IV. Der Standpunkt des Ideals

[981] Der Materialismus ist die erste, die niedrigste, aber auch vergleichsweise festeste Stufe der Philosophie. Im unmittelbaren Anschluß an das Naturerkennen schließt er sich zum System, indem er die Schranken desselben übersieht. Die Notwendigkeit, welche im Gebiete der Naturwissenschaften herrscht, gibt dem System, welches sich am unmittelbarsten auf dieselben stützt, einen bedeutenden Grad von Gleichförmigkeit und Sicherheit seiner einzelnen Teile. Ein Reflex dieser Sicherheit und Notwendigkeit fällt dabei auch auf das System als solches, allein dieser Reflex ist trügerisch. Gerade das, was den Materialismus zum System macht, die Grundhypothese, welche die einzelnen Naturerkenntnisse durch ein gemeinsames Band zum Ganzen erhebt, ist nicht nur der unsicherste Teil, sondern auch unhaltbar vor einer tiefer eingehenden Kritik. Ganz dasselbe Verhältnis wiederholt sich aber in den einzelnen Wissenschaften, auf welche der Materialismus sich stützt; also auch in allen einzelnen Teilen des Systems. Die Sicherheit dieser Teile ist, bei Lichte betrachtet, nichts als die Sicherheit der Tatsachen der Wissenschaft, und diese ist allemal am größten für das unmittelbar gegebene Einzelne. Der Einheitspunkt, welcher die Tatsachen zur Wissenschaft und die Wissenschaft zum System macht, ist ein Erzeugnis freier Synthesis und entspringt also derselben Quelle wie die Schöpfung des Ideals. Während jedoch diese völlig frei mit dem Stoffe schaltet, hat die Synthesis auf dem Gebiete des Erkennens nur die Freiheit ihres Ursprungs aus dem dichtenden Menschengeiste. Sie ist auf der andern Seite gebunden an die Aufgabe, möglichste Harmonie zu stiften zwischen den notwendigen, unsrer Willkür entzogenen Faktoren der Erkenntnis. Wie der Techniker bei einer Erfindung an den Zweck derselben gebunden ist, während doch die Idee derselben frei aus seinem Geiste hervorbricht, so ist jede wahre wissenschaftliche Induktion zugleich die Lösung einer gegebenen Aufgabe und ein Erzeugnis des dichtenden Geistes.

Der Materialismus hält sich mehr als irgendein andres System an die Wirklichkeit, d.h. an den Inbegriff der notwendigen, durch[981] Sinneszwang gegebenen Erscheinungen. Eine Wirklichkeit aber, wie der Mensch sie sich einbildet, und wie er sie ersehnt, wenn diese Einbildung erschüttert wird: ein absolut festes, von uns unabhängiges und doch von uns erkanntes Dasein – eine solche Wirklichkeit gibt es nicht und kann es nicht geben, da sich der synthetische, schaffende Faktor unsrer Erkenntnis in der Tat bis in die ersten Sinneseindrücke und bis in die Elemente der Logik hinein erstreckt.598 Die Welt ist nicht nur Vorstellung, sondern auch unsre Vorstellung: ein Produkt der Organisation der Gattung in den allgemeinen und notwendigen Grundzügen aller Erfahrung, des Individuums in der frei mit dem Objekt schaltenden Synthese. Man kann also auch sagen, die »Wirklichkeit« sei die Erscheinung für die Gattung, der täuschende Schein dagegen sei eine Erscheinung für das Individuum, welche erst dadurch zum Irrtum wird, daß ihr »Wirklichkeit«, d.h. Dasein für die Gattung, zugeschrieben wird. Aber die Aufgabe, Harmonie in den Erscheinungen zu schaffen und das gegebene Mannigfaltige zur Einheit zu binden, kommt nicht nur den synthetischen Faktoren der Erfahrung zu, sondern auch denen der Spekulation. Hier jedoch läßt uns die bindende Organisation der Gattung im Stich; das Individuum dichtet nach seiner eignen Norm, und das Produkt dieser Dichtung gewinnt für die Gattung, beziehungsweise für die Nation und die Zeitgenossen, nur insofern Bedeutung, als das Individuum, welches sie erzeugt, reich und normal begabt und in seiner Denkweise typisch, durch seines Geisteskraft zum Führer berufen ist.

Die Begriffsdichtung der Spekulation ist jedoch noch keine völlig freie; sie strebt noch, wie die empirische Forschung, nach einheitlicher Darstellung des Gegebenen in seinem Zusammenhange, allein ihr fehlt der leitende Zwang der Prinzipien der Erfahrung. Erst in der Dichtung im engeren Sinne des Wortes, in der Poesie, wird der Boden der Wirklichkeit mit Bewußtsein aufgegeben. In der Spekulation hat die Form das Übergewicht über den Stoff; in der Poesie beherrscht sie ihn vollständig. Der Dichter erzeugt in freiem Spiel seines Geistes eine Welt nach seinem Belieben, um in dem leicht beweglichen Stoff um so strenger eine Form auszuprägen, welche ihren Wert und ihre Bedeutung unabhängig von den Aufgaben der Erkenntnis in sich trägt.

Von den niedersten Stufen der Synthesis, in welchen das Individuum noch ganz an die Grundlage der Gattung gebunden erscheint, bis hinauf zu ihrem schöpferischen Walten in der Poesie ist[982] das Wesen dieses Aktes stets gerichtet auf die Erzeugung der Einheit, der Harmonie, der vollkommnen Form. Das gleiche Prinzip, welches auf dem Gebiete des Schönen, in Kunst und Poesie schrankenlos herrscht, erscheint auf dem Gebiete des Handelns als die wahre ethische Norm, allen andern Prinzipien der Sittlichkeit zugrunde liegend, und auf dem Gebiete des Erkennens als der gestaltende, formbestimmende Faktor unsres Weltbildes.

Obwohl also schon das Weltbild, welches die Sinne uns geben, unwillkürlich nach dem uns innewohnenden Ideal geformt ist, so erscheint doch die ganze Welt der Wirklichkeit gegenüber den freien Schöpfungen der Kunst unharmonisch und voller Widerwärtigkeiten. Hier liegt der Ursprung alles Optimismus und Pessimismus. Ohne Vergleichung würden wir gar nicht fähig sein, uns ein Urteil über die Qualität der Welt zu bilden. Wenn wir aber von irgendeinem hervorragenden Punkte eine Landschaft betrachten, so ist unser ganzes Wesen darauf gestimmt, ihr Schönheit und Vollkommenheit beizulegen. Wir müssen die mächtige Einheit dieses Bildes erst durch Analyse zerstören, um uns zu erinnern, daß in jenen friedlich am Bergeshang ruhenden Hütten arme, geplagte Menschen wohnen, hinter jenem verhüllten Fensterlein vielleicht ein Kranker die schrecklichsten Leiden erduldet; daß unter den rauschenden Wipfeln des fernen Waldes Raubvögel ihre zuckende Beute zerfleischen; daß in den Silberwellen des Flusses tausend kleine Wesen, kaum zum Leben geboren, einen grausamen Tod finden. Für unsern überschauenden Blick sind die dürren Äste der Bäume, die verkümmerten Saatfelder, die von der Sonne verbrannten Wiesen nur Schattierungen in einem Bilde, welches unser Auge erfreut und unser Herz erhebt.

So erscheint die Welt dem optimistischen Philosophen. Er rühmt die Harmonie, welche er selbst in sie hineingetragen hat. Der Pessimist hat ihm gegenüber in tausend Fällen recht; und doch könnte es gar keinen Pessimismus geben, ohne das natürliche Idealbild der Welt, welches wir in uns tragen. Erst der Kontrast mit diesem macht die Wirklichkeit schlecht.

Je freier die Funktion der Synthesis waltet, desto ästhetischer wird das Weltbild, desto ethischer die Rückwirkung desselben auf unser Tun und Treiben in der Welt. Nicht nur die Poesie, auch die Spekulation hat schon, so sehr sie scheinbar auf bloße Erkenntnis gerichtet ist, wesentlich ästhetische, und durch die erziehende Kraft des Schönen auch ethische Absichten. In diesem Sinne könnte man[983] allerdings mit Strauß sagen, daß jede echte Philosophie notwendig optimistisch sei. Allein die Philosophie ist mehr als bloß dichtende Spekulation. Sie umfaßt auch die Logik, die Kritik, die Erkenntnistheorie.

Man kann jene Funktionen der Sinne und des verknüpfenden Verstandes, welche uns die Wirklichkeit erzeugen, im einzelnen niedrig nennen, gegenüber dem hohen Fluge des Geistes in der frei schaffenden Kunst. Im Ganzen aber und in ihrem Zusammenhange lassen sie sich keiner andern Geistestätigkeit unterordnen. So wenig unsre Wirklichkeit eine Wirklichkeit nach dem Wunsche unsres Herzens ist, so ist sie doch die feste Grundlage unsrer geistigen Existenz. Das Individuum wächst aus dem Boden der Gattung hervor, und das allgemeine und notwendige Erkennen bildet die einzig sichere Grundlage für die Erhebung des Individuums zu einer ästhetischen Auffassung der Welt. Wird jene Grundlage vernachlässigt, so kann auch die Spekulation nicht mehr typisch, nicht mehr bedeutungsvoll werden; sie verliert sich ins Phantastische, in subjektive Willkür und spielende Gehaltlosigkeit. Vor allem aber ist die möglichst unverfälschte Auffassung der Wirklichkeit die ganze Grundlage des täglichen Lebens, die notwendige Bedingung des menschlichen Verkehrs. Das Gemeinsame der Gattung in der Erkenntnis ist zugleich das Gesetz alles Gedankenaustausches. Es ist aber noch mehr als dies: es ist zugleich der einzige Weg zur Beherrschung der Natur und ihrer Kräfte.

So weit auch die umgestaltende Wirkung der psychischen Synthesis bis in unsre elementarsten Vorstellungen von Dingen, von einem Objekt herabreicht, so haben wir doch die Überzeugung, daß diesen Vorstellungen und der aus ihnen erwachsenden Welt etwas zugrunde liegt, das nicht aus uns selbst stammt. Diese Überzeugung stützt sich wesentlich darauf, daß wir zwischen den Dingen nicht nur einen Zusammenhang entdecken, der ja eben der Plan sein könnte, nach dem wir sie entworfen haben, sondern auch ein Zusammenwirken, welches unbekümmert um unser Denken seinen Weg geht, und welches uns selbst ergreift und seinen Gesetzen unterwirft. Dies Fremde, dies »Nichtich« wird freilich zum »Objekt« für unser Denken wieder nur dadurch, daß es in den allgemeinen und notwendigen Erkenntnisformen der Gattung von jedem einzelnen erfaßt wird; allein deshalb besteht es doch nicht bloß aus diesen Erkenntnisformen. Wir haben in den Naturgesetzen nicht nur Gesetze unsres Erkennens vor uns, sondern auch Zeugnisse [984] eines andern, einer Macht, die uns bald zwingt, bald sich von uns beherrschen läßt. Wir sind im Verkehr mit dieser Macht ausschließlich auf die Erfahrung und auf unsre Wirklichkeit angewiesen, und keine Spekulation hat je die Mittel gefunden, mit der Magie des bloßen Gedankens in die Welt der Dinge einzugreifen. Die Methode aber, welche sowohl zur Erkenntnis als auch zur Beherrschung der Natur leitet, verlangt nichts Geringeres, als eine beständige Zertrümmerung der synthetischen Formen, unter denen uns die Welt erscheint, zur Beseitigung alles Subjektiven. Dabei konnte allerdings die neue, den Tatsachen besser angepaßte Erkenntnis wiederum nur auf dem Wege der Synthese Form und Bestand gewinnen, allein die Forschung sah sich zu einfacheren und immer einfacheren Anschauungen gedrängt, bis sie zuletzt bei den Grundsätzen der mechanischen Weltanschauung Halt machen mußte.

Jede Verfälschung der Wirklichkeit greift die Grundlagen unsrer geistigen Existenz an. Gegenüber metaphysischen Erdichtungen, welche sich anmaßen, in das Wesen der Natur einzudringen und aus bloßen Begriffen zu bestimmen, was uns nur die Erfahrung lehren kann, ist daher der Materialismus als Gegengewicht eine wahre Wohltat. Auch müssen alle Philosopheme, welche die Tendenz haben, nur Wirkliches gelten zu lassen, notwendig nach dem Materialismus hin gravitieren. Dafür fehlen diesem die Beziehungen zu den höchsten Funktionen des freien Menschengeistes. Er ist, abgesehen von seiner theoretischen Unzulänglichkeit, arm an Anregungen, steril für Kunst und Wissenschaft, indifferent oder zum Egoismus neigend in den Beziehungen des Menschen zum Menschen. Kaum vermag er den Ring seines Systems zu schließen, ohne beim Idealismus eine Anleihe zu machen.

Wenn man betrachtet, wie Strauß sein Weltall ausrüstet, um es verehren zu können, so kommt man auf den Gedanken, daß er sich doch eigentlich vom Deismus noch nicht gar weit entfernt habe. Es scheint fast Geschmackssache, ob man das Maskulinum »Gott«, oder das Femininum »Natur«, oder das Neutrum »All« verehrt. Die Gefühle sind dieselben, und selbst die Vorstellungsweise des Gegenstandes dieser Gefühle unterscheidet sich nicht wesentlich. In der Theorie ist ja dieser Gott nicht mehr persönlich, und in der begeisterten Erhebung des Gemütes wird auch das All wie eine Person behandelt.

Dazu kann Naturwissenschaft nicht führen. Alle Naturwissenschaft[985] ist analytisch und weilt beim einzelnen. Die einzelne Entdeckung erfreut uns, die Methode zwingt uns Bewunderung ab, und von der stetigen Folge der Entdeckungen wird unser Blick vielleicht in eine unendliche Ferne immer vollkommnerer Einsicht geleitet. Doch verlassen wir damit schon den Boden der strengen Wissenschaft. Das Weltall, wie wir es bloß naturwissenschaftlich begreifen, kann uns so wenig begeistern, wie eine buchstabierte Ilias. Erfassen wir aber das Ganze als Einheit, so bringen wir in dem Akt der Synthesis unser eignes Wesen in das Objekt hinein, wie wir die Landschaft in der Anschauung harmonisch gestalten, so viel Disharmonie sie im einzelnen auch bergen mag. Alle Zusammenfassung folgt ästhetischen Prinzipien, und jeder Schritt zum Ganzen ist ein Schritt zum Ideal.

Der Pessimismus, welcher sich ebenfalls an das Ganze hält, ist ein Erzeugnis der Reflexion. Die tausend Widerwärtigkeiten des Lebens, die kalte Grausamkeit der Natur, die Schmerzen und Unvollkommenheiten aller Wesen werden in ihren einzelnen Zügen gesammelt, und die Summe dieser Beobachtungen wird dem Idealbild des Optimismus als eine furchtbare Anklage des Weltganzen gegenübergestellt. Ein geschlossenes Weltbild aber wird auf diesem Wege nicht erreicht. Es wird nur das Weltbild des Optimismus vernichtet, und darin liegt ein hohes Verdienst, wenn der Optimismus dogmatisch werden und sich als Vertreter der wahren Wirklichkeit ausgeben will. Alle jene schönen Gedanken von der vereinzelten Disharmonie, die in der Harmonie des großen Ganzen aufgeht, von der überschauenden, göttlichen Betrachtung der Welt, in welcher sich alle Rätsel losen und alle Schwierigkeiten verschwinden, werden vom Pessimismus mit Erfolg zerstört; allein diese Zerstörung trifft nur das Dogma, nicht das Ideal. Sie vermag nicht die Tatsache zu beseitigen, daß unser Geist dazu geschaffen ist, ein harmonisches Weltbild ewig neu in sich hervorzubringen; daß er hier wie überall das Ideal neben und über die Wirklichkeit stellt und sich von den Kämpfen und Nöten des Lebens erholt, indem er sich in Gedanken zu einer Welt aller Vollkommenheit erhebt. Diesem idealen Streben des Menschengeistes erwächst nun aber neue Kraft durch die Erkenntnis, daß auch unsre Wirklichkeit keine absolute Wirklichkeit ist, sondern Erscheinung: für den einzelnen zwingend und seine zufälligen Kombinationen berichtigend; für die Gattung ein notwendiges Produkt ihrer Anlage im Zusammenwirken mit unbekannten Faktoren. Diese unbekannten[986] Faktoren stellen wir uns vor als Dinge, welche unabhängig von uns bestehen, und denen also jene absolute Wirklichkeit zukäme, welche wir eben für unmöglich erklärten. Allein es bleibt bei der Unmöglichkeit; denn schon im Begriff des Dinges, das als eine Einheit aus dem unendlichen Zusammenhang des Seins herausgehoben wird, liegt jener subjektive Faktor, der als Bestandteil unsrer menschlichen Wirklichkeit ganz an seiner Stelle ist, jenseits derselben aber nur die Lücke für das absolute Unfaßbare, welches gleichwohl angenommen werden muß, nach Analogie unsrer Wirklichkeit ausfüllen hilft.

Kant hat das Suchen der Metaphysik nach den wahren Grundlagen alles Seins wegen der Unmöglichkeit einer sichern Lösung verworfen und die Aufgabe dieser Wissenschaft auf die Entdeckung aller a priori gegebenen Elemente der Erfahrung beschränkt. Es ist aber fraglich, ob nicht diese neue Aufgabe ebenfalls unlösbar sei, und es ist nicht minder fraglich, ob der Mensch nicht, kraft des von Kant selbst behaupteten Naturtriebes zur Metaphysik, immer wieder aufs neue versuchen werde, die Schranken des Erkennens zu durchbrechen und schimmernde Systeme einer vermeintlichen Erkenntnis des absoluten Wesens der Dinge in die leere Luft hinein zu bauen. Die Sophismen, durch welche dies möglich wird, sind ja unerschöpflich, und während die Sophismen die Position der Kritik schlau umgehen, bricht eine geniale Unwissenheit leicht mit noch viel glänzenderem Erfolg durch alle Schranken.

Eins ist sicher: daß der Mensch einer Ergänzung der Wirklichkeit durch eine von ihm selbst geschaffene Idealwelt bedarf, und daß die höchsten und edelsten Funktionen seines Geistes in solchen Schöpfungen zusammenwirken. Soll aber diese freie Tat des Geistes immer und immer wieder die Truggestalt einer beweisenden Wissenschaft annehmen? Dann wird auch der Materialismus immer wieder hervortreten und die kühneren Spekulationen zerstören, indem er dem Einheitstriebe der Vernunft mit einem Minimum von Erhebung über das Wirkliche und Beweisbare zu entsprechen sucht.

Wir dürfen, zumal in Deutschland, an einer andern Lösung der Aufgabe nicht verzweifeln, seit wir in den philosophischen Dichtungen Schillers eine Leistung vor uns haben, welche mit edelster Gedankenstrenge die höchste Erhebung über die Wirklichkeit verbindet und welche dem Ideal eine überwältigende Kraft verleiht, indem sie es offen und rückhaltlos in das Gebiet der Phantasie verlegt.[987] Damit soll nicht gesagt sein, daß alle Spekulationen auch die Form der Poesie annehmen müsse. Sind doch Schillers philosophische Dichtungen mehr als bloße Erzeugnisse des spekulativen Naturtriebes! Sie sind Ausströmungen einer wahrhaft religiösen Erhebung des Gemütes zu den reinen und ungetrübten Quellen alles dessen, was der Mensch je als göttlich und überirdisch verehrt hat. Mag sich immerhin die Metaphysik auch ferner noch an der Lösung ihrer unlösbaren Aufgabe versuchen! Je mehr sie theoretisch bleibt und mit Wissenschaften der Wirklichkeit an Sicherheit wetteifern will, desto weniger wird sie allgemeine Bedeutung zu gewinnen vermögen. Je mehr sie dagegen die Welt des Seienden mit der Welt der Werte in Verbindung bringt und durch ihre Auffassung der Erscheinungen selbst zu einer ethischen Wirkung emporstrebt, desto mehr wird sie auch die Form über den Stoff vorwalten lassen und ohne den Tatsachen Gewalt anzutun, in der Architektur ihrer Ideen dem Ewigen und Göttlichen einen Tempel der Verehrung errichten. Die freie Poesie aber mag den Boden des Wirklichen völlig verlassen und zum Mythus greifen, um dem Unaussprechlichen Worte zu verleihen.

Hier stehen wir denn auch vor einer vollkommen befriedigenden Lösung der Frage nach der näheren und ferneren Zukunft der Religion. Es gibt nur zwei Wege, welche hier auf die Dauer ernstlich in Frage kommen, nachdem sich gezeigt hat, daß bloße Aufklärung im Sande der Flachheit verläuft, ohne doch je von unhaltbaren Dogmen frei zu werden. Der eine Weg ist die völlige Aufhebung und Abschaffung aller Religion und die Übertragung ihrer Aufgaben auf den Staat, die Wissenschaft und die Kunst, der andre ist das Eingehen auf den Kern der Religion und die Überwindung alles Fanatismus und Aberglaubens durch die bewußte Erhebung über die Wirklichkeit und den definitiven Verzicht auf die Verfälschung des Wirklichen durch den Mythus, der ja nicht dem Zweck der Erkenntnis dienen kann.

Der erste dieser Wege führt die Gefahr geistiger Verarmung mit sich; der zweite hat mit der großen Frage zu schaffen, ob nicht gerade jetzt der Kern der Religion in einer Umwandlung begriffen sei, welche es schwer macht, ihn mit Sicherheit zu erfassen. Aber das zweite Bedenken ist das geringere, weil gerade das Prinzip der Vergeistigung der Religion jeden durch die Kulturbedürfnisse der fortschreitenden Zeit bedingten Übergang erleichtern und friedlicher gestalten muß.[988]

Dazu kommt noch das Bedenken, ob Abschaffung aller Religion, so erwünscht sie manchem wohlmeinenden und denkenden Manne erscheinen mag, überhaupt auch nur möglich sei. Kein Vernünftiger wird dabei an einen plötzlichen oder gar gewaltsamen Schritt denken. Vielmehr wird man in diesem Prinzip zunächst eine Maxime für das Verhalten der höher Gebildeten erblicken, etwa im Sinne von Strauß, dessen Überrest von Religion hier wenig in Frage kommt. Sodann aber wird man den Staat und die Schule zu benutzen suchen, um der Religion im Volksleben allmählich den Boden zu entziehen und das Verschwinden derselben systematisch vorzubereiten. Ein solches Verfahren vorausgesetzt, würde es sehr in Frage kommen, ob nicht dadurch trotz aller schulmäßigen Aufklärung eine Reaktion im Volke zugunsten einer recht fanatischen und engherzigen Auffassung der Religion entstehen müßte, oder ob nicht aus der zurückgebliebenen Wurzel immer neue, vielleicht wilde aber lebenskräftige Sprossen hervortreiben würden. Der Mensch sucht die Wahrheit des Wirklichen und liebt die Erweiterung seiner Kenntnisse, solange er sich frei fühlt. Man feßle ihn an das, was mit den Sinnen und dem Verstande zu erreichen ist, und er wird sich empören und der Freiheit seiner Phantasie und seines Gemütes vielleicht in roheren Formen Ausdruck geben, als diejenigen waren, welche man glücklich zerstört hat.

Solange man den Kern der Religion suchte in gewissen Lehren über Gott, die menschliche Seele, die Schöpfung und ihre Ordnung, konnte es nicht fehlen, daß jede Kritik, welche damit begann, nach logischen Grundsätzen die Spreu vom Weizen zu sondern, zuletzt zur vollständigen Negation werden mußte. Man sichtete, bis nichts mehr übrigblieb.

Erblickt man dagegen den Kern der Religion in der Erhebung der Gemüter über das Wirkliche und in der Erschaffung einer Heimat der Geister, so können die geläutertsten Formen noch wesentlich dieselben psychischen Prozesse hervorrufen wie der Köhlerglaube der ungebildeten Menge, und man wird mit aller philosophischen Verfeinerung der Ideen niemals auf Null kommen. Ein unerreichtes Muster dafür ist die Art, wie Schiller in seinem »Reich der Schatten« die christliche Erlösungslehre zu der Idee einer ästhetischen Erlösung verallgemeinert hat. Die Erhebung des Geistes im Glauben wird hier zur Flucht in das Gedankenland der Schönheit, in welchem alle Arbeit ihre Ruhe, jeder Kampf und jede Not ihren Frieden und ihre Versöhnung finden. Das Herz aber, welches erschreckt[989] ist durch die furchtbare Macht des Gesetzes, vor dem kein Sterblicher bestehen kann, öffnet sich dem göttlichen Willen, den es als das wahre Wesen seines eigenen Willens anerkennt und findet sich dadurch mit der Gottheit versöhnt. Sind diese Augenblicke der Erhebung aber auch vorübergehend, so wirken sie doch befreiend und läuternd auf das Gemüt, und in der Ferne winkt die Vollendung, die uns niemand mehr entreißen kann, dargestellt unter dem Bilde der Himmelfahrt des Herakles. – Dies Gedicht ist ein Produkt einer Zeit und einer Bildungssphäre, welche gewiß nicht geneigt waren, dem spezifisch Christlichen zu viel einzuräumen: der Dichter der »Götter Griechenlands« verleugnet sich nicht, es ist in gewissem Sinne hier alles heidnisch: und dennoch steht Schiller hier dem traditionellen Glaubensleben des Christentums näher als die aufgeklärte Dogmatik, welche den Gottesbegriff willkürlich festhält und die Erlösungslehre als irrationell fahren läßt.

Man gewöhne sich also, dem Prinzip der schaffenden Idee an sich und ohne Übereinstimmung mit der historischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis, aber auch ohne Verfälschung derselben einen höheren Wert beizulegen als bisher; man gewöhne sich, die Welt der Ideen als bildliche Stellvertretung der vollen Wahrheit für gleich unentbehrlich zu jedem menschlichen Fortschritt zu betrachten, wie die Erkenntnisse des Verstandes, indem man die größere oder geringere Bedeutung jeder Idee auf ethische und ästhetische Grundlagen zurückführt. Es wird freilich manchem Alt- oder Neugläubigen bei dieser Zumutung vorkommen, als wollte man ihm den Boden unter den Füßen wegziehen und dabei verlangen, daß er stehen bleiben solle, als wenn nichts passiert wäre; allein es fragt sich eben, was der Boden der Ideen ist: ob ihre Einordnung in das Ganze der Ideenwelt nach ethischen Rücksichten oder das Verhältnis der Vorstellungen, in denen die Idee sich ausprägt, zur erfahrungsmäßigen Wirklichkeit. Als die Umdrehung der Erde bewiesen wurde, glaubte jeder Philister fallen zu müssen, wenn diese gefährliche Lehre nicht widerlegt würde; ungefähr wie jetzt mancher fürchtet, ein Holzklotz zu werden, wenn Vogt ihm beweisen kann, daß er keine Seele hat. – Ist die Religion etwas wert und steckt ihr bleibender Wert im ethischen und nicht im logischen Inhalt, so wird dies auch wohl früher so gewesen sein, wie sehr man auch den buchstäblichen Glauben für unentbehrlich halten mochte.

Wenn dieser Sachverhalt nicht klar im Bewußtsein der Weisen und[990] wenigstens in Ahnungen auch im Bewußtsein des Volkes gelegen hätte, wie hätten sonst in Griechenland und Rom der Dichter, der Bildhauer es wagen dürfen, den Mythus lebendig fortzugestalten, dem Ideal der Gottheit neue Formen zu geben? Selbst der anscheinend so starre Katholizismus handhabte das Dogma im Grunde nur wie eine gewaltige Klammer, um den einheitlichen Riesenbau der Kirche in seinen Fugen zu halten, während der Dichter in der Legende, der Philosoph in den tiefsinnigen und kühnen Spekulationen der Scholastik über den Stoff der Religion verfügte. Niemals wohl, nie, solange die Welt steht, ist eine religiöse Lehrmeinung von Leuten, die sich über den Standpunkt des rohesten Aberglaubens erheben konnten, in derselben Weise für wahr gehalten worden wie eine sinnliche Erkenntnis, ein Ergebnis der Rechnung oder des einfachen Verstandesschlusses; wenn auch nie vielleicht, bis auf die neueren Zeiten hin, völlige Klarheit über das Verhältnis jener »ewigen Wahrheiten« zu den unabänderlichen Funktionen der Sinne und des Verstandes geherrscht hat. Man kann stets bei den orthodoxesten Eiferern in ihren Reden und Schriften den Punkt entdecken, wo sie offenkundig in das Symbol übergehen und mit denselben Ausdrücken, mit demselben Nachdruck die plastische Veranschaulichung einer subjektiven Fortbildung des religiösen Gedankens wiedergeben, mit welchen sie die verhältnismäßig objektiven, von einer großen Gemeinschaft angenommenen und für den einzelnen unantastbaren Lehren so sinnlich und greifbar zu schildern wissen. Wenn jene Wahrheiten der allgemeinen Kirchenlehre als »höhere« gepriesen werden, neben denen jede andre Erkenntnis, selbst die des Einmaleins, zurückstehen muß, so ist immer wenigstens eine Ahnung davon vorhanden, daß diese Überordnung nicht auf größerer Sicherheit, sondern auf einer größeren Wertschätzung beruht, gegen die ein für allemal weder mit der Logik noch mit der tastenden Hand und dem sehenden Auge etwas auszurichten ist, weil für sie die Idee als Form und Wesen der Gemütsverfassung ein mächtigeres Objekt der Sehnsucht sein kann als der wirklichste Stoff. Selbst aber wo mit ausdrücklichen Worten die größere Sicherheit, die höhere Gewißheit und Zuverlässigkeit der religiösen Wahrheiten angepriesen wird, da sind dies nur umschreibende Ausdrücke oder Verwechslungen eines exaltierten Gemüts für den stärkeren Zug des Herzens zu dem lebendigen Quell der Erbauung, der Stärkung, der Belebung, der aus der göttlichen Ideenwelt herabfließt, gegenüber der nüchternen Erkenntnis,[991] die den Verstand mit kleiner Münze bereichert, für welche man eben keine Verwendung hat. Auf dem Gipfel dieser Gemütsstimmung erhebt sich ein Luther, der doch selbst das Gebäude eines Jahrtausends mit dem Widerspruch seiner Überzeugung zerschmetterte, bis zum Fluch gegen die Vernunft, die sich demjenigen widersetzt, was er nun einmal mit aller Gewalt seines glühenden Geistes als die Idee eines neuen Zeitalters erfaßt hat. Daher auch der Wert, den wahrhaft fromme Gemüter stets auf das innere Erfahren und Erleben als Beweis des Glaubens gelegt haben. Viele dieser Gläubigen, die ihren Seelenfrieden einem inbrünstigen Ringen im Gebet verdanken und mit Christus als mit einer Person geistigen Umgang pflegen, wissen theoretisch recht gut, daß dieselben Gemütsprozesse auch bei völlig andern Glaubenslehren, ja unter den Anhängern gänzlich fremder Religionen sich mit demselben Erfolg und mit derselben Bewährung wiederfinden. Der Gegensatz gegen diese und die Zweideutigkeit eines Beweismittels welches widersprechende Vorstellungen gleich gut unterstützt, kommen ihnen in der Regel nicht zum Bewußtsein, da es vielmehr der gemeinsame Gegensatz jedes Glaubens gegen den Unglauben ist, der ihr Gemüt bewegt. Wird da nicht deutlich, daß das Wesen der Sache in der Form des geistigen Prozesses liegt und nicht im logisch-historischen Inhalt der einzelnen Anschauungen und Lehren? Diese mögen wohl mit der Form des Prozesses zusammenhängen wie in der Körperwelt Stoffmischung und Kristallform, aber wer weist uns diesen Zusammenhang nach und was wird es hier erst für Erscheinungen des Isomorphismus geben?

Dieses Vorwalten der Form im Glauben verrät sich auch in dem merkwürdigen Zuge, daß die Gläubigen verschiedner ja einander feindlicher Konfessionen mehr miteinander übereinstimmen, mehr Sympathie mit ihren eifrigsten Gegnern verraten als mit denjenigen, die sich für die religiösen Streitfragen gleichgültig zeigen. Die eingentümlichste Erscheinung des religiösen Formalismus liegt aber in der Religionsphilosophie, wie sie sich namentlich seit Kant in Deutschland gestaltet hat. Diese Philosophie ist eine förmliche Übersetzung religiöser Lehren in metaphysische. Ein Mann, der vom Köhlerglauben in Beziehung auf unhistorische Überlieferungen und naturhistorische Unmöglichkeiten so weit entfernt war, wie es nur immer die Materialisten sein konnten, Schleiermacher, brachte durch seiner Hervorhebung des ethischen und idealen Gehaltes der Religion einen förmlichen Strom kirchlicher Erneuerung[992] hervor. Der gewaltige Fichte verkündete das Morgenrot einer neuen Weltepoche durch die Ausgießung des heiligen Geistes über alles Fleisch. Der Geist, von dem im Neuen Testamente geweissagt wird, daß derselbe die Jünger Christi in alle Wahrheit leiten soll: es ist kein anderer als der Geist der Wissenschaft, der sich in unsern Tagen offenbart hat. Er lehrt uns in unverhüllter Erkenntnis die absolute Einheit des menschlichen Daseins mit dem göttlichen, die von Christus zuerst der Welt im Gleichnis verkündigt wurde. Die Offenbarung des Reiches Gottes ist das Wesen des Christentums, und dies Reich ist das Reich der Freiheit, die durch Versenkung des eignen Willens in den Willen Gottes – Sterben und Auferstehen – gewonnen wird. Alle Lehren von der Auferstehung der Toten im physichen Sinne sind nur Mißverständnisse der Lehre vom Himmelreich, welches in Wahrheit das Prinzip einer neuen Weltverfassung ist. Es war Fichte vollkommener Ernst mit der Forderung einer Umschaffung des Menschengeschlechtes durch das Prinzip der Menschheit selbst in ihrer idealen Vollendung gegenüber dem Verlorensein der einzelnen in den Eigenwillen. So ist der radikalste Philosoph Deutschlands zugleich der Mann, dessen Sinnen und Denken den tiefsten Gegensatz bildet gegen die Interessenmaxime der Volkswirtschaft und gegen die gesamte Dogmatik des Egoismus. Es ist daher nicht umsonst, daß Fichte der erste war, der in Deutschland die soziale Frage in Anregung brachte, die ja nimmer existieren würde, wenn die Interessen der alleinige Hebel menschlicher Handlungen wären, wenn die in der Abstraktion ganz richtigen Regeln der Volkswirtschaft als einseitig waltende Naturgesetze ewig und unabänderlich das Getriebe menschlicher Arbeiten und Kämpfe leiteten, ohne daß je die höhere Idee zum Durchbruch käme, für welche die Edelsten der Menschheit seit Jahrtausenden gelitten und gerungen haben.

»Nein, verlaß uns nicht, heiliges Palladium der Menschheit, tröstender Gedanke, daß aus jeder unsrer Arbeiten und jedem unsrer Leiden unserm Brudergeschlechte eine neue Vollkommenheit und eine neue Wonne entspringt, daß wir für sie arbeiten und nicht vergebens arbeiten; daß an der Stelle, wo wir jetzt uns abmühen und zertreten werden, und – was schlimmer ist als das – gröblich irren und fehlen, einst ein Geschlecht blühen wird, welches immer darf, was es will, weil es nichts will als Gutes; – indes wir in höheren Regionen uns unsrer Nachkommenschaft freuen und unter ihren Tugenden jeden Keim ausgewachsen wiederfinden, den wir in sie legten,[993] und ihn für den unsrigen erkennen. Begeistre uns, Aussicht auf diese Zeit, zum Gefühl unsrer Würde und zeige uns dieselbe wenigstens in unsern Anlagen, wenn auch unser gegenwärtiger Zustand ihr widerspricht. Geuß Kühnheit und hohen Enthusiasmus auf unsre Unternehmungen, und würden wir darüber zerknirscht, so erquicke – indes der erste Gedanke: ich tat meine Pflicht, uns erhält – erquicke uns der zweite Gedanke: kein Samenkorn, das ich streute, geht in der sittlichen Welt verloren; ich werde am Tage der Garben die Früchte desselben erblicken und mir von ihnen unsterbliche Kränze winden.«599

Die poetische Erhebung, in welcher Fichte diese Worte niederschrieb, erfaßte ihn nicht bei Gelegenheit einer verschwommenen religiösen Betrachtung, sondern im Hinblick auf Kant und – die französische Revolution. So eng war bei ihm Leben und Lehre verschmolzen, und während das Wort des Lebens von den Mietlingen der Kirche zum Dienst des Todes, der Unwissenheit, des Fürsten dieser Welt verkehrt wurde, erhob sich in ihm der Geist des Durchbrechers aller Bande und bekannte laut, daß der Umsturz des Bestehenden in Frankreich doch wenigstens etwas Besseres hervorgebracht habe als die despotischen Verfassungen, die auf die Herabwürdigung der Menschheit ausgehen.

Es ist merkwürdig, wie sich bei näherer Betrachtung die Ansichten und Bestrebungen der Menschen so oft ganz anders gruppieren, als gemeinhin erscheinen will. Es ist ein trivialer Satz, daß die Extreme sich berühren; aber dieser Satz trifft bei weitem nicht immer zu. Niemals, nie wird der entschlossene Freidenker eine Sympathie empfinden können mit dem starren Kirchenregiment und dem toten Buchstabenglauben; wohl aber mit der prophetenhaften Erhebung eines Frommen, in dem das Wort Fleisch geworden ist, und der Zeugnis ablegt von dem Geist, der ihn ergriffen hat. Niemals wird der aufgeklärte Dogmatiker des Egoismus Sympathie empfinden mit den Stillen im Lande, die im ärmlichen Kämmerlein auf ihren Knien ein Reich suchen, das nicht von dieser Welt ist, wohl aber mit dem reichen Pastor, der den Glauben tapfer zu schirmen, seine Würde wohl zu behaupten und seine Güter klug zu bewirtschaften weiß, und der mit ihm in Champagner anstößt, wenn er ihm bei einer vornehmen Kindtaufe oder bei der festlichen Einweihung einer neuen Eisenbahnlinie gegenübersitzt.

Weil es die Form des geistigen Lebens ist, die über das innerste Wesen des Menschen entscheidet, so ist auch gerade das Verhalten zu[994] Andersdenkenden ein rechter Prüfstein der Geister, ob sie aus der Wahrheit sind oder nicht. Es muß ein schlechter Jünger Christi im eigensten Sinne der Frommen sein, der sich nicht denken kann, daß der Herr, wenn er in den Wolken erscheint, zu richten die Lebendigen und die Toten, einen Atheisten wie Fichte zu seiner Rechten stellt, während Tausende zur Linken gehen, die mit den Rechtgläubigen »Herr, Herr!« sagen. Es muß ein schlechter Freund der Wahrheit und Gerechtigkeit sein, wer einen A. H. Franke als Schwärmer verachtet oder das Gebet eines Luther als eitle Selbsttäuschung ansieht. In der Tat, soweit die Religion im innersten Grunde einen Gegensatz bildet gegen den ethischen Materialismus, wird sie stets unter den erleuchtetsten und freiesten Geistern Freunde behalten, und es fragt sich nur, ob nicht in ihr selbst das Prinzip des ethischen Materialismus, die »Verweltlichung«, wie die Theologen es nennen, so sehr die Überhand gewinnt, daß das bessere Bewußtsein sich von allen ihren bisherigen Formen losreißen und neue Bahnen aufsuchen muß. In diesem Punkte, in dem Verhältnis der bestehenden Religionen zu der gesamten Kulturaufgabe des Zeitalters, liegt das wahre Geheimnis ihrer Wandlungen und ihres Beharrens, und alle Angriffe des kritischen Verstandes, wie berechtigt und unwiderstehlich sie auch sein mögen, sind doch nicht sowohl die Ursache, als vielmehr nur Symptome ihres Verfalls oder einer großen Gärung in dem gesamten Kulturleben ihrer Bekenner. Deshalb hat auch die konservative Wendung, welche die Religionsphilosophie mit Hegel nahm – bei übrigens ganz ähnlichen Umdeutungen, wie diejenigen Fichtes, – sowohl für die Kirche wie für die Philosophie keine bleibenden Früchte getragen. Es will sich nicht mehr fügen, daß das Wissen um die unverhüllte Wahrheit allein den Philosophen vorbehalten und die Masse wieder in das feierliche Halbdunkel des alten Symbols zurückgedrängt werde. Wie in der Politik die Lehre von der Vernünftigkeit des Wirklichen in unheilvoller Weise dem Absolutismus Vorschub geleistet hat, so trug die Philosophie vorzüglich durch Schleiermacher und Hegel dazu bei, einer Richtung Vorschub zu leisten, welche, verlassen von der naiven Unschuld der alten Mystik, die Religion durch eine Negation der Negation zu retten suchte. Was die Dogmen der Religionen in den Zeiten, wo die Dome emporwuchsen oder wo die gewaltigen Melodien des Kultus entstanden, gegen den Zahn der Kritik beschützte, das war nicht die Antikritik kluger Apologeten, sondern der ehrfurchtsvolle Schauder, mit welchem[995] das Gemüt die Mysterien hinnahm, und die heilige Scheu, mit welcher der Gläubige es vermied, in seinem eignen Innern die Grenze zu berühren, wo Wahrheit und Dichtung sich scheiden. Diese heilige Scheu ist nicht die Folge der Fehlschlüsse, welche zur Annahme des Übersinnlichen führen, sondern eher ihre Ursache, und vielleicht greift dies Verhältnis von Ursache und Wirkung bis in die ältesten Zeiten unentwickelter Kultur und unentwickelter Religionen zurück. Nahm doch selbst Epikur neben der Furcht auch die erhabnen Traumgebilde von Göttergestalten auf unter die Quellen der Religion!

Was wird aus den »Wahrheiten« der Religion, wenn alle Pietät geschwunden ist und wenn eine Generation aufkommt, welche die tiefen Gemütserschütterungen des religiösen Lebens nie gekannt oder sich mit verändertem Sinn von ihnen abgewandt hat? Jeder dumme Junge triumphiert über ihre Mysterien und sieht mit selbstgefälliger Verachtung auf diejenigen herab, welche noch so einfältiges Zeug glauben können. Solange die Religion in voller Kraft steht, werden nicht immer die paradoxesten Sätze zuerst angezweifelt. Theologische Kritiker bemühen sich mit dem Aufwande des größten Scharfsinns und der ausgedehntesten Gelehrsamkeit, die Überlieferung in irgendeinem, vom Kern des Glaubens noch weit entlegenen, Punkte zu berichtigen. Naturkundige finden sich veranlaßt, irgendeine vereinzelte Wundergeschichte auf einen physikalisch erklärbaren Vorgang zurückzuführen. Auf solchen Punkten wird weiter gebohrt, und wenn im Angriff und in der Verteidigung alle Künste erschöpft sind, so ist in der Regel auch der Nimbus der Ehrwürdigkeit und Unverletzlichkeit der religiösen Überlieferung dahin. Jetzt erst kommt man an die viel einfacheren Fragen: wie Gottes Allmacht und Güte mit dem Übel in der Welt vereinbar sei; warum die Religionen andrer Völker nicht ebensogut seien; warum nicht heute noch Wunder, und zwar recht handgreifliche; wie Gott zornig werden könne; warum die Diener Gottes so boshaft und rachsüchtig sind, usw. – Hat endlich auch die kirchliche Tradition den besondern Kredit verloren, welchen sie beansprucht und sieht man die Bibel mit denselben Augen an wie irgendein andres Buch, so läßt sich kaum ein so niedriger Grad des Verstandes denken, der nicht vollkommen ausreichend wäre, um einzusehen, daß drei nicht eins sein kann, daß eine Jungfrau kein Kind gebären und daß ein Mensch nichtlebendigen Leibes in den blauen Himmel hinauffahren kann. Kommen dann gar einige[996] naturwissenschaftliche Kenntnisse hinzu, wie sie jetzt durch jede Volksschule laufen, so ist des Unsinns kein Ende, über den sich ein Spötter lustig machen kann, ohne nur im geringsten über hervorragende Verstandeskräfte oder gründliche Bildung zu verfügen. Wenn nun daneben Männer von scharfem Verstand und gediegener Bildung noch an der Religion festhalten, weil sie von Kindheit auf ein reiches Gemütsleben geführt haben und mit tausend Wurzeln der Phantasie, des Herzens, der Erinnerung an geweihte, schöne Stunden sich an den alten, vertrauten Boden anklammern, so haben wir da einen Kontrast vor uns, der uns deutlich genug zeigt, wo die Quellen sind, aus denen sich der Strom des religiösen Lebens ergießt.

Solange freilich die Religion in geschlossenen Kirchengemeinschaften von Priestern gepflegt wird, die sich als bevorzugte Spender göttlicher Mysterien dem Volke gegenüberstellen, solange wird der Standpunkt des Ideals in der Religion niemals rein hervortreten können. Ohnehin heftet der Ideologie gar zu leicht das Gift des Buchstabenglaubens sich an. Das Symbol wird unwillkürlich und allmählich zum starren Dogma, wie das Heiligenbild zum Götzen, und der natürliche Widerstreit zwischen Poesie und Verstand artet auf religiösem Gebiete leicht in Abneigung aus gegen das schlechthin Richtige, Nützliche und Zweckmäßige, welches in unsrer Zeit den Raum für den Flügelschlag einer freien Seele von allen Seiten zu beengen scheint. Bekannt ist das Unheil, welches der Übergang aus burschenschaftlicher Ideologie in romantische Quertreiberei und endlich in verbosten Pessimismus in manchem edel angelegten Geiste angerichtet hat. Niemand kann es den Freunden der Wahrheit und des Fortschrittes übelnehmen, wenn sie Mißtrauen hegen gegen alles, was sich dem herrschenden Zug der Zeit zur Prosa widersetzen will, zumal wenn eine kirchliche Färbung dabei ist. Denn wenn in der Zeit der Befreiungskriege die Romantik ihren höheren Zweck zu erfüllen schien, so ist es dagegen offenbar, daß die Richtung der Zeit auf Erfindungen, Entdeckungen, politische und soziale Verbesserungen jetzt ungeheure, vielleicht für die Zukunft der ganzen Menschheit entscheidende Aufgaben zu lösen hat, und es ist nicht zu bezweifeln, daß die ganze Nüchternheit ernster Arbeit, der volle, unverfälschte Wahrheitssinn eines kritischen Gewissens dazu gehören, um diese Aufgaben würdig und erfolgreich zu bearbeiten. Wenn dann der Tag der Ernte kommt, so wird auch wohl der Blitz des Genius wieder[997] dasein, der aus den Atomen ein Ganzes schafft, ohne zu wissen, wie er dazu gekommen.

Inzwischen haben sich die alten Formen der Religion noch keineswegs überlebt, und es wird schwerlich dahin kommen, daß es mit ihrem idealen Gehalt jemals völlig vorbei ist, wie mit einer ausgepreßten Zitrone, bevor neue Formen des ethischen Idealismus auftreten. So einfach und unverworren geht es im Wechsel irdischer Meinungen und Bestrebungen nicht zu. Der Kultus Apollos und Jupiters war noch nicht ganz bedeutungslos geworden, als das Christentum hereinbrach und der Katholizismus barg noch einen reichen Schatz von Geist und Leben in seinem Innern, als Luther losschlug. So könnte auch heute wieder eine neue Religionsgemeinschaft durch die Gewalt der Ideen und den Zauber ihrer genossenschaftlichen Grundsätze eine Welt im Sturm erobern, während noch mancher Stamm der alten Pflanzung in voller Lebenskraft dasteht und seine Früchte bringt; die bloße Negation aber prallt ab, wo das Gebiet des Überlebten und Abgestorbenen aufhört, welches ihr verfallen ist. – Ob auch aus den alten Bekenntnissen ein solcher Strom neuen Lebens hervorgehen könnte, oder ob umgekehrt eine religionslose Genossenschaft ein Feuer von so verzehrender Gewalt entzünden könnte, wissen wir nicht; eins aber ist sicher: wenn ein Neues werden und das Alte vergehen soll, müssen sich zwei große Dinge vereinigen: eine weltentflammende ethische Idee und eine soziale Leistung welche mächtig genug ist, die niedergedrückten Massen um eine große Stufe emporzuheben. Mit dem nüchternen Verstande, mit künstlichen Systemen wird dies nicht geschaffen. Den Sieg über den zersplitternden Egoismus und die ertötende Kälte der Herzen wird nur ein großes Ideal erringen, welches wie ein »Fremdling aus der andern Welt« unter die staunenden Völker tritt und mit der Forderung des Unmöglichen die Wirklichkeit aus ihren Angeln reißt.

Solange dieser Sieg nicht errungen ist, solange keine neue Lebensgemeinschaft den Armen und Elenden fühlen läßt, daß er Mensch unter Menschen ist, sollte man nicht so eilfertig damit sein, den Glauben zu bekämpfen, damit nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Man verbreite die Wissenschaft, man rufe die Wahrheit auf allen Gassen und in allen Sprachen und lasse daraus werden, was daraus wird; den Kampf der Befreiung aber, den absichtlichen und unversöhnlichen Kampf richte man gegen die Punkte, wo die Bedrohung der Freiheit, die Hemmung der Wahrheit und[998] Gerechtigkeit ihre Wurzel hat: gegen die weltlichen und bürgerlichen Einrichtungen, durch welche die Kirchengesellschaften einen depravierenden Einfluß erlangen, und gegen die unterjochende Gewalt einer perfiden, die Freiheit der Völker systematisch untergrabenden Hierarchie. Werden diese Einrichtungen beseitigt, wird der Terrorismus der Hierarchie gebrochen, so können die extremsten Meinungen sich nebeneinander bewegen, ohne daß fanatische Übergriffe entstehen, und ohne daß der stetige Fortschritt der Einsicht gehemmt wird. Es ist wahr, daß dieser Fortschritt die abergläubische Furcht zerstören wird, eine Zerstörung, die großenteils schon, selbst unter den untersten Schichten des Volkes, vollzogen ist. Fällt die Religion mit dieser abergläubischen Furcht dahin, so mag sie fallen; fällt sie nicht, so hat ihr idealer Inhalt sich bewährt, und er mag dann auch ferner in dieser Form bewahrt bleiben, bis die Zeit ein Neues schafft. Es ist dann nicht einmal sehr zu beklagen, wenn der Inhalt der Religion von den meisten Gläubigen, ja selbst von einem Teil der Geistlichen noch als buchstäblich wahr betrachtet wird; denn jener völlig tote und inhaltsleere Buchstabenglaube, der immer verderblich wirkt, ist kaum noch möglich, wo jeder Zwang hinwegfällt.

Wenn der Geistliche infolge der bei ihm herrschenden Ideenassoziationen das ideale Lebenselement, welches er vertritt, nicht anders vertreten kann, als indem er es sich zugleich mit gemeiner Wirklichkeit begabt denkt und alles historisch nimmt, was nur symbolisch gelten soll: so ist ihm dies, vorausgesetzt, daß er in ersterer Beziehung seine Schuldigkeit tut, ganz unbefangen einzuräumen. Wenn der Hierarchie jede weltliche Macht, selbst die Basis der bürgerlichen Korporationsrechte nicht ausgenommen, ganz und gar entzogen, und wenn die Bildung eines Staates im Staate in jeder Form bekämpft wird, so ist die gefährlichste Waffe geistlicher Herrschaft zerbrochen. Daneben sollte nicht nur unbedingte Lehrfreiheit für die strenge Wissenschaft wie für ihre populären Darstellungen gewährt werden, sondern auch ein freier Spielraum für die öffentliche Kritik aller zutage tretenden Schäden und Mißbräuche. Daß der Staat auch das Recht und die Pflicht hat, soweit er noch mit seinen Mitteln und seiner Macht die bestehenden Religionsgenossenschaften unterstützt, von ihren Geistlichen ein gewisses Maß wissenschaftlicher Bildung zu verlangen, versteht sich von selbst, und man wird sich wohl hüten müssen, aus den bestehenden Zuständen heraus, unter Vernachlässigung dieser Pflichten,[999] in das Labyrinth einer vermeintlichen Trennung von Staat und Kirche sich zu verlieren. Einen klaren und guten Sinn gibt nur die Trennung des Staates und des Glaubens. Jede kirchliche Organisation einer Glaubensgenossenschaft ist schon ein Staat im Staate und vermag in jedem Augenblick mit Leichtigkeit auf das bürgerliche Gebiet überzugreifen. Unter Umständen kann eine solche Macht kulturhistorisch berechtigt sein und geradezu bestimmt, ein morsches und überlebtes Staatswesen zu zersprengen; in der Regel aber und namentlich in unsrer gegenwärtigen Weltperiode, welche mehr und mehr dem Staate die Kulturaufgaben zuweist, die man ehemals der Kirche überließ, wird die politische Organisation der letzteren für den Staat schlechthin ein Gegenstand des Mißtrauens und der ernstlichen Sorge sein müssen. Nur mit Auflösung der politischen Kirche ist eine unbedingte Glaubensfreiheit möglich. Gleichwohl kann es nicht die Aufgabe des Staates sein, solange die Kirche neben ihren herrschsüchtigen Bestrebungen auch noch den ethischen Idealismus unter dem Volke vertritt, auf die Auflösung ihrer Dogmatik hinzuarbeiten. Fichte freilich verlangte, daß der geistliche Volkslehrer, dem die Vermittlung zwischen dem Volke und den wissenschaftlich Gebildeten zufällt, schlechthin in der Schule des Philosophen sein Religionssystem bilden solle. Die Theologie wollte er, falls sie ihren »Anspruch auf ein Geheimnis« nicht feierlich aufgebe, von den Universitäten ganz verbannen; falls sie aber ihn aufgebe, so müsse der praktische Teil derselben vom wissenschaftlichen getrennt werden und der letztere ganz in dem allgemeinen wissenschaftlichen Unterricht aufgehen.600 Diese innerlich wohlbegründete Forderung ist gegenwärtig noch weniger ausführbar als zu der Zeit, da Fichte sie aufstellte. Die Aufgabe der Vermittlung zwischen dem Volk und den höher Gebildeten ist, selbst wenn sie mit allem Ernst in Angriff genommen wird, nur unter Beobachtung ihrer psychologischen Bedingungen, und das will sagen: nur in längeren Zeiträumen und stufenweise zu lösen. Aber auch die Übertragung einer hinlänglich tiefen philosophischen Bildung auf die Geistlichkeit läßt sich nicht durch bloße Organisation der Studien bewerkstelligen. Inzwischen darf die Pflege des Idealen im Volke nicht unterbrochen werden. Zu wünschen ist freilich, daß jeder Geistliche wenigstens über die Grenzen der Gültigkeit alles Idealen aufgeklärt sei; wenn dies aber wegen Enge des Geistes und Mangel geeigneter Bildungsmittel nicht geschehen kann, ohne daß die Kraft beschädigt wird, welche dazu berufen ist, die Idee zu[1000] verbreiten: dann ist es im ganzen besser, einstweilen die Aufklärung zu opfern als die Kraft.

Vollkommen analog verhält es sich auf der andern Seite mit dem materialistischen Naturforscher. Ohne Zweifel ist der Erfolg seiner segensreichen und aufopferungsvollen Forschungen wesentlich bedingt durch seine Hingabe an den gewählten Zweig menschlicher Tätigkeit. Es unterliegt nicht dem mindesten Zweifel, daß nur methodisch strenge Empirie ihn zum Ziele führt, daß scharfe und vorurteilsfreie Betrachtung der Sinnenwelt und rücksichtslose Konsequenz der Schlußfolgerungen ihm unentbehrlich sind; endlich, daß materialistische Hypothesen ihm stets die größte Aussicht auf neue Entdeckungen eröffnen. Ist sein Geist tief und umfassend genug, um mit einer so geregelten Tätigkeit die Anerkennung des Idealen zu verbinden, ohne daß dadurch Verwirrung, Unklarheit oder sterile Zaghaftigkeit in den Bereich seiner Forschungen eindringen, so genügt er dann sicherlich höheren Ansprüchen an echte, volle Menschlichkeit. Läßt sich dies aber nicht hoffen, so ist es in den meisten Fällen weit besser, in diesen Fächern krasse Materialisten zu haben als Phantasten und verworrene Schwachköpfe. So viel Ideales als unumgänglich notwendig ist – und mehr als die große Masse der Menschen je erreicht – liegt schon in der bloßen Hingabe an ein großes Prinzip und an einen bedeutenden Stoff. Diejenigen Materialisten, welche in ihrer Wissenschaft wirklich etwas leisten, werden meist wenig Neigung haben, den negativen Missionar zu spielen, und selbst wenn sie es tun, schaden sie der Menschheit weniger als die Apostel der Konfusion.

Wenn aber beide Extreme wirklich, selbst in ihrer Einseitigkeit, berechtigt sind, so muß sich auch ein erträgliches, wenn nicht gemütliches Zusammenleben in der Gesellschaft durchführen lassen, sobald erst die letzten Spuren des Fanatismus aus unsrer Gesetzgebung vertilgt sind. Ob es dazu kommt, ist eine andre Frage. Es ist, wie mit der sozialen Umwälzung, vor der wir stehen, so auch mit der religiösen. Die friedliche Durchlebung der Übergangsepoche ist wünschenswerter, allein eine stürmische wahrscheinlicher.

So steht der materialistische Streit unsrer Tage vor uns als ein ernstes Zeichen der Zeit. Heute wieder, wie in der Periode vor Kant und vor der französischen Revolution, liegt eine allgemeine Erschlaffung des philosophischen Strebens, ein Zurücktreten der Ideen der Ausbreitung des Materialismus zugrunde. In solchen Zeiten wird das vergängliche Material, in dem unsre Vorfahren das[1001] Erhabene und Göttliche ausprägten, wie sie es eben zu erfassen vermochten, von den Flammen der Kritik verzehrt, gleich dem organischen Körper, der, wenn der Lebensfunke erlischt, dem allgemeineren Walten chemischer Kräfte verfällt und in seiner bisherigen Form zerstört wird. Allein wie im Kreislauf der Natur aus dem Zerfallen niederer Stoffe sich neues Leben hervorringt und höheres in die Erscheinung tritt, wo das Alte vergeht: so dürfen wir erwarten, daß ein neuer Aufschwung der Idee die Menschheit um eine neue Stufe emporführen wird.

Inzwischen tun die auflösenden Kräfte nur ihre Schuldigkeit. Sie gehorchen dem unerbittlichen kategorischen Imperativ des Gedankens, dem Gewissen des Verstandes, welches wachgerufen wird, sobald in der Dichtung des Transzendenten der Buchstabe auffallend wird, weil der Geist ihn verläßt und nach neuen Formen ringt. Das allein aber kann endlich die Menschheit zu einem immerwährenden Frieden führen, wenn die unvergängliche Natur aller Dichtung in Kunst, Religion und Philosophie erkannt wird und wenn auf Grund dieser Erkenntnis der Widerstreit zwischen Forschung und Dichtung für immer versöhnt wird. Dann findet sich auch eine wechselvolle Harmonie des Wahren, Guten und Schönen, statt jener starren Einheit, an welche unsre freien Gemeinden sich jetzt anklammern, indem sie die empirische Wahrheit allein zur Grundlage machen. Ob die Zukunft wieder hohe Dome baut, oder ob sie sich mit lichten, heitern Hallen begnügen wird; ob Orgelschall und Glockenklang mit neuer Gewalt die Länder durchbrausen werden, oder ob Gymnastik und Musik im hellenischen Sinne zum Mittelpunkt der Bildung einer neuen Weltepoche sich erheben – auf keinen Fall wird das Vergangene ganz verloren sein und auf keinen Fall das Veraltete unverändert sich wieder erheben. In gewissem Sinne sind auch die Ideen der Religion unvergänglich. Wer will eine Messe von Palestrina widerlegen, oder wer will die Madonna Raffaels des Irrtums zeihen? Das gloria in excelsis bleibt eine weltgeschichtliche Macht und wird schallen durch die Jahrhunderte, solange noch der Nerv eines Menschen unter dem Schauer des Erhabenen erzittern kann. Und jene einfachen Grundgedanken der Erlösung des vereinzelten Menschen durch die Hingabe des Eigenwillens an den Willen, der das Ganze lenkt; jene Bilder von Tod und Auferstehung, die das Ergreifendste und Höchste, was die Menschenbrust durchbebt, aussprechen, wo keine Prosa mehr fähig ist, die Fülle des Herzens mit kühlen Worten[1002] darzustellen; jene Lehren endlich, die uns befehlen, mit dem Hungrigen das Brot zu brechen und dem Armen die frohe Botschaft zu verkünden – sie werden nicht für immer schwinden, um einer Gesellschaft Platz zu machen, die ihr Ziel erreicht hat, wenn sie ihrem Verstand eine bessere Polizei verdankt und ihrem Scharfsinn die Befriedigung immer neuer Bedürfnisse durch immer neue Erfindungen. Oft schon war eine Epoche des Materialismus nur die Stille vor dem Sturm, der aus unbekannten Klüften hervorbrechen und der Welt eine neue Gestalt geben sollte. Wir legen den Griffel der Kritik aus der Hand, in einem Augenblick, in welchem die soziale Frage Europa bewegt: eine Frage, auf deren weitem Gebiete alle revolutionären Elemente der Wissenschaft, der Religion und der Politik ihren Kampfplatz für eine große Entscheidungsschlacht gefunden zu haben scheinen. Sei es, daß diese Schlacht ein unblutiger Kampf der Geister bleibt, sei es, daß sie einem Erdbeben gleich die Ruinen einer vergangenen Weltperiode donnernd in den Staub wirft und Millionen unter den Trümmern begräbt: gewiß wird die neue Zeit nicht siegen, es sei denn unter dem Banner einer großen Idee, die den Egoismus hinwegfegt und menschliche Vollkommenheit in menschlicher Genossenschaft als neues Ziel an die Stelle der rastlosen Arbeit setzt, die allein den persönlichen Vorteil ins Auge faßt. Wohl würde es die bevorstehenden Kämpfe mildern, wenn die Einsicht in die Natur menschlicher Entwicklung und geschichtlicher Prozesse sich der leitenden Geister allgemeiner bemächtigte, und die Hoffnung ist nicht aufzugeben, daß in ferner Zukunft die größten Wandlungen sich vollziehen werden, ohne daß die Menschheit durch Brand und Blut befleckt wird. Wohl wäre es der schönste Lohn abmattender Geistesarbeit, wenn sie auch jetzt dazu beitragen könnte, dem Unabwendbaren unter Vermeidung furchtbarer Opfer eine leichte Bahn zu bereiten und die Schätze der Kultur unversehrt in die neue Epoche hinüberzuretten; allein die Aussicht dazu ist gering und wir können uns nicht verhehlen, daß die blinde Leidenschaft der Parteien im Zunehmen ist und daß der rücksichtslose Kampf der Interessen sich mehr und mehr vor dem Einfluß theoretischer Untersuchungen verschließt. Immerhin wird unser Streben nicht ganz umsonst sein. Die Wahrheit, zu spät, kommt dennoch früh genug; denn die Menschheit stirbt noch nicht. Glückliche Naturen treffen den Augenblick; niemals aber hat der denkende Beobachter ein Recht zu schweigen, weil er weiß, daß ihn für jetzt nur wenige hören werden.[1003]

598

Daß dem Satze A=A streng genommen nirgend Wirklichkeit entspricht, hat neuerdings A. Spir mit Energie hervorgehoben und zur Grundlage eines eignen philosophischen Systems gemacht. Alle Schwierigkeiten welche in dieser Tatsache liegen, lassen sich jedoch auf anderm Wege weit leichter heben. Der Satz A=A ist zwar die Grundlage alles Erkennens, aber selbst keine Erkenntnis, sondern eine Tat des Geistes, ein Akt ursprünglicher Synthesis, durch welchen als notwendiger Anfang alles Denkens eine Gleichheit oder ein Beharren gesetzt werden, die sich in der Natur nur vergleichsweise und annähernd, niemals aber absolut und vollkommen vorfinden. Der Satz A=A zeigt also auch gleich auf der Schwelle der Logik die Relativität und Idealität alles unsres Erkennens an.

599

(J. G. Fichtes) Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution, 1793; 1. Buch, Schluß des 1. Kapitels

600

J. G. Fichte, deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt; geschrieben im Jahre 1807. Stuttg. u. Tüb. 1817, S. 59 u. ff.

Quelle:
Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1974, S. 981-1004.
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