt nochmals hinauszuschreiten, kann keine Rede sein.

Das Büchlein, welches so viel Aufsehen erregte und eine so große Zahl von Gegnern in den Harnisch brachte, enthält alles, was wir für unsern Zweck bedürfen. Seine theologische Tendenz bringt es mit sich, daß zwei Kapitel vorangeschickt werden, in welchen der Verfasser die inhaltschweren Fragen zu beantworten sucht: Sind wir noch Christen? und: Haben wir noch Religion? Dann erst folgt das Kapitel: Wie begreifen wir die Welt? in welchem eigentlich erst das materialistische Glaubensbekenntnis des Verfassers niedergelegt ist. Das letzte Kapitel: Wie ordnen wir unser Leben? führt uns auf das ethische Gebiet und gibt uns reichliche Gelegenheit, die Ansichten des Verfassers über Staat und Gesellschaft kennenzulernen. Wir halten uns zunächst an die beiden letzten Kapitel und werden erst nachher einen Blick auf den Inhalt der vorhergehenden werfen.

Die Antwort auf die Frage, wie wir die Welt begreifen, ist ein Meisterstück in gedrängter und lebendiger Schilderung einer geschlossenen Weltanschauung. Ohne viel Polemik und überflüssige Seitenblicke läßt Strauß sein System durch die natürliche Folge der Darstellung sich selbst motivieren. Von den Sinneseindrücken beginnend, gelangt er mit schnellen aber sichern Schritten zu unsrer Vorstellung des Weltalls, dessen Unendlichkeit er nachdrücklich behauptet. In der Kosmogonie lehnt er sich fast ganz an Kant an, unter sorgfältiger Berücksichtigung des heutigen Standes der Naturwissenschaften. Wie Ueberweg nimmt er an, daß der ursprüngliche Zerstreuungszustand der Materie nur als Folge eines Zusammensturzes früherer Weltsysteme zu betrachten sei. Während aber Ueberweg aus diesem Prozeß in Verbindung mit dem Darwinismus einen Fortschritt der Welt zu immer größerer Vollkommenheit ableitet, legt Strauß vielmehr Wert auf die Ewigkeit und wesentliche Gleichförmigkeit des unendlichen Ganzen. Im Weltall in seiner absoluten Bedeutung gibt es beständig erkaltende und absterbende Weltsysteme, und ebenso beständig solche, die sich aus dem Zusammensturz neu bilden. Das Leben ist ewig. Schwindet es[973] hier, so beginnt es dort, und wieder an andern Punkten blüht es in seiner Vollkraft. Einen Anfang, wie Kant glaubte, hat dieser ewige Prozeß so wenig gehabt, wie er je ein Ende haben kann, und damit schwindet auch jeder Grund, einen Schöpfer anzunehmen.

In der nun folgenden geistreichen Erörterung der Frage nach der Bewohnbarkeit andrer Himmelskörper hätten vielleicht die Schranken nach den uns bekannten Naturbedingungen etwas enger gezogen werden müssen, allein erhebliche Verstöße sind auch hier nicht zu bemerken. In strengem Anschluß an die jetzt herrschenden Ansichten der Fachmänner erörtert Strauß kurz die Epochen der Erdbildung und verweilt dann um so ausführlicher bei der Frage nach der Entstehung und Ausbildung der organischen Wesen, einschließlich des Menschen. Hier folgt Strauß überall den Ansichten Darwins und der bedeutendsten deutschen Darwinianer und trifft, wo zwischen verschiedenen Wegen zu wählen war, fast überall mit sicherm Takte das Wahrscheinlichste und Natürlichste. Der ganze Abschnitt macht den Eindruck eines ernsten und verständnisvollen Studiums dieser Fragen, bei welchem dem Leser nur das Schlußresultat einer sorgfältigen und umfassenden Prüfung in leichter und gefälliger Fassung geboten wird. Nirgend macht daher auch die Polemik seiner zahlreichen Gegner einen schwächeren Eindruck als da, wo sie sich bemühen, Strauß allerlei naturwissenschaftliche Verstöße nachzuweisen und namentlich seinen Darwinismus als ein gedankenloses Hinnehmen naturwissenschaftlicher Dogmen darzustellen. Theologische und philosophische Gegner schleppen aus dem Streit der Naturforscher Material von der verdächtigsten Art zusammen, um Strauß damit niederzuschlagen, während jeder genauere Kenner dieses Gebiets leicht die Überzeugung gewinnt, daß Strauß alle diese Einwürfe sehr wohl gekannt hat, daß er sich aber in richtiger Würdigung seines Werkes und des Raumes, den er diesen Dingen widmen konnte, nicht veranlaßt sah, sie zu erwähnen und zu widerlegen.

Wenn sonach Strauß hier im einzelnen fast überall seinen Gegnern gegenüber im Rechte ist, so ist es doch nur der korrekte Materialismus, welchen er darstellt, und alle Schwächen und Unzulänglichkeiten dieser Weltanschauung treffen ihn in gleicher Weise wie den modernen Materialismus überhaupt. Wir werden einige Proben davon noch weiter unten finden und wenden uns nun zu seinen ethischen und politischen Ansichten.

Hier zeigt sich uns ein ganz andres Bild. Strauß bewegt sich auf[974] dem Boden wissenschaftlicher Studien und eindringenden Nachdenkens nur so weit, als es sich um eine allgemeine naturalistische Grundlegung der Ethik handelt, und selbst hier ist kaum ein bestimmtes Prinzip streng durchgeführt. Sobald er aber auf den Boden der politischen und sozialen Einrichtungen kommt, finden wir ein starkes Vorwalten subjektiver Eindrücke und Anschauungen mit wenig tiefer Begründung.

Ganz konsequent leitet Strauß zunächst die ersten Fundamentaltugenden aus der Geselligkeit und den Bedürfnissen eines geordneten gesellschaftlichen Lebens ab und fügt dann das Prinzip des Mitgefühls hinzu. Dabei aber scheint ihm doch das Gebiet des Sittlichen noch nicht vollständig erklärt und er springt von den naturalistischen Prinzipien über auf ein idealistisches: im sittlichen Handeln bestimmt der Mensch sich selbst nach der Idee der Gattung. Wie der Mensch an die Idee seiner Gattung kommt, wie er ferner zu einer Vorstellung von der »Bestimmung« der Menschheit gelangt, wird nicht weiter untersucht: vielmehr gehen die folgenden Erörterungen darauf aus, objektiv zu entwickeln, was der Mensch ist, und worin er seine Bestimmung findet. Daraus werden dann die Pflichten abgeleitet.

Es lohnt sich nicht, dieser Deduktion im einzelnen zu folgen; wohl aber sind die Resultate von Interesse. Strauß zeigt sich überall noch konservativer als Ueberweg, und während dieser wenigstens Verständnis für abweichende Meinungen zeigt, ist Strauß auf diesem ganzen Gebiete ebenso absprechend und dogmatisch als kurzsichtig und oberflächlich. Es gehört die ganze Enge des deutschen Philisterlebens früherer Tage dazu, um einigermaßen zu erklären, wie ein Mann von solchem Scharfsinn in diesen Ansichten stecken bleiben konnte.

Am schärfsten wendet sich Strauß gegen den Sozialismus, und dies steht bei ihm wie bei Ueberweg in engem Zusammenhang mit seiner Hochschätzung des modernen Industrialismus und mit seiner scharfen Verurteilung der arbeitsfeindlichen Tendenz des Christentums. Auch Strauß erwähnt mit lebhaftem Tadel die Höllenstrafen, denen der reiche Mann verfällt und das Gebot an den begüterten Jüngling, seine Habe zu verkaufen und den Erlös den Armen zu geben. »Ein wahrer Kultus der Armut und der Bettelei ist dem Christentum mit dem Buddhismus gemein. Die Bettelmönche des Mittelalters wie noch heute das Bettelwesen in Rom sind echt christliche Institute, die in protestantischen Ländern nur durch[975] eine ganz anderswoher stammende Bildung beschränkt sind.« Strauß adoptiert eine Lobrede Buckles auf Reichtum, Gewerbtätigkeit und Geldliebe und schließt daran noch folgende Bemerkung: »Daß der Erwerbstrieb wie jeder andre eine vernünftige Beschränkung, eine Unterordnung unter höhere Zwecke fordert, ist damit nicht ausgeschlossen, aber in der Lehre Jesu ist er von vornherein nicht anerkannt, seine Wirksamkeit zur Förderung von Bildung und Humanität nicht verstanden, das Christentum zeigt sich in dieser Hinsicht geradezu als ein kulturfeindliches Prinzip. Seinen Bestand unter den heutigen Kultur- und Industrievölkern fristet es nur noch durch Korrekturen, die eine weltliche Vernunftbildung an ihm anbringt, welche ihrerseits großmütig oder schwach und heuchlerisch genug ist, dieselben nicht sich, sondern dem Christentum anzurechnen, dem sie vielmehr entgegen sind.«595

Es versteht sich fast von selbst, daß Strauß auch das Leidensprinzip, die schwärmerische Asketik, die Weltverachtung und andre charakteristische Züge des Christentums verwirft. Seine Ethik, soweit wir sie aus seiner rastlosen Polemik gegen alles Christliche entnehmen können, beruht durchaus auf dem Gedanken, daß es die Bestimmung des Menschen ist, sich in dieser Welt durch Arbeit und gesellschaftliche Ordnung zweckmäßig einzurichten und durch Kunst und Wissenschaft nach Veredlung seines Wesens und nach feineren geistigen Genüssen zu streben. Die Frage, ob wir noch Christen sind, beantwortet er daher unumwunden mit nein die Frage jedoch, ob wir noch Religion haben, mit einem bedingungsweisen Ja. Es kommt nämlich darauf an, ob man unser Abhängigkeitsgefühl gegenüber dem All und seinen Gesetzen noch als Religion will gelten lassen oder nicht. Einen Kultus werden wir auf dies Gefühl nicht mehr bauen, wohl aber hat es noch sittliche Wirkung und ist mit einer gewissen Pietät verbunden, wir fühlen uns verletzt, wenn diese Pietät mißachtet wird, wie es z.B. durch den Pessimismus Schopenhauers geschieht. Der einzelne kann sich nicht über das All erheben; das gesetzmäßige, lebens- und vernunftvolle All ist unsre höchste Idee und jede echte Philosophie ist daher notwendig optimistisch.596

Über die Religionspflege der freien Gemeinden urteilt Strauß ungünstig. Sie verfahren zwar folgerichtig, wenn sie die dogmatische Überlieferung ganz aufgeben und sich auf den Boden der Naturwissenschaft und der Geschichte stellen, allein dies ist kein Boden für eine Religionsgesellschaft. »Ich habe mehreren Gottesdiensten[976] der freien Gemeinden beigewohnt und sie entsetzlich trocken und unerquicklich gefunden. Ich lechzte ordentlich nach irgendeiner Anspielung auf die biblische Legende oder den christlichen Festkalender, um doch nur etwas für Phantasie und Gemüt zu bekommen; aber das Labsal wurde mir nicht geboten. Nein, auf diesem Wege geht es auch nicht. Nachdem man den Kirchenbau abgetragen, nun auf der kahlen notdürftig geebneten Stelle eine Erbauungsstunde zu halten, ist trübselig bis zum Schauerlichen.« Strauß würde selbst dann nicht in eine »Vernunftkirche« eintreten, wenn der Staat ihr freigebig alle Rechte der alten Kirche gewähren wollte. Er und seine Gesinnungsgenossen können jede Kirche entbehren. Sie erbauen sich, indem sie ihren Sinn offen erhalten für alle höheren Interessen der Menschheit, vorab für das Leben der Nation. Sie suchen ihren nationalen Sinn durch geschichtliche Studien zu unterstützen und daneben auch ihre Naturkenntnisse zu erweitern; »und endlich finden wir in den Schriften unsrer großen Dichter, bei den Aufführungen der Werke unsrer großen Musiker eine Anregung für Geist und Gemüt, für Phantasie und Humor, die nichts zu wünschen übrigläßt. ›So leben wir, so wandeln wir beglückt.‹« Wir können es auch. Unsre Mittel erlauben es uns; denn die »Wir«, in deren Namen Strauß spricht, sind nach seiner eignen Aufzählung »nicht bloß Gelehrte oder Künstler, sondern Beamte und Militärs, Gewerbetreibende und Gutsbesitzer«. Das Volk wird nur sehr oberflächlich berührt. Auch ihm bieten sich unsre nationalen Dichter, wenn es auch auf die Konzerte einstweilen verzichten muß. Lessings Nathan und Goethes Hermann und Dorothea enthalten auch »Heilswahrheiten« und sind immerhin noch verständlicher als die Bibel, welche ja nicht einmal viele Theologen verstehen. Von den Heilswahrheiten, welche das Volk durch Tradition von Vater auf Kind in die Bibel hineinliest und von dem Verständnis derselben, welches die Leute zu haben glauben, ist nicht weiter die Rede. Das sind ja Irrtümer, also nicht existenzberechtigt; wenn auch gerade in diesen traditionellen Ideen der höchste Wert liegt, den die Bibel für das trostbedürftige Herz der Armen und Geringen haben kann. Wenn einmal die Schulen weniger jüdische Geschichte treiben, kann es mit dem allgemeinen Verständnis unsrer großen Dichter besser werden. Woher aber in unserm so vortrefflich bestellten Staatswesen der Impuls zu einer so folgenreichen Veränderung kommen soll, wird nicht weiter untersucht. Es ist auch im Grunde nicht nötig; denn die richtige Konsequenz dieses[977] ganzen Standpunktes ist doch im Grunde die: das Volk mag bleiben, wo es kraft der heiligen Gesetze des Weltalls einmal steht; wenn nur »Wir«, die Gebildeten und Besitzenden, uns endlich von der Last befreien können, Christen zu scheinen und zu heißen, was wir eben nicht mehr sind.

Eine ausführliche Kritik dieses Standpunktes597 werden wir nach allem, was schon gesagt ist, nicht mehr nötig haben; zumal das gleich folgende Schlußkapitel unsre Stellung zu diesen Fragen noch einmal voll beleuchten wird. Jedenfalls ist es kein Zufall, daß zwei so hochbegabte und edle Männer und dabei doch so total verschiedne Naturen, wie Strauß und Ueberweg, mit ihrem Materialismus die Rechtfertigung des modernen Industrialismus verbinden, und daß sie an die Stelle der Religion der Elenden und Unterdrückten eine Religion der bevorzugten Aristokratie stellen, die auf jede kirchliche Gemeinschaft mit der großen Masse verzichtet. Es geht ein Zug zum Materialismus durch unsre moderne Kultur, welcher jeden, der nicht irgendwo einen festeren Anker gefunden hat, mit sich fortreißt. Philosophen und Volkswirtschaftler, Staatsmänner und Gewerbetreibende begegnen sich im Lobe der Gegenwart und ihrer Errungenschaften. Mit dem Lobe der Gegenwart verbindet sich der Kultus der Wirklichkeit. Das Ideale hat keinen Kurs; was sich nicht naturwissenschaftlich und geschichtlich legitimieren kann, wird zum Untergang verurteilt, wenn auch tausend Freuden und Erquickungen des Volkes daran hängen, für die man keinen Sinn mehr hat.

In seinem »Nachwort als Vorwort« hebt Strauß hervor, daß er es im Grunde durch seine Verbindung des Materialismus mit politisch konservativen Grundsätzen mit allen Parteien zugleich verdorben habe. Er vergaß dabei nur seine eigne Armee, die »Wir«, in deren Namen er redet. Als ich jene Stelle im Nachwort gelesen hatte, legte ich das Buch einen Augenblick hin und blätterte in einem zufällig auf dem Tische liegenden illustrierten Unterhaltungsblatt. Mein erster Blick traf auf die Karikatur eines »Kommunisten«; der zweite auf eine Abbildung von Feuerbachs Studierzimmer, nebst einem biographischen Artikel über Feuerbach, der des Lobes kein Ende wußte. Die Redaktionen dieser Blätter wissen recht gut, was das große Publikum liebt; und es scheint fast, der Kern ihres Publikums habe eine entschiedene Verwandtschaft mit der Gesellschaft, in deren Namen Strauß sein Bekenntnis ausgesprochen hat.[978]

Aber die Sozialisten huldigen ja ebenfalls dem Materialismus! Dies widerspricht der Bemerkung, die wir gemacht haben, durchaus nicht. Sozialisten und Verehrer der bestehenden sozialen Verhältnisse kommen darin überein, daß sie die Anweisungen der Religionen auf das Jenseits verwerfen und das Glück der Menschheit im diesseitigen Leben begründen wollen. Zudem sind die Führer der Sozialisten, welche in dieser Beziehung den Ton angeben, weise Männer von Bildung, welche, in Deutschland wenigstens, die Schule der Feuerbachschen Ideen durchgemacht haben. Die große Masse ihrer Anhänger ist in dieser Beziehung ziemlich gleichgültig. Getrieben von der Vorstellung ihrer Not, werfen sie sich dem in die Arme, der eine entschiedne Verbesserung oder auch nur entschiednen Kampf und Hoffnung auf Rache verspricht; möge er nun im übrigen der päpstlichen Unfehlbarkeit huldigen oder dem Atheismus. Lange Jahre hindurch hat der Sozialismus die Kirche als Bundesgenossin des Staates hassen gelernt; kaum tritt ein tieferer Zwiespalt zwischen der Kirche und dem Staate hervor, so beginnt schon ein Teil der Sozialisten – höchst unklug aber höchst natürlich – mit der Kirche zu liebäugeln. Der Umsturz ist den extremen Führern dieser Richtung einziges Ziel und die Verhältnisse bringen es mit sich, daß nur extreme Führer möglich sind, weil nur die extremen Tendenzen die Massen bewegen. Sollte der Sozialismus jemals dies nächste, rein negative Ziel erreichen und dann unter allgemeiner Verwirrung zur positiven Gestaltung seiner Ideen schreiten müssen, so wird die kühle Herrschaft des abstrakten Verstandes schwerlich die Oberherrschaft behalten. Kommt es gar zum Zusammenbruch unsrer gegenwärtigen Kultur, so wird schwerlich irgendeine bestehende Kirche und noch weniger der Materialismus die Erbschaft antreten: sondern aus irgendeinem Winkel, an den niemand denkt, wird etwas möglichst Unsinniges auftauchen, wie das Buch Mormon oder der Spiritismus, mit dem sich dann die berechtigten Zeitgedanken verschmelzen, um einen neuen Mittelpunkt der allgemeinen Denkweise vielleicht auf Jahrtausende hinaus zu begründen.

Es gibt nur ein Mittel, der Alternative dieses Umsturzes oder einer finstern Stagnation zu begegnen: dies Mittel besteht aber nicht, wie Strauß glaubt, in den Kanonen, die gegen Sozialisten und Demokraten aufgefahren werden; sondern einzig und allein in der rechtzeitigen Überwindung des Materialismus und in der Heilung des Bruches in unserm Volksleben, welcher durch die Trennung der[979] Gebildeten vom Volke und seinen geistigen Bedürfnissen herbeigeführt wird. Ideen und Opfer können unsre Kultur noch retten und den Weg durch die verwüstende Revolution in einen Weg segensreicher Reformen verwandeln.[980]

572

Vgl. d. Aufsatz über »die neue Bilderstürmerei« in der Zeitschr.: Neue religiöse Reform, Darmstadt 1874, No. 29 bis 31, von Johannes Ronge.

573

Vgl. u. a. Dr. Friedr. Mook, das Leben Jesu für das Volk bearbeitet, Zürich, Verlags-Magazin, 1873.

574

Vgl. die ersten Nummern der von Dr. Ed. Löwenthal 1865 herausgeg. Zeitschr.: Der Kogitant, Flugblätter für Freunde naturalistischer Weltanschauung. – Der Herausgeber, Dr. Löwenthal, ist Verfasser der in mehreren Auflagen erschienenen Schrift: System und Geschichte des Naturalismus, Leipzig 1862.

575

Eduard Reich, die Kirche der Menschheit, Neuwied 1873.

576

Vgl. Mill, Auguste Comte and positivism, London 1865, p. 140 u. ff.

577

Johannes Ronge, Religionsbuch für den Unterricht der Jugend, 1. Tl. Die Gesetze der Natur sind Gesetze Gottes und in Harmonie mit den Gesetzen der Sittlichkeit, oder die natürliche und sittliche Weltordnung Gottes als freies Vorbild unsrer Lebensordnungen. Frankfurt a. M. 1863. (Mit schwarzem Umschlag. Warum?)

578

Stuart Mill nennt in seinen eben erschienenen Aufsätzen über die Religion (Three essays on religion, London 1874) die Empfindungen, welche wir für das Wohl der gesamten Menschheit haben, und die moralische Erhebung durch das Andenken an große Männer oder verstorbene Freunde eine wirkliche Religion. Gleichzeitig erklärt er für das Wesen der Religion die starke und ernste Richtung unsrer Gefühle auf ein ideales Objekt, welches wir als höchst vortrefflich und weit erhaben über alle Gegenstände selbstsüchtigen Begehrens anerkennen. Mit diesem Maßstabe gemessen sind Schillers sämtliche Dramen und zwei Drittel seiner Lyrik religiöse Poesie. Ja, die Poesie selbst, in ihrer vollen Würde aufgefaßt, wird mit der Religion identisch, während sich doch nur unter einen gemeinsamen Oberbegriff gehört. (A.a.O.p.109.)

579

Büchner, Kraft und Stoff, Frankfurt 1855, S. 256 u. f.

580

Büchner, die Stellung des Menschen in der Natur, Leipzig 1870, Anm. 104, S. CXLIII u. f.

581

Vgl. m. Gedenkschrift: Friedrich Ueberweg. Von F. A. Lange. Berlin 1871. (Aus der altpreuß. Monatsschrift, hg. von Reicke und Wichert, Bd. VIII, Heft 5/6, S. 487-522 besonders abgedruckt.) – Der dort erwähnte Brief Ueberwegs »an Prof. Dilthey« (S. 37), mit spezieller Beziehung auf Ueberwegs Verhältnis zu Kant, ist in der Tat nicht an Dilthey gerichtet, sondern an Dr. Hermann Cohen, den Verfasser von »Kants Theorie der Erfahrung«. Dieser Brief war von Cohen an Prof. Dilthey, von diesem an Ueberwegs Verleger, Dr. Toeche, und von diesem ohne Kuvert und nähere Bezeichnung nebst anderm Material an mich gesandt worden.

582

Bei dieser Gelegenheit noch eine kleine Korrektur zu meiner Denkschrift »F. Ueberweg«: Auf S. 16 derselben sollte statt des »Herbartianers Lazarus« vielmehr Dr. Lasson genannt sein. Ueberweg nannte diesen in seinen Briefen häufig »Lazarus«, da Dr. Lasson vor seinem Übertritt zum Christentum den Namen Lazarussohn führte.

583

Lasson, zum Andenken an Friedr. Ueberweg, Separat-Abdruck aus Bergmanns Philos. Monatheften, Bd. VII, Hft. 7, Berlin 1871; vgl. daselbst S. 20.

584

S. oben, S. 773 ff. – Vgl. ferner meine Gedenkschrift: Friedrich Ueberweg, S. 1 2 u. ff.

585

Noch in einem Briefe vom 9. Januar 1863 sucht Ueberweg zu zeigen, daß bloßer Mechanismus nur da sei, wo die inneren Zustände der Materie unverändert bleiben und keinen Einfluß auf die Richtung der Bewegung ausüben. Dies aber scheint ihm für die psychischen Vorgänge sehr unwahrscheinlich. Er will jedoch die »wissenschaftliche Existenzberechtigung« einer Hypothese nicht bestreiten, welche alle Bewegungen nur nach dem Gesetze der Erhaltung der Kraft, also rein mechanisch zu erklären sucht. Es sei sogar zeitgemäß, daß diese Hypothese einmal aufgestellt werde, und wer sie möglichst gut durchführe, werde sich einen bleibenden Platz in der Geschichte der Psychologie erringen. – Mit Unrecht nimmt Prof. Dilthey in seinem Aufsatze: Zum Andenken an Friedr. Ueberweg (im 28. Bande der Preuß. Jahrbücher) folgenden Satz als Ansicht Ueberwegs an: »Und zwar ist es an jedem Punkte derselbe reale Vorgang, welcher doppelt, als ein psychischer und als ein Bewegungsvorgang erscheint.« Diese Ansicht unterscheidet Ueberweg häufig als die spinozistische von der seinigen, nach welcher die inneren Zustände zwar von äußerer Bewegung erregt werden und auf die Richtung derselben Einfluß haben, aber nicht mit demselben identisch sind.

586

Es versteht sich von selbst, daß ich Ueberwegs Charakter in dieser Beziehung ganz gleich beurteile wie Czolbe. Ich bin überzeugt, daß Ueberweg, wenn er seinen Tod vorausgesehen hätte (er hoffte nach Czolbe bis auf den letzten Augenblick noch auf Genesung), selbst keine Ruhe gehabt hätte, bis seine wesentlichen Ansichten in ihrem vollen Zusammenhange zur Veröffentlichung wären aufgezeichnet worden.

587

Diese Briefe wurden mir von Czolbe nebst einigen andern zur freiesten Benutzung übergeben und sind daher auch nach dem Tode Czolbes unter meinen Papieren verblieben.

588

Ueberweg legte seine Eindrücke von der Lektüre meiner »Arbeiterfrage« (freilich der ersten, noch sehr mangelhaften Auflage) nieder in einem Briefe vom 12. Februar 1865.

589

Ueberwegs Briefe an mich vom 18. November 1860 und vom 28. Dezember 1861.

590

Auf die psychologische Erklärung dieses erregten Briefes, welche ich S. 22 der Gedenkschrift »Friedrich Ueberweg« versucht habe, kann ich auch jetzt noch nicht verzichten, gleichwohl muß ich anderseits seinem harten Urteile über das Christentum jetzt eine größere Bedeutung beilegen, als die einer momentanen Verstimmung.

591

Die Lehre von den Menschenpflichten in ihrem Verhältnis zur christlichen Sittenlehre. Aus den hinterlassenen Papieren eines Philosophen herausgegeben von Rud. Valliß. Winterthur 1868.

592

Vgl.: Ein Nachwort als Vorwort zu der neuen Auflage meiner Schrift: Der alte u. d. neue Glaube, von Dr. Fr. Strauß, Bonn 1873, S. 22 u. ff.

593

a.a.O. S. 28 u. f.: »Ob dieses Wort des Meisters wirklich das letzte Wort in der Sache sei, darüber wird am Ende doch nur die Zeit entscheiden können; glücklicherweise kann ich mir dasselbe vorläufig gefallen lassen, ohne darum meinen Handel verloren zu geben.« Es handelt sich doch um einen Punkt, bei welchem keine Autorität eines Meisters irgend etwas zu tun hat und über den das Urteil jedes Menschen, welcher die Frage versteht, genau gleich viel gilt.

594

Inzwischen haben wir einige Anhaltspunkte in Zellers vortrefflicher Schrift: David Friedrich Strauß, in seinem Leben und seinen Schriften geschildert, Bonn 1874. Daß dieselbe sich nicht als vollständige Biographie gibt, hat der Vf. selbst auf S. IV des Vorwortes ausgeführt.

595

Der alte u. d. neue Glaube, 2. Aufl., S. 63 u. 64.

596

Der alte u. d. neue Glaube, 2. Aufl., S. 141-147. Bemerkt zu werden verdient hier der arge Trugschluß, durch welchen Strauß (S. 145) den Pessimismus zu widerlegen sucht: Ist die Welt schlecht, so ist auch das Denken des Pessimisten schlecht; ist dieses schlecht, so ist die Welt vielmehr gut!

597

Es sei hier nur beiläufig erwähnt, daß selbst das Straußsche Minimum von Religion noch seine unbewiesenen Dogmen und seine die Wirklichkeit aus ethischen Zwecken überschreitenden Lehrsätze hat. Unbewiesen und unbeweisbar ist vor allen Dingen die Unendlichkeit der Welt, ein frommer Irrtum aber ist der Optimismus, denn dieser sowohl wie sein Gegenteil, der Pessimismus, sind nur Erzeugnisse menschlicher Ideologie. Die Welt der Wirklichkeit ist an sich weder gut noch schlecht.

Quelle:
Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1974, S. 946-981.
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