IV. Darwinismus und Teleologie

[685] Als die erste Auflage unsrer Geschichte des Materialismus erschien, war der Darwinismus noch neu; die Parteien begannen eben Stellung zu nehmen, oder richtiger gesagt, die schnell anwachsende Partei der »deutschen Darwinianer« war noch in der Bildung begriffen, und die Reaktion, welche gegenwärtig hier den bedrohtesten Punkt der alten Weltanschauung erblickt, war noch nicht recht im Harnisch, weil sie die Tragweite der großen Frage und die innere Macht der neuen Lehre noch nicht recht begriffen hatte.

Seitdem hat sich das Interesse von Freund und Feind dermaßen auf diesen Punkt konzentriert, daß nicht nur eine weitschichtige Literatur über Darwin und den Darwinismus entstanden ist, sondern daß man auch behaupten darf, der Darwinismus-Streit ist gegenwärtig das, was damals der allgemeinere Materialismus-Streit war. – Büchner findet zwar noch immer neue Leser für »Kraft und Stoff«, aber man hört keinen literarischen Schrei der Entrüstung mehr, wenn eine neue Auflage erscheint; Moleschott, der eigentliche Urheber unsrer materialistischen Bewegung, ist im großen Publikum fast vergessen, und selbst Carl Vogt wird wenig mehr erwähnt, soweit es sich nicht um spezielle Fragen der Anthropologie handelt oder um vereinzelte unvergeßliche Aussprüche seines drastischen Humors. Statt dessen nehmen alle Zeitschriften Partei für oder gegen Darwin; es erscheinen fast täglich neue größere oder kleinere Schriften über die Deszendenztheorie, die natürliche Züchtung und besonders, wie sich denken läßt, über die Abstammung des Menschen, da nun einmal gar viele Individuen dieser besondern Spezies an sich selbst irrewerden, wenn ein Zweifel an der Echtheit ihres Stammbaumes auftaucht.

Trotz dieser großen Bewegung können wir heute noch fast alles unverändert aufrecht erhalten, was wir vor acht Jahren über den Darwinismus geschrieben haben; nur können wir die Sache nicht mehr dabei bewenden lassen. Das Material hat sich erweitert – wenn auch das wissenschaftliche Material nicht ganz im Verhältnis zu dem bedruckten Papier; die Fragen sind spezialisiert worden.[685]

Damals war Darwin der einzige einflußreiche Vertreter nicht nur der Deszendenztheorie, sondern man kann fast sagen, der natürlichen Erklärung der organischen Formen überhaupt. Gegenwärtig kommt es vor, daß erbitterte Angriffe gegen Darwin und den Darwinismus gerichtet werden von Leuten, die sich ausschließlich an die Theorie der natürlichen Zuchtwahl halten, als ob alles andre auch ohne Darwins Auftreten dagewesen wäre. Die mannigfachsten Schattierungen der Ansichten, welche damals noch im Keime lagen, sind jetzt bestimmt hervorgetreten und haben neue Begründungen und neue Bedenken mit sich gebracht. Was wir damals über die Frage äußerten, kann daher jetzt nur noch gleichsam als allgemeine Einleitung zu einer gründlicheren Besprechung dienen; da aber an manche unsrer damaligen Äußerungen zustimmend oder abwehrend angeknüpft worden ist, so lassen wir sie hier ganz unverändert wieder folgen und behalten uns vor, die nötigen Modifikationen in den Anmerkungen und in den später folgenden Zusätzen vorzubringen. – Es gibt vielleicht in der ganzen neueren Wissenschaft kein Beispiel eines so haltlosen und zugleich so krassen Aberglaubens, wie der von der Spezies, und es gibt wohl wenige Punkte, in welchen man sich mit so bodenlosen Argumentationen immer wieder in den dogmatischen Schlummer eingewiegt hat.459 Es geht fast über das Verständliche, wie ein Naturforscher, welcher sich seit zwanzig Jahren speziell für die Feststellung des Artbegriffes interessiert, welcher es unternimmt, in der Fortpflanzungsfähigkeit ein neues Kriterium der Spezies aufzustellen, während dieser ganzen Zeit kein einziges Experiment über diese Frage anstellt, sondern sich damit begnügt, als echter Naturhistoriker die zufällig überlieferten Erzählungen kritisch zu sichten. Allerdings ist auch auf dem Felde der Naturforschung die Teilung der Arbeit zwischen Experiment und kritischer Zusammenstellung der Experimente durchaus zulässig, und zwar in weiterem Sinne, als gewöhnlich anerkannt ist. Wenn aber ein Feld noch so vollständig brachliegt, wie das der Artenbildung, so ist es doch wohl der erste kritische Spruch, auf den die gesunde Vernunft und die naturwissenschaftliche Methode führen müssen, daß auf diesem Gebiete so gut wie auf allen andern nur der Versuch uns etwas lehren kann. Andreas Wagner aber verirrte sich so weit vom Pfade der Naturforschung, daß er Großes zu leisten glaubt, wenn er für die angeblichen Bastardbildungen einen juristischen Beweis verlangt und bis zur Erbringung desselben seine Dogmen für feststehend[686] erachtet.460 Das mag denn freilich das geeignete Verfahren sein, wenn man ein liebgewordenes Vorurteil als einen persönlichen Besitz betrachtet und jedem, der es rauben will, mit dem Rechtstitel der Verjährung entgegentritt; mit Naturforschung hat dieser ganze Standpunkt keine entfernte Ähnlichkeit. Ein einziger Zug mag eine Methode charakterisieren, auf deren Ergebnisse näher einzugehen übrigens frivole Zeitvergeudung wäre.

Es liegt eine Reihe offenbarer Bastardbildungen vor, die sich durch Spielerei von Liebhabern oder durch Zufall ergeben haben und, besser oder schlechter beglaubigt, weiter erzählt werden. Aus solchem Material wird nun die Frage entschieden, wie es sich mit der Fruchtbarkeit der Bastarde a) unter sich, b) mit der Stammlinie verhalte. Man sieht auf den ersten Blick, wenn man das treffliche Material mustert, daß ad a) keine oder nur sehr wenige Beispiele vorliegen, weil man entweder nur einen Bastard hatte, der also auch nicht mit einem gleichartigen gepaart werden konnte, oder weil die Bastarde verschiednen Geschlechts getrennt und verschenkt wurden, da eben niemand daran dachte, über die Bildung neuer Arten zu experimentieren. Ad b) ergibt sich die große Wahrheit, daß die Bastardrassen allmählich wieder in die ursprünglichen Rassen zurückkehren, weil man sie eben von Generation zu Generation nur mit einer derselben gepaart hat. Daraus wird nun der große Schluß gezogen, daß Bastarde entweder unfruchtbar sind oder sich nur durch Anpaarung mit den elterlichen Rassen fortpflanzen können; denn den entgegengesetzten Angaben »fehlt der legale Nachweis«. Der Gegner muß den Prozeß verlieren; das Inventar der Schrullen Ist gerettet.

Jedermann weiß, wie hier zu verfahren wäre, wenn man nicht die Schrulle retten, sondern die Wahrheit finden wollte, was doch für einen Mann, der sich zwanzig Jahre mit der Frage der Spezies beschäftigt, kein ganz unpassendes Ziel genannt werden dürfte. Man hätte offenbar mit aller der Sorgfalt, welche die neueren Naturwissenschaften auf andern Gebieten anzuwenden pflegen, und der sie ihre großen Erfolge durchweg zu danken haben, zunächst eine größere Reihe der betreffenden Bastardbildungen, z.B. zwischen Kanarienvogel und Hänfling, zu erzeugen. Die größere Reihe ist nicht nur zur Elimination des Zufalls und zur Gewinnung eines richtigen Mittels notwendig, sondern sie wird schon unmittelbar durch die Natur einer Aufgabe gefordert, die sich um ein Mehr oder Weniger dreht. Man nehme nun gleich viel Paare der gleichartigen[687] Bastarde, ferner der Bastarde mit der väterlichen und endlich der mütterlichen Stammlinie. Man bringe diese Paare unter möglichst gleiche Verhältnisse des relativen und absoluten Alters, der Pflege, der Umgebung, oder man variiere diese Verhältnisse methodisch, und man wird ein Resultat haben, auf Grund dessen schon einige Wahrscheinlichkeitssätze auszusprechen sind; was denn freilich von größerem Verdienst wäre, als Andreas Wagners zwanzigjährige Prüfung der Legalität höherer Jagdgeschichten.

Darwin hat einen mächtigen Schritt zu der Vollendung einer naturphilosophischen Weltanschauung getan, welche Verstand und Gemüt in gleicher Weise zu befriedigen vermag, indem sie sich auf die feste Basis der Tatsachen gründet, und in großartigen Zügen die Einheit der Welt darstellt, ohne mit den Einzelheiten in Widerspruch zu geraten. Seine Darstellung der Entstehung der Arten fordert aber als naturwissenschaftliche Hypothese auch das Experiment zu ihrer Bestätigung, und Darwin wird Großes geleistet haben, wenn es ihm gelingt, den Geist methodischer Forschung auf ein Gebiet zu rufen, welches ihm den reichsten Lohn verspricht, indem es freilich auch die größte Aufopferung und Ausdauer erfordert. Manche der hierher gehörigen Experimente mögen die Kräfte, ja die Dauer der Wirksamkeit des einzelnen Forschers übersteigen, und erst spätere Generationen werden die Früchte dessen ernten, was die Gegenwart anbahnen muß. Gerade darin aber wird sich ein neuer Fortschritt zu großartiger Auffassung der Aufgabe der Wissenschaft kundtun, und an der richtigen Erfassung dieser Aufgabe muß das Gefühl für die Zusammengehörigkeit der Menschheit, für die Gemeinsamkeit ihrer kühnen Ziele erstarken.

Was Darwins Theorie zu einer solchen Wirkung auf die Forschung befähigt, ist nicht nur die einfache Klarheit und befriedigende Rundung des Grundgedankens, der in den Erfahrungen und methodischen Anforderungen der Gegenwart schon vorbereitet lag und sich leicht aus der gelegentlichen Kombination verschiedner Zeitgedanken ergeben mußte. Ungleich höheres Verdienst liegt ohne Zweifel schon in der ausdauernden Verfolgung eines Gegenstandes, der bereits im Jahre 1837 den von einer wissenschaftlichen Seefahrt heimkehrenden Naturforscher mächtig ergriff und dem er seitdem sein Leben widmete. Das reiche Material, welches Darwin gesammelt hat, ist größtenteils noch rückständig, die genaueren Belege für seine Angaben fehlen noch, und ein späteres, größeres[688] Werk wird uns hoffentlich die Riesenarbeit des ausgezeichneten Mannes in ihrem vollen Umfange vorführen.461 Viele wollen bis zum Erscheinen dieses Materials ihr Urteil über Darwins Theorie aussetzen, und es ist gegen solche Vorsicht nichts einzuwenden, da allerdings auch in dieser Arbeit menschlichen Fleißes und Scharfsinns die Kritik viel zu tun haben wird, bis das Bleibende vom Vergänglichen und Subjektiven gesondert ist. Es ist aber wohl zu beachten, daß eine genügende Bewährung der eminenten Hypothese doch in keinem Falle von diesem Material allein abhängen kann, sondern daß die selbständige Tätigkeit vieler und vielleicht die experimentierende Arbeit von Generationen dazu gehört, um die Theorie der natürlichen Züchtung durch die künstliche zu bestätigen, welche in verhältnismäßig kurzer Frist eine Arbeit wiederholen kann, zu der die Natur Jahrtausende braucht. Anderseits hat Darwins Theorie schon in ihrer jetzigen Form eine Bedeutung, welche weit über den Bereich einer zufällig aufgeworfenen Frage hinausreicht. Seine Sammlung der Beobachtungen hat mit Wagners stümperhaften Protokollen über die Legitimität vereinzelter Jagdgeschichten nicht die geringste Ähnlichkeit. Darwin weiß die ganze Naturgeschichte der Pflanzen und Tiere durch feine und scharfsinnige Kombination bewährter Beobachtungen mit seiner Theorie in Verbindung zu setzen. Alle Strahlen sind in einen Brennpunkt gesammelt, und die reiche Entfaltung der Theorie leitet die scheinbar entlegensten Erscheinungen des organischen Lebens in den Strom des Beweises. Will man aber die vorzüglichste Seite seiner Leistungen bezeichnen, so muß man darauf hinweisen, daß eben jene Gliederung des Grundgedankens, die Unterstützung desselben durch zahlreiche Lehrsätze und Hilfshypothesen fast nirgend etwas Willkürliches und Gezwungenes hat; ja, daß manche derselben nicht nur an sich evidenter sind als der Hauptgedanke, sondern auch gleich hoch, wo nicht höher an naturwissenschaftlicher Bedeutung. Hier haben wir namentlich die Lehre von dem Ringen der Arten um ihre Existenz im Auge und die tiefgehenden Beziehungen dieser Lehre zur Teleologie.

Die Theorie der Entstehung der Arten führt uns in eine Vorzeit zurück, welche dadurch den Charakter des Mysteriösen erhält, daß hier den Dichtungen der Mythe nur eine Summe von Möglichkeiten gegenübersteht, deren große Zahl die Glaubwürdigkeit jeder einzelnen außerordentlich beeinträchtigt. Der Kampf um das Dasein entspinnt sich dagegen vor unsern Augen und ist doch jahrhundertelang[689] der Aufmerksamkeit eines nach Wahrheit spähenden Zeitalters entgangen. Ein Rezensent von Radenhausens Isis, einem trefflichen, wenn auch nicht ganz auf den Grund gehenden naturalistischen System der letzten Jahre,462 findet sich zu einer Bemerkung veranlagt, die uns zeigt, wie schwer selbst ein ziemlich unbefangener Beobachter den Stand dieser Fragen überblickt, in einem Augenblick, wo jeder, der ihn zu überblicken vermag, zu einem ganz unzweideutigen Resultate kommen muß. Radenhausen benützt Darwins Lehre, um Konsequenzen zu ziehen, welche auf die uralte radikale Opposition des Empedokles gegen die Teleologie zurückführen; er gibt aber zu, daß der vollständige Beweis für Darwins Lehre noch fehle. Zwei Sätze seines Rezensenten im Literarischen Zentralblatte sollen uns zum Thema einer Betrachtung dienen, die wir ohnehin nicht umgehen dürften, und für die uns hier nur ein bestimmter Anknüpfungspunkt gelegen kommt. »Man zieht es vor,« sagt der Ungenannte, »an die Stelle einer zweckmäßig aber wunderbar wirkenden außerweltlichen Kausalität die Möglichkeit glücklicher Zufälle zu setzen, und findet in der fortschreitenden Entwicklung dessen, was ein glücklicher Zufall begonnen hat, Ersatz dafür, daß alle Erscheinungen der Welt in ihrem letzten Grunde sinn- und zwecklos sind, und daß das Schöne und Gute nicht am Anfange liegt, sondern erst am Ende, oder wenigstens erst im Fortgange des Geschehens zum Vorscheine kommt... Solange diese (die beweisenden) Entdeckungen noch nicht wirklich gemacht sind, wird es erlaubt sein, sich die Frage vorzulegen, ob die Hypothesen, zu denen sich dieser Naturalismus für berechtigt hält, weniger kühn und gewagt sind, als die Voraussetzungen der teleologischen Weltansicht.«

Der Rezensent ist ein Typus; die meisten, welche der neueren Naturwissenschaft gegenüber noch an der Teleologie glauben festhalten zu müssen, klammern sich an die Lücken der wissenschaftlichen Erkenntnis und übersehen dabei, daß wenigstens die bisherige Form der Teleologie, die anthropomorphe, durch die Tatsachen gänzlich beseitigt ist; einerlei, ob die naturalistische Ansicht hinlänglich festgestellt ist oder nicht. Die ganze Teleologie hat ihre Wurzel in der Ansicht, daß der Baumeister der Welten so verfährt, daß der Mensch nach Analogie menschlichen Vernunftgebrauches sein Verfahren zweckmäßig nennen muß. So faßt es im wesentlichen schon Aristoteles, und selbst die pantheistische Lehre von einem »immanenten« Zweck hält die Idee einer, menschlichem Ideal[690] entsprechenden, Zweckmäßigkeit fest, wenn auch die außerweltliche Person aufgegeben wird, die nach Menschenweise diesen Zweck erst erdenkt und dann ausführt. Es ist nun aber gar nicht mehr zu bezweifeln, daß die Natur in einer Weise fortschreitet, welche mit menschlicher Zweckmäßigkeit keine Ähnlichkeit hat; ja, daß ihr wesentliches Mittel ein solches ist, welches mit dem Maßstabe menschlichen Verstandes gemessen nur dem blindesten Zufall gleichgestellt werden kann. Über diesen Punkt ist kein zukünftiger Beweis mehr zu erwarten; die Tatsachen sprechen so deutlich und auf den verschiedensten Gebieten der Natur so einstimmig, daß keine Weltansicht mehr zulässig ist, welche diesen Tatsachen und ihrer notwendigen Deutung widerspricht.

Wenn ein Mensch, um einen Hasen zu schießen, Millionen Gewehrläufe auf einer großen Heide nach allen beliebigen Richtungen abfeuerte; wenn er, um in ein verschlossenes Zimmer zu kommen sich zehntausend beliebige Schlüssel kaufte und alle versuchte wenn er, um ein Haus zu haben, eine Stadt baute, und die überflüssigen Häuser dem Wind und Wetter überließe: so würde wohl niemand dergleichen zweckmäßig nennen, und noch viel weniger würde man irgendeine höhere Weisheit, verborgene Gründe und überlegene Klugheit hinter diesem Verfahren vermuten.463 Wer aber in den neueren Naturwissenschaften Kenntnis nehmen will von den Gesetzen der Erhaltung und Fortpflanzung der Arten – selbst solcher Arten, deren Zweck wir überhaupt nicht einsehen, wie z.B. der Eingeweidewürmer –, der wird allenthalben eine ungeheure Vergeudung von Lebenskeimen finden. Vom Blütenstaub der Pflanzen zum befruchteten Samenkorn, vom Samenkorn zur keimenden Pflanze, von dieser bis zu der vollwüchsigen, welche wieder Samen trägt, sehen wir stets den Mechanismus wiederkehren, welcher auf dem Wege der tausendfältigen Erzeugung für den sofortigen Untergang und des zufälligen Zusammentreffens der günstigen Bedingungen das Leben so weit erhält, als wir es in dem Bestehenden erhalten sehen. Der Untergang der Lebenskeime das Fehlschlagen des Begonnenen ist die Regel; die »naturgemäße« Entwicklung ist ein Spezialfall unter Tausenden; es ist die Ausnahme, und diese Ausnahme schafft jene Natur, deren zweckmäßige Selbsterhaltung der Teleologe kurzsichtig bewundert. »Wir sehen das Antlitz der Natur,« sagt Darwin, »strahlend von Heiterkeit; wir sehen oft Überfluß von Nahrung; aber wir sehen nicht, oder wir vergessen es, daß die Vögel, welche ringsum so arglos singen,[691] meist von Insekten oder Samen leben, und so beständig Leben zerstören; oder wir vergessen, wie stark diese Sänger oder ihre Eier oder ihre Jungen von Raubvögeln und andern Tieren vertilgt werden; wir halten nicht im Sinne, daß das Futter, welches jetzt im Überfluß vorhanden ist, zu andern Zeiten jedes wiederkehrenden Jahres mangelt.« Der Wettbewerb um das Fleckchen Landes, Glück oder Unglück in der Verfolgung und Vertilgung fremden Lebens bestimmt die Ausdehnung der Pflanzen und Tierarten. Millionen von Samentierchen, Eiern, jungen Geschöpfen schwanken zwischen Leben und Tod, damit einzelne Individuen sich entfalten. Die menschliche Vernunft kennt kein andres Ideal als die möglichste Erhaltung und Vervollkommnung des Lebens, welches einmal begonnen hat, verbunden mit der Einschränkung von Geburt und Tod. Der Natur sind üppige Zeugung und schmerzvoller Untergang nur zwei entgegengesetzt wirkende Kräfte, die ihr Gleichgewicht suchen. – Hat doch die Volkswirtschaft selbst für die »zivilisierte« Welt das traurige Gesetz enthüllt, daß Elend und Nahrungsmangel die großen Regulatoren des Bevölkerungszuwachses sind. Ja selbst auf geistigem Gebiete scheint es die Methode der Natur zu sein, daß sie tausend gleichbegabte und strebende Geister der Verkümmerung und Verzweiflung entgegenwirft, um ein einziges Genie zu bilden, welches seine Entfaltung der Gunst der Verhältnisse dankt. Das Mitleid, die schönste Blüte der irdischen Organismen, bricht nur auf vereinzelten Punkten hervor und ist selbst für das Leben der Menschheit mehr ein Ideal als eine der gewöhnlichen Triebfedern.

Was wir in der Entfaltung der Arten Zufall nennen, ist natürlich kein Zufall im Sinn der allgemeinen Naturgesetze, deren großes Getriebe alle jene Wirkungen hervorruft, es ist aber im strengsten Sinne des Wortes Zufall, wenn wir diesen Ausdruck im Gegensatz zu den Folgen einer menschenähnlich berechnenden Intelligenz betrachten; wo wir aber in den Organen der Tiere und Pflanzen Zweckmäßiges finden, da dürfen wir annehmen, daß in dem ewigen Mord des Schwachen zahllose minder zweckmäßige Formen vertilgt wurden, so daß auch hier das, was sich erhält, nur der günstige Spezialfall in dem Ozean von Geburt und Untergang ist. Das wäre denn nun in der Tat ein Stück der vielgeschmähten Weltanschauung des Empedokles, bestätigt durch das endlose Material, welches allein die letzten Dezennien der exakten Forschung ans Licht gefördert haben.[692]

Und doch hat die Sache ihre Kehrseite. Ist es ganz wahr, wie der Rezensent Radenhausens meint, daß an die Stelle der wunderbar wirkenden Kausalität nur die »Möglichkeit« glücklicher Zufälle tritt? Was wir sehen, ist nicht Möglichkeit, sondern Wirklichkeit. Der einzelne Fall ist uns nur »möglich«, er ist uns »zufällig«, weil er durch das Getriebe von Naturgesetzen geordnet wird, die in unsrer menschlichen Auffassung nichts mit dieser speziellen Folge ihres Ineinandergreifens zu schaffen haben. Im großen ganzen aber können wir die Notwendigkeit erkennen. Unter den zahllosen Fällen müssen sich auch die günstigen finden; denn sie sind wirklich da und alles Wirkliche ist durch die ewigen Gesetze des Universums hervorgerufen. In der Tat ist damit nicht sowohl jede Teleologie beseitigt, als vielmehr ein Einblick in das objektive Wesen der Zweckmäßigkeit der Erscheinungswelt gewonnen. Wir sehen deutlich, daß diese Zweckmäßigkeit im einzelnen nicht die menschliche ist, ja daß sie auch, soweit wir die Mittel bereits erkannt haben, nicht etwa durch höhere Weisheit hergestellt wird, sondern durch Mittel, welche ihrem logischen Gehalt nach entschieden und klar die niedrigsten sind, welche wir kennen. Diese Wertschätzung selbst ist aber wieder nur auf die menschliche Natur begründet, und so bleibt der metaphysischen, der religiösen Auffassung der Dinge, welche in ihren Dichtungen diese Schranken überschreitet, immer wieder ein Spielraum zur Herstellung der Teleologie, die aus der Naturforschung und aus der kritischen Naturphilosophie einfach und definitiv zurückzuweisen ist.

Das Studium der niederen Tierwelt, welches in den letzten Dezennien, besonders seit Steenstrups Entdeckungen über den Generationswechsel, gewaltige Fortschritte gemacht hat, beseitigt übrigens nicht nur den alten Artbegriff, sondern es wirft auch merkwürdiges Licht auf eine ganz andre Frage, die für die Geschichte des Materialismus von höchstem Interesse ist: auf die Frage nach dem Wesen des organischen Individuums.464 In Verbindung mit der Zellentheorie beginnen auch hier die neueren Entdeckungen einen so tiefgreifenden Einfluß auf unsre naturwissenschaftlichen und philosophischen Anschauungen auszuüben, daß es scheint, als würden die uralten Fragen des Daseins jetzt zum erstenmal in deutlicher Form an den Forscher und Denker gerichtet. Wir haben gesehen, wie der alte Materialismus dadurch in das Gebiet des absolut Widersinnigen gerät, daß er die Atome als das allein Existierende[693] betrachtet, die doch nicht Träger einer höheren Einheit sein können, weil außer Druck und Stoß keine Berührung zwischen ihnen vorkommt. Wir haben aber auch gesehen, daß gerade dieser Widerspruch von Vielheit und Einheit dem menschlichen Denken überhaupt eigen ist, und daß er nur in der Atomistik am klarsten hervortritt. Die einzige Rettung besteht auch hier darin, daß der Gegensatz von Vielheit und Einheit als eine Folge unsrer Organisation gefaßt wird, daß man annimmt, er sei in der Welt der Dinge an sich auf irgendeine uns unbekannte Weise gelöst oder vielmehr gar nicht vorhanden. Damit entgehen wir denn dem innersten Grunde des Widerspruchs, der überhaupt in der Annahme absoluter Einheiten besteht, die uns nirgends gegeben sind. Fassen wir alle Einheit als relativ, sehen wir in der Einheit nur die Zusammenfassung in unserm Denken, so haben wir damit zwar nicht das innerste Wesen der Dinge erfaßt, wohl aber die Konsequenz der wissenschaftlichen Betrachtung möglich gemacht. Die absolute Einheit des Selbstbewußtseins fährt zwar schlecht dabei; allein es ist kein Übelstand, wenn eine Lieblingsvorstellung einiger Jahrtausende beseitigt wird. In diesem Abschnitt halten wir uns zunächst an die allgemeineren Erscheinungen der organischen Natur.

Goethe, dessen Morphologie wir als eine der gesundesten und fruchtbarsten Arbeiten unsrer so vielfach getrübten Epoche der Naturphilosophie betrachten dürfen, hatte den Standpunkt, auf welchen uns gegenwärtig alle neueren Entdeckungen mit Macht hindrängen, schon bloß durch die denkende Vertiefung in die mannigfaltigen Formen und Wandlungen der Pflanzen- und Tierwelt gewonnen. »Jedes Lebendige,« lehrt er, »es ist kein Einzelnes, sondern eine Mehrheit; selbst insofern es uns als Individuum erscheint, bleibt es doch eine Versammlung von lebendigen selbständigen Wesen, die der Idee, der Anlage nach gleich sind, in der Erscheinung aber gleich oder ähnlich, ungleich oder unähnlich werden können. Diese Wesen sind teils ursprünglich schon verbunden, teils finden und vereinigen sie sich. Sie entzweien sich und suchen sich wieder und bewirken so eine unendliche Produktion auf alle Weise und nach allen Seiten. – Je unvollkommener das Geschöpf ist, desto mehr sind diese Teile einander gleich oder ähnlich, und desto mehr gleichen sie dem Ganzen. Je vollkommener das Geschöpf wird, desto unähnlicher werden die Teile einander. In jenem Falle ist das Ganze den Teilen mehr oder weniger gleich, in diesem das Ganze den Teilen unähnlich. Je ähnlicher die Teile einander sind, desto[694] weniger sind sie einander subordiniert. Die Subordination der Teile deutet auf ein vollkommeneres Geschöpf.«

Virchow, welcher diesen Ausspruch Goethes in einem trefflichen Vortrag über Atome und Individuen465 benutzt hat, ist zu den Männern zu zählen, welche durch positive Forschung und scharfsinnige Theorie dazu beigetragen haben, uns über das Verhältnis der Wesen aufzuklären, deren innige Gemeinschaft das »Individuum« bildet.

Die Pathologie, bis dahin ein Feld wüster und abergläubischer Vorurteile, wurde durch ihn aus demselben Leben der Zellen erklärt, welches in seinen normalen Erscheinungen das Gesamtleben des gesunden Individuums erzeugt. Das Individuum ist nach seiner Erklärung »eine einheitliche Gemeinschaft, in der alle Teile zu einem gleichartigen Zweck zusammenwirken, oder, wie man es auch ausdrücken mag, nach einem bestimmten Plane tätig sind.« Diesen Zweck erklärt Virchow weiterhin als einen inneren, immanenten. »Der innere Zweck ist auch zugleich ein äußeres Maß, über welches die Entwicklung des Lebendigen nicht hinausreicht.« Das Individuum, welches seinen Zweck und sein Maß in sich trägt, ist daher eine wirkliche Einheit im Gegensatz zu der bloß gedachten Einheit des Atoms.

Hier haben wir also in der Anerkennung eines immanenten Zweckes wieder das uralte formale Element, dessen die Naturauffassung so wenig ganz entbehren kann, daß wir es selbst bei C. Vogt anerkannt finden. Mit einer begrifflichen Schärfe, die wir bei diesem Schriftsteller sonst nicht gewohnt sind, erklärt er in seinen Bildern aus dem Tierleben, nachdem er erörtert hat, wie die ersten erkennbaren Formen des Embryo aus den Zellenhaufen des Dotters hervorgehen: »So ist denn auch hier wieder erst mit dem Auftreten der Form der Organismus als Individuum gegeben, während vorher nur der gestaltlose Stoff vorhanden war«466 Diese Äußerung rührt nahe an Aristoteles. Die Form macht das Wesen des Individuums; wenn das wahr ist, mag man sie auch als Substanz bezeichnen, selbst wenn sie mit Naturnotwendigkeit aus den Eigenschaften des Stoffes hervorgeht. Diese Eigenschaften sind doch bei Licht besehen nur wieder Formen, die sich zu höheren Formen zusammenschließen. Die Form ist auch der wahre logische Kern der Kraft, wenn man von diesem Begriff die falsche Nebenvorstellung einer zwingenden menschenähnlichen Gewalt hinwegtut. Die Form allein sehen wir, wie wir die Kraft allein empfinden. Man beachte[695] die Form eines Dinges, so ist es Einheit; man sehe von der Form ab, so ist es Vielheit oder Stoff, wie wir in dem Kapitel von der Scholastik erörtert haben.

Vogt hebt, theoretisch reiner, den metaphysischen Begriff der Einheit hervor; Virchow hält sich an den physiologischen, an die Gemeinsamkeit des Lebenszweckes, und dieser Begriff zeigt uns die Relativität des Gegensatzes von Einheit und Vielheit ganz anschaulich. Im Pflanzenreich kann ich nicht nur die Zelle und die ganze Pflanze als Einheit betrachten, sondern auch den Ast, den Sproß, das Blatt, die Knospe. Es mag sich aus praktischen Gründen empfehlen, den einzelnen Trieb, welcher als Ableger ein selbständiges Dasein führen kann, als Individuum zu betrachten; dann ist die einzelne Zelle nur ein Teil desselben und die Pflanze ist eine Kolonie. Der Unterschied ist doch ein relativer. Kann die einzelne Zelle einer höheren Pflanze kein selbständiges Dasein führen, ohne in der Umgebung der andern Zellen zu bleiben, so kann es auch der Ableger nicht, ohne entweder in der Pflanze oder im Boden zu wurzeln. Alles Leben ist nur im Zusammenhange mit naturgemäßer Umgebung möglich, und die Idee eines selbständigen Lebens ist bei dem ganzen Eichbaum so gut eine Abstraktion, wie bei dem kleinsten Fragment eines losgerissenen Blättchens. Unsre neueren Aristoteliker legen Wert darauf, daß der organische Teil nur im Organismus entstehen und nur in diesem leben könne. Es ist aber mit der mystischen Herrschaft des Ganzen über den Teil nicht viel anzufangen. Die ausgerissene Pflanzenzelle führt ihr Zellenleben in der Tat weiter, wie das ausgerissene Herz des Frosches noch zuckt. Wenn der Zelle kein Saft mehr zugeführt wird, so stirbt sie, wie in demselben Falle auch der ganze Baum stirbt; die kürzere oder längere Zeitdauer ist in den Verhältnissen begründet, nicht im Wesen des Dinges. Eher wäre Wert darauf zu legen, daß sich die Pflanzen nicht äußerlich aus Zellen zusammenscharen, daß sich die einzelnen Zellen nicht direkt aus dem Nahrungsstoff bilden und so dem Ganzen zutreten, sondern daß sie stets in andern Zellen durch Teilung derselben entstehen. In der Tat findet für die organische Welt der aristotelische Satz, daß das Ganze vor dem Teil sei, soweit wir sehen können, meistens Anwendung; allein der Umstand, daß die Natur in der Regel so verfährt, berechtigt uns durchaus nicht, jenem Satz eine strenge Allgemeinheit zuzuschreiben. Schon die bloße Tatsache des Okulierens reicht hin, ihn in die engen Schranken gewöhnlicher Erfahrungssätze zurückzuweisen. Im vorigen[696] Jahrhundert liebte man, Versuche mit der Transfusion des Blutes aus einem tierischen Körper in den andern anzustellen, welche wenigstens teilweise gelangen.467 In neuerer Zeit hat man geradezu organische Teile von einem Körper auf den andern übertragen und zum Leben gebracht, und doch hat das Experimentieren über diese Seite der Lebensbedingungen kaum begonnen. Ja, bei niedern Pflanzen kommt in der Tat die Verschmelzung zweier Zellen neben der Teilung vor, und bei niederen Tieren hat man sogar auch die förmliche Verschmelzung zweier Individuen wahrgenommen. Die Strahlenfüßchen, eine Generationsfolge der Glockentierchen (vorticella), nähern sich häufig einander, legen sich innig aneinander, und es entsteht an der Berührungsstelle zuerst Abplattung und dann vollständige Verschmelzung. Ein ähnlicher Kopulationsprozeß kommt bei den Gregarinen vor, und selbst bei einem Wurme, dem Diplozoon, fand Siebold, daß er durch Verschmelzung zweier Diporpen entsteht.468

Die relative Einheit tritt bei den niederen Tieren besonders merkwürdig hervor bei jenen Polypen, welche einen gemeinsamen Stamm besitzen, an welchem durch Knospung eine Menge von Gebilden erscheint, die in gewissem Sinne selbständig, in andrer Hinsicht dagegen nur als Organe des ganzen Stammes zu betrachten sind. Man wird auf die Annahme geführt, daß bei diesen Wesen auch die Willensregungen teils allgemeiner, teils spezieller Natur sind, daß die Empfindungen aller jener halb selbständigen Stämme in Rapport stehen und doch auch ihre besondere Wirkung haben. Vogt hat ganz recht, wenn er den Streit um die Individualität dieser Wesen einen Streit um des Kaisers Bart nennt. »Es finden allmähliche Übergänge statt. Die Individualisation nimmt nach und nach zu.«469

So weit in der ersten Auflage. – Wir kehren nun zum Begriff der Spezies zurück und haben zunächst einige Bemerkungen zu machen, die sich nicht sowohl auf neuere Entdeckungen und Beobachtungen, als vielmehr auf eine genauere Betrachtung des gesamten Gebietes und der Prinzipien des Kampfes um das Dasein stützen. Die erste Bemerkung ist die, daß der Speziesbegriff bei genauerer Betrachtung sich als ein Produkt derjenigen Zeiten enthüllt, in welchem die Aufmerksamkeit des Menschen vorwiegend auf die großen und höher organisierten Geschöpfe gerichtet war, und in welcher man das Mikroskop und die ganze unendliche Fülle der niederen Tier- und Pflanzenwelt noch nicht kannte. Dies wird[697] noch deutlicher, wenn man außer der Spezies auch noch die Gattungen, Ordnungen und Klassen in Betracht zieht, welche noch zu Linnés Zeit so trefflich das gesamte Tierreich zu umspannen schienen. Heutzutage paßt dies ganze Netz nur noch am oberen Ende der Tierreihe, und je mehr man nach unten steigt, desto mehr wird der Forscher in Verlegenheit gesetzt. Eine Fülle neuer Merkmale scheint bald übereinstimmend, bald sich kreuzend, schon auf dem engsten Gebiete wieder eine Mannigfaltigkeit von Abteilungen und Unterabteilungen zu fordern, mit welcher man am oberen Ende der Tierreihe mit Bequemlichkeit z.B. den ganzen »Typus« der Wirbeltiere umspannen könnte. Während aber einerseits nach unten der Formenreichtum so groß wird, daß kein logisches Begriffsnetz mehr ausreicht, um ihn zu umspannen, wird anderseits das altgewohnte Kriterium gemeinsamer Abstammung hier völlig unfaßbar. Wenn daher Haeckel in seiner »Philosophie der Kalkschwämme«470 zwölf verschiedene, teils natürliche künstliche Systeme bloß aus der engeren und weiteren Fassung des Speziesbegriffs entstehen läßt, so darf man darin weder ein unzulässiges Spiel mit den Merkmalen, noch eine vereinzelte Anomalie erblicken. Hätte der Mensch sein Studium der Naturwesen mit den niederen Tieren begonnen, so würde der von Menschen so heilig gehaltene Begriff der Spezies wohl niemals entstanden sein. Die Ansicht welche wir uns gegenwärtig von der gesamten Reihe der Organismen machen müssen, ist nicht mehr die einer Stufenleiter in regelmäßiger und übersichtlicher Folge vom Niedersten bis zum Höchsten, sondern wir haben einen ungeheuren Unterbau des ganzen Systems, der noch in beständiger Bewegung ist, und aus diesem erheben sich die nach oben zu immer fester gezeichneten und klarer gesonderten Formen der höheren Pflanzen und Tiere.

Hieran schließt sich eine zweite Bemerkung, welche hauptsächlich die höheren organischen Formen betrifft. Setzen wir nämlich voraus, daß diese sich im Laufe sehr langer Zeiträume so gebildet und gegeneinander abgegrenzt haben, wie wir sie jetzt vor uns sehen, so folgt daraus notwendig, daß sie im allgemeinen einen hohen Grad von Stabilität besitzen müssen, und daß Abarten und Zwischenformen in der freien Natur nicht mehr leicht aufkommen können, solange sich nicht mit dem Klima, der Bodenkultur und andern Verhältnissen die relativen Existenzbedingungen der Spezies ändern. Denn gerade wenn man von einem Zustande der Veränderlichkeit ausgeht und den Kampf um das Dasein durch sehr lange[698] Zeiträume wirken läßt, so müssen ja mit Notwendigkeit die zweckmäßigsten Formen das Feld behaupten; und zwar nicht nur die zweckmäßigsten an sich, sondern auch die zweckmäßigste Zusammenstellung derjenigen Spezies, welche im Wettbewerb miteinander gleichsam das Maximum von Leben zur Geltung kommen lassen. Unter den Tieren z.B. wird der Hunger und die Kraft des Löwen sich mit der Schnelligkeit der Gazellen in ein solches Gleichgewichtsverhältnis setzen, unter gleichzeitiger Anpassung beider Spezies an alle übrigen Konkurrenten um das Dasein. Dieses Verhältnis stimmt mit Fechners »Prinzip der abnehmenden Veränderlichkeit« überein; ist aber, wie wir es fassen, eine einfache Folgerung aus den Prinzipien der Deszendenzlehre und des Kampfes um das Dasein, während Fechner ein möglichst universal gefaßtes kosmisches Prinzip dieser Art a priori zu entwickeln versucht.471

Die Folgen aus dieser sehr naheliegenden Betrachtung hat man nicht immer genug vor Augen gehabt. Man hätte sich sonst z.B. mit den Übergangsformen, welche die Deszendenzlehre postuliert, nicht so viel Not gemacht. Wir können den Einfluß des Menschen betrachten wie eine Abänderung der Naturbedingungen, welche gewissen Formen die Existenz möglich macht, welche in der freien Natur wahrscheinlich gegenüber den älteren, im Kampf um das Dasein bewährten Formen bald wieder verschwinden würden. Nun sehen wir aber, wie der Mensch z.B. bei Tauben und Hunden in einer Folge weniger Generationen neue Formen erzielt, welche, solange sie unter den gleichen schützenden Bedingungen gehalten werden, sehr bald die Reinheit und Geschlossenheit einer eignen Spezies annehmen und die nur der Theorie zuliebe »Varietäten« bleiben müssen.472 Und dies geschieht keineswegs etwa nur auf dem Wege der »künstlichen« Züchtung, welche von vornherein auf ein bestimmtes Modell hinarbeitet, sondern auch durch die »unbewußte« Züchtung,473 d.h. durch ein Verfahren, welches eine Spielart zu immer größerer Vollkommenheit und Beständigkeit eines neuen Typus bringt, durch das bloße Bestreben, die Rasse rein zu halten und eine Eigentümlichkeit derselben weiter auszubilden, so daß im übrigen hier die Natur gleichsam frei auf ein bestimmtes Modell hinstrebt, bei welchem Halt gemacht wird. Ist dies einmal erreicht, so kann es sich die längsten Perioden hindurch unverändert erhalten.

Ähnlich dürfen wir also annehmen, daß die Änderungen in den[699] sich selbst überlassenen Organismen in der Hauptsache nicht so ganz unmerklich langsam sich vollzogen haben, wie es Darwins eigne Anschauung zu fordern scheint, sondern daß je nach einer bedeutenden Änderung der Existenzbedingungen gleichsam ruckweise eine schnelle Entwicklung der einen, ein Rückgang der andern Form eingetreten sei. Auch dürfen wir wohl annehmen, daß jede solche Erschütterung des natürlichen Gleichgewichtes eine Neigung zum Variieren hervorbringt und damit Gelegenheit gibt zur Entstehung neuer Formen, die sich schnell festsetzen und abrunden, wenn ihnen die Verhältnisse günstig sind. Alle die verschiedenen Prinzipien, welche neuere Forscher in die Deszendenzlehre eingeführt haben, um das Prinzip der natürlichen Züchtung zu ergänzen, wie z.B. die Wanderung, die Isolierung der Arten usw., sind nur mehr oder weniger glücklich gegriffene Spezialfälle des entscheidenden Hauptprinzips: der Störung des Gleichgewichtes, welches die Arten bei länger dauernder Gleichheit der Lebensbedingungen notwendig stabil machen muß.

Es ist leicht zu sehen, wie durch diese Auffassung der »Transmutationslehre« eine Menge von Bedenken, die man gegen dieselbe erhoben hat, sofort beseitigt werden, während anderseits Darwins Anschauung in einem sehr wesentlichen Punkte modifiziert wird. Die Anschauungsweise Darwins geht darin ganz der Lyellschen Geologie parallel, daß das Hauptgewicht auf die stillen und stetigen, wenn auch für die gewöhnliche Beobachtung unmerklichen Veränderungen gelegt wird, welche beständig vorgehen, deren Resultat aber erst in sehr großen Zeiträumen augenfällig wird. Damit übereinstimmend nahm Darwin an, daß die Abänderungen der Arten ursprünglich rein zufällig entstehen, und daß die Mehrzahl derselben bedeutungslos, wie gemeine Mißbildungen, wieder verschwinden, während einige wenige, die dem betreffenden Wesen im Kampf um das Dasein Vorteil bringen, sich erhalten und sich durch natürliche Zuchtwahl und Vererbung festsetzen.

Natürlich müssen wir auch bei unsrer Ansicht einräumen, daß sehr langsame Veränderungen der Formen vorkommen können, zumal wenn sie durch sehr langsame Veränderungen der Existenzbedingungen, wie z.B. bei der allmählichen Hebung oder Senkung ganzer Länder, hervorgerufen werden. Zwar will es uns auch in diesem Falle wahrscheinlicher dünken, daß die organischen Formen der Veränderung ihrer Lebensbedingungen eine gewisse Widerstandskraft entgegensetzen, welche ihren Bestand unverändert erhält,[700] bis bei einer gewissen Höhe der störenden Einflüsse eine störende Krisis hereinbricht. Es bleibt jedoch die langsame Umbildung nicht ausgeschlossen, und selbst unsre Ansicht von der Erreichung eines Gleichgewichtszustandes möchten wir nicht so verstanden wissen, als müßte dieser ein Zustand absoluter Unveränderlichkeit sein. Dagegen muß die Entwicklung neuer Arten aus rein zufälliger Entstehung neuer Eigenschaften allerdings in Zweifel gezogen werden; sofern wenigstens hierin gerade der Haupthebel der Veränderung liegen soll.

Erinnern wir uns wieder, daß wir es mit großen Zeiträumen zu tun haben und daß zu Anfang dieser Zeiträume die allgemeine Neigung zum Variieren am größten gewesen sein muß. Dann kann man leicht einsehen, daß bei einem gewissen Zeitpunkte die Reihe der überhaupt vorkommenden Variationen gleichsam schon durchprobiert ist, und was zu Anfang der Periode nicht zu einer neuen Art geführt hat, wird es, unter gleich bleibenden Existenzbedingungen, immer weniger tun, weil die Formen allmählich immer bestimmter und strenger geschieden werden. Will man aber diejenige Periode, die wir hier als die Anpassungsperiode für die angegebenen Verhältnisse betrachten, wenigstens für sich ausschließlich vom Gesetz der Erhaltung nützlicher Zufälligkeiten regiert werden lassen, so ergeben sich weitere Bedenken verschiedener Art.

Zunächst gehen wir davon aus, daß die Anpassungsperiode auf eine Störung des Gleichgewichts folgt und ebendeshalb mit vermehrter Neigung zum Variieren verbunden ist. Weshalb soll man nun allen unmittelbaren Kausalzusammenhang zwischen der Veränderung der Existenzbedingungen und der Veränderung der Formen ausschließen? Man bringt doch auch heutzutage mit Recht Lamarck wieder zu Ehren, der aus unmittelbar wirkenden Ursachen in Verbindung mit der Vererbung alle Wandlungen der Formen ableitete, also z.B. die Vergrößerung, Verstärkung und feinere Ausbildung irgendeines Organs aus dem vermehrten Gebrauch desselben. Hier können aber noch unbekannte Kräfte in großer Zahl wirksam sein, ohne daß wir deshalb zu einem mystischen Eingriff des teleologischen Prinzips unsre Zuflucht nehmen müßten. Fechner zieht auch psychische Einflüsse hierher, und zwar ohne den Kreis der mechanischen Naturauffassung zu verlassen, da ja psychische Vorgänge zugleich physische sind.

»Der Hahn,« bemerkt er, »hat Sporen an den Füßen, eine Federmähne, einen hohen roten Kamm. Man erklärt die beiden ersten[701] Einrichtungen nach dem Prinzipe des Kampfes um das Dasein dadurch, daß Hähne, an denen dergleichen sich zufällig ausbildete, durch die Sporen ihren Gegnern im Kampfe überlegen und durch die Mähne besser gegen deren Bisse geschützt wurden; also den Platz auf dem Felde des Kampfes behielten. Aber unstreitig hätte man lange auf das Eintreten solcher Zufälligkeiten warten müssen, und wenn man bedenkt, daß bei allen andern Tieren ähnliche Zufälligkeiten angenommen werden müßten, um das Zustandekommen ihrer Zweckeinrichtungen zu erklären, so wird der Vorstellung schwindeln. Ich denke mir vielmehr, als die Organisation noch leichter veränderlich war, vermochte das psychische Streben, dem Gegner im Kampfe tüchtig zuzusetzen, sich vor seinen Angriffen zu schützen, und der Zorn gegen ihn, die noch heute den Sporn in Tätigkeit setzen, die Federmähnen sträuben und den Kamm schwellen machen, diese Teile durch demgemäße Abänderung der Bildungsprozesse wenn nicht an den fertigen Hähnen hervorzutreiben, aber die Anlage dazu den Keimen und hiermit den Nachkommen einzupflanzen, wobei ich natürlich die psychischen Bestrebungen und Zustände nur als die innere Seite der physisch-organischen ansehe, wovon jene Umbildungen abhingen, das ganze Spiel der psychischen Antriebe mit ihrer physischen Unterlage aber durch das allgemeine Prinzip der Tendenz zu stabilen Zuständen verknüpft halte, ohne eine speziellere Erklärung zu versuchen.«474

Wir lassen den Wert dieses Gedankens dahingestellt und bemerken nur, daß gewiß ebensowenig Grund vorhanden ist, ihn unbesehen zu verwerfen, als ihn ohne Beweise anzunehmen. Es gibt unter andern Erscheinungen, welche sich aus der bloßen Zuchtwahl schwer erklären lassen, eine bestimmte und ungemein verbreitete, welche die direkte und positive Kausalverbindung zwischen der Form und den Lebensbedingungen geradezu zu fordern scheint. Es ist dies die »Nachahmung« (Mimikry), eine zumal in der Insektenwelt ungemein verbreitete und zu den sonderbarsten Täuschungen veranlassende Anpassung von Farbe und Form der Tiere an ihre Umgebung oder auch an andre Organismen.475

Dem allgemeinen Prinzip nach paßt diese täuschende Nachbildung fremder Formen anscheinend trefflich zur natürlichen Zuchtwahl, denn sie ist jederzeit ein Schutz des betreffenden Tieres gegen seine Verfolger. Man kann daher mit Leichtigkeit annehmen, daß Individuen, welche zufällig eine Abänderung in diesem schützenden[702] Sinne erlitten, sich länger erhalten und auf die Fortpflanzung ihrer Art einen größeren Einfluß üben mußten als andre. Dies einmal gegeben, mußte die schützende Anpassung in Form und Farbe notwendig immer weiter gehen. Hier tritt aber die große Schwierigkeit ein, daß die erste Variation im schützenden Sinne sehr schwer zu erklären ist. Ein Gegner Darwins, Herr Bennet,476 hat hervorgehoben, daß die Übereinstimmung mancher Insekten mit dem Boden, auf welchem sie sich aufhalten, mit der Farbe trockner Baumrinde, abgefallener Blätter, oder mit der lebhaften Farbenpracht der Blumen, auf welchen sie sich gewöhnlich niederlassen, durch eine so große Reihe täuschender Züge und Zeichnungen zustande kommt, daß an ein plötzliches Auftreten einer solchen Variation um so weniger zu denken ist, da die nächst verwandten Spezies oft ein total verschiedenes Äußere haben. Nun argumentiert Herr Bennet weiter, daß ein zufälliges Auftreten eines Teiles dieser neuen Zeichnung dem Tiere keinen Nutzen bringen konnte, weil es seine Verfolger sicher nicht getäuscht haben würde. Bis aber durch bloßen Zufall der Variation, der ja der Natur der Sache nach gleich leicht nach dieser wie nach jeder andern Richtung erfolgen kann, sich die sämtlichen Farbenstriche und Formveränderungen so zusammenfinden, daß die Täuschung fertig ist, würde eine solche Kulmination der Zufälle erforderlich sein, daß die Wahrscheinlichkeitszahlen dafür ins Ungeheure gehen. Entsprechend müßte man also auch ungeheure Zeiträume annehmen, damit ein solches einmaliges Zusammentreffen aller jener Modifikationen erwartet werden könnte. Wir haben nun zwar bei den Fragen der Kosmogonie mit gutem Bedacht die blinde Scheu vor großen Zahlen bekämpft; allein hier liegt die Sache ganz anders. Die »Mimikry« kann sich nur ausbilden während einer Periode von ungefähr gleichen klimatischen Verhältnissen, gleichen Verfolgern, gleicher Vegetation gegenüber, und diese Perioden dürfen wir im allgemeinen nicht gar zu groß annehmen.

Darwin erklärt die schützende Nachbildung dadurch, daß er annimmt, das betreffende Tier müsse schon ursprünglich eine gewisse rohe Ähnlichkeit mit irgendeinem Bestandteile seiner Umgebung gehabt haben, so daß die natürliche Zuchtwahl nichts zu tun hätte, als einen so bedeutenden Anfang weiter auszubilden, teils in bestimmterer Ausprägung der schützenden Ähnlichkeit, teils auch in der Anpassung der Lebensgewohnheiten an die Benutzung dieses Schutzes. In der Tat scheint diese Erklärung die einzige, welche[703] mit der ausschließlichen Verwendung des Prinzips der Zuchtwahl vereinbar ist. Statt des zufälligen Zusammentreffens einer Menge feiner Striche und Farbenmischungen hätten wir hier also ein ursprünglich gegebenes rohes Gesamtbild, welches wenigstens in einigen Fällen die Verfolger schon täuschen und damit zu dem bekannten Prozeß der natürlichen Zuchtwahl den Anstoß geben konnte. Nun muß aber bemerkt werden, daß es Fälle gibt, auf welche diese ganze Erklärungsweise unmöglich angewandt werden kann. Es sind dies im Grunde alle diejenigen Fälle, in welchen die schützende Form und namentlich die Farbe von den Formen und Farben der nächstverwandten Spezies sehr stark und auffallend abweicht. Solche Fälle sind aber ungemein zahlreich. Bennet erwähnt einen Fall, in welchem eine Schmetterlingsart sich von allen ihren Verwandten, welche fast rein weiß sind, sehr weit entfernt und die blühenden Farben eines Schmetterlings von einer ganz andern Klasse nachahmt. Der letztere ist für die verfolgenden Vögel giftig und wird daher von ihnen vermieden; der nachahmende Schmetterling aber, welcher den Vögeln sehr gut bekommen würde, schützt sich durch seine Ähnlichkeit mit dem giftigen.

Solche und ähnliche Fälle müssen mit Notwendigkeit dazu führen, hier noch andre, wenn auch zurzeit unbekannte Faktoren anzunehmen, welche die Erscheinungen der Nachahmung hervorbringen. Daß eine rationelle Naturforschung trotz der Schwierigkeiten dieser Fälle nicht zu einer mystisch eingreifenden teleologischen Kraft ihre Zuflucht nehmen, sondern das Axiom von der Begreiflichkeit der Welt auch hier anwenden wird, versteht sich ganz von selbst. Dabei kommt uns zu Hilfe, daß ein Einfluß der Umgebung auf die Färbung der Tiere, aller Wahrscheinlichkeit nach vermittelt durch die Augen und das Nervensystem, ohnehin nichts Unerhörtes ist. Wir erwähnen hier namentlich die Versuche Pouchets über Farbenänderungen bei Steinbutten und Groppfischen.477 Daß die Fische sehr häufig die Färbung des Bodens ihrer Gewässer haben, war längst bekannt, und es braucht nicht bezweifelt zu werden, daß bei dieser sehr einfachen »Mimikry« in manchen Fällen auch die natürliche Zuchtwahl das Hauptmittel zu ihrer Herstellung gewesen ist. In den Versuchen Ponchets aber wechseln dieselben Fische binnen wenigen Stunden ihre Farbe je nach der Farbe des Grundes, über welchen man sie gebracht hat. Ist nun auch bei den Fischen in den veränderlichen Pigmentzellen, welche sie besitzen, ein Mechanismus gegeben, den wir bei den Flügeln der Insekten[704] schwerlich wiederfinden werden und der den Vorgang einer so schnellen Farbenänderung erklärlich macht, so bleibt doch der Hauptpunkt in beiden Fällen ganz analog: daß nämlich Farben äußerer Gegenstände durch Vermittlung des Nervensystems analoge Farben des Tieres hervorbringen. Ob die betreffenden Nervenvorgänge mit einer inneren Erregung des Wünschens und Wollens verbunden sind, kann dabei zunächst ganz gleichgültig erscheinen. Die Lösung des Rätsels oder vielmehr das zu lösende Kernrätsel liegt in dem noch unentdeckten Mechanismus, welcher die Wirkung hervorbringt und den man sehr wohl unter die »geordneten Reflexe« einreihen kann, sobald man sich an den Gedanken gewöhnt, daß es neben den momentan wirkenden Reflexen auch sehr langsam wirkende, mit ihrer Wirkung vielleicht erst in der Folge von Generationen hervortretende geben kann. Daß diese Reflexe, gleich den bekannten geordneten Reflexwirkungen im Rückenmark der Wirbeltiere, zugleich zweckmäßig sind, kann man dann wieder sehr einfach auf das alte empedokleische Prinzip zurückführen, daß nur das Zweckmäßige sich erhalten und ausbilden kann, während Mißbildungen, die an sich gleich möglich und häufig sein mögen, untergehen und spurlos verschwinden.

Überhaupt soll mit der Anschauung, welche wir hier als die natürliche und wahrscheinlichste vortragen, in keiner Weise die natürliche Zuchtwahl und der Kampf um das Dasein beiseite geschoben werden. Wir betrachten vielmehr diese starken Hebel aller Entwicklung als empirisch und rationell gleich gut erwiesen und denken sie uns mit den positiveren Einflüssen auf das Werden der Formen unter allen Umständen zusammenwirkend, und zwar so, daß die eigentliche Vollendung und Abrundung aller Formen, die Beseitigung unvollkommner Zwischenformen und die ganze Erhaltung des Gleichgewichtes unter den Organismen im wesentlichen auf diesem großen, durch Darwin in die Naturforschung eingeführten Faktor beruht.

Freilich darf man nicht verkennen, daß auch bei der Vollendung und Abrundung der organischen Formen noch andre, und zwar positivere Faktoren mitwirken mögen, denen die Zuchtwahl und der Kampf um das Dasein nur als ein großer Regulator, Vollkommnes fördernd, Unvollkommnes vertilgend, sich anschließt. Erwähnen wir zunächst das von Darwin selbst wiederholt hervorgehobene Prinzip der »Korrelation des Wachstums!«478 Nach diesem Prinzip entstehen Formveränderungen, welche an sich nichts mit[705] dem Kampf um das Dasein zu schaffen haben, als notwendige Konsequenzen einer ersten, durch natürliche Zuchtwahl bedingten Veränderung; und zwar ist der Zusammenhang der so entstehenden sekundären Veränderungen mit der primären bald leicht einzusehen, bald aber in völliges Dunkel gehüllt. Daß z.B. die schweren, hängenden Ohren einiger Kaninchenarten einen modifizierenden Druck auf den Schädel ausüben müssen, vermögen wir nach mechanischen Prinzipien einzusehen; daß bei sehr starker Ausbildung der vorderen Gliedmaßen die hinteren eine Tendenz haben, schlanker zu werden, scheint uns ebenfalls noch begreiflich, aber warum z.B. weiße Katzen mit blauen Augen gewöhnlich taub sind, warum Georginen mit Scharlachfarbe eingeschnittene Kronenblätter bekommen, ist für uns einstweilen rein unverständlich. Da nun aber solche Zusammenhänge in sehr großer Zahl existieren, so sehen wir daraus, daß im Bau der Organismen Bildungsgesetze walten, welche uns nicht nur nach dem Umfang ihrer Wirkungen, sondern selbst der Art nach noch unbekannt sind. Dabei ist es natürlich nicht notwendig, an irgendwelche uns noch unbekannte Kräfte zu denken; ein eigentümliches Zusammenwirken der allbekannten Naturkräfte genügt, um diese seltsamen Konsequenzen zu erklären, die man mit Darwin kurz dahin zusammenfassen kann, daß niemals eine Veränderung eines einzelnen Teiles unter Beibehaltung aller übrigen Eigentümlichkeiten der Form eintritt.

Die zum Ganzen strebenden Bildungsgesetze, welche hier hervortreten, sind nun aber wahrscheinlich dieselben, die unter Umständen rein »morphologische Arten« bilden, ohne allen nachweisbaren Nutzen im Kampf um das Dasein. Das Entstehen solcher Arten wurde zunächst in nachdrücklicher Weise von Nägeli behauptet, der damit die Ansicht verband, daß in den Organismen eine angeborene Neigung zur progressiven Entwicklung liege. Darwin hat in den neueren Auflagen seines Werkes die Existenz morphologischer Charaktere anerkannt, ohne jedoch die Lehre von der natürlichen Neigung zur progressiven Entwicklung anzunehmen, welche in der Tat auf den ersten Blick dem ganzen Darwinismus aufs schärfste zu widersprechen scheint.479 So faßt auch Kölliker das Entwicklungsgesetz der Organismen, welches er annimmt, als unvereinbar mit der Hypothese Darwins auf.480 Den Grundfehler derselben findet er in der Aufstellung des Nützlichkeitsprinzips als Grundlage des Ganzen, die »keinen Sinn« habe. Nun sind wir[706] darin mit Kölliker durchaus einverstanden, daß positive Ursachen der Entwicklung angenommen werden müssen, welche nicht im Nützlichkeitsprinzip, sondern in der inneren Anlage der Organismen ihren Grund haben; allein neben allen diesen positiven Ursachen hat das Nützlichkeitsprinzip seinen sehr guten Sinn in Verbindung mit dem Gesetze des Kampfes um das Dasein, welches auf negativem Wege den blinden Drang des Werdens und Wachsens beherrscht und die wirklichen Formen von nach den »Entwicklungsgesetz« möglichen sondert.

Kölliker bemerkt, daß sowohl Darwin als auch seine Anhänger bei der Erklärung des Variierens auch an innere Ursachen gedacht hätten; »allein indem sie dies tun, verlassen sie den Boden ihrer Hypothese und stellen sich auf die Seite derer, die ein Entwicklungsgesetz annehmen und innere, in den Organismen selbst liegende Ursachen als Gründe ihrer Umgestaltung aufstellen.«

Richtig ist, daß Darwin mit jener großartigen und so oft erfolgreichen Einseitigkeit, die wir besonders häufig bei den Engländern wahrnehmen, sein Prinzip durchgeführt hat, als müsse er alles ausschließlich aus diesem entnehmen, und da das Prinzip, wie wir voraussetzen, überall bei der Erzeugung des Wirklichen entscheidend eingreift, so mußte dies Verfahren sich sehr weit durchführen lassen. Die überall mitwirkende Ursache wurde behandelt, als ob sie allein da wäre, aber eine dogmatische Behauptung, daß sie allein da sei, ist kein notwendiger Bestandteil des Systems. Darwin nimmt überall da, wo er sich auf die Mitwirkung innerer Ursachen geführt sieht, diese Mitwirkung so unbefangen in seine Erklärung der Naturformen auf, daß man eher annehmen kann, er habe sie als selbstverständlich betrachtet. Daß er möglichst wenig aus dieser Quelle ableitet, dagegen möglichst viel aus der natürlichen Zuchtwahl, ist wiederum für ihn, als den Vertreter eines neu in die Wissenschaft eingeführten Prinzips, eine durchaus richtige Methode; denn die Wirkung der Zuchtwahl, der natürlichen, erläutert durch die künstliche, ist etwas durchaus Verständliches – wenigstens nach ihrer negativen und regulativen Seite, die wir schon wiederholt als die Hauptsache hervorgehoben haben. Der Kampf um das Dasein ist uns vollkommen klar, und jede Zurückführung einer Erscheinung auf diesen großen Faktor der Schöpfung ist daher eine wirkliche Erklärung der Sache, während die Zuflucht zu den Entwicklungsgesetzen für einstweilen nur eine Anweisung auf die Zukunft[707] ist, da wir vielleicht einmal in das Wesen dieser Entwicklungsgesetze einen Einblick gewinnen.

Bei alledem sind die Verdienste von Nägeli und Kölliker um die Hervorhebung der positiven und inneren Bildungsursachen sehr hoch anzuschlagen, und eine philosophisch-kritische Betrachtung des ganzen Problems der Entwicklung wird durchaus beiden Standpunkten gerecht werden und ihre Beiträge zum Verständnisse der Erscheinungen in die richtige Verbindung bringen müssen.

Als ein besonders schlagendes Beispiel für die Wirksamkeit eines Entwicklungsgesetzes betrachtet man mit Recht die Umwandlung einiger Exemplare des kiementragenden Axolotl in eine kiemenlose Molchform. Von Hunderten dieser Tiere, welche man aus Mexiko nach Paris gebracht hatte, blieb die große Mehrzahl auf der niedrigen Stufe stehen; einige wenige krochen aufs Land und wurden lungenatmende Lufttiere. Sie erreichten eine Form, zu welcher sich ihre frühere als Larvenform, oder als Vorstufe in der Entwicklung verhält, so daß also der ganze Vorgang sich ohne weiteres einer Reihe schon bekannter Vorgänge anschloß. In der Regel zwar muß ein Tier, welches verschiedne Entwicklungsstadien durchmacht, die höchste Stufe erreichen, bevor es sich fortpflanzen kann; aber Ausnahmen von dieser Regel sind jetzt schon in größerer Anzahl bekannt; ja man kann sogar die Tritonen künstlich verhindern, ihre letzte Entwicklungsstufe zu erreichen. Wenn man sie in einem geschlossenen Wasserbecken hält, verlieren sie ihre Kiemen nicht, bleiben auf der Stufe des Wassermolches stehen, werden aber gleichwohl geschlechtsreif und pflanzen sich fort. In gleicher Weise bringen eigentümliche Existenzbedingungen der Tiere ohne Mitwirkung des Menschen nicht selten ähnliche Veränderungen hervor; z.B. daß eine Art von Fröschen den Zustand der Kaulquappen schon im Ei durchmacht und als fertiger Frosch aus dem Ei schlüpft. In allen diesen Fällen ist das Zusammenwirken der innern Bildungsursachen mit den Existenzbedingungen offenbar, und es läßt sich nicht leugnen, daß natürliche Zuchtwahl in einigen derselben die entscheidende Rolle spielt; allein bei der Umwandlung des Axolotl, der sich plötzlich aus einem Wassertier in ein Lufttier verwandelt, kann von Zuchtwahl oder Kampf um das Dasein keine Rede sein. Vom Standpunkt des einseitigen Darwinismus kann man die Sache nur so fassen, daß man die ganze Umwandlung unter den Begriff des Variierens bringt und dabei vielleicht[708] die Versetzung in ein andres Klima als Anlaß des Variierens gelten läßt. In der freien Natur würde nun die neue Form den Kampf um das Dasein durchzumachen und sich durch Inzucht zu befestigen haben, bevor der Prozeß der Artbildung vollendet wäre. – Man sieht nun aber leicht, daß eine solche Erweiterung des Begriffs der Variation im Grunde alles in sich schließt, was die Vorkämpfer des Entwicklungsgesetzes nur verlangen können; denn niemand wird glauben, daß diese Wandlung eine zufällige sei, neben welcher ebensogut beliebige andre hätten eintreten können; sondern man sieht, daß hier eine Bewegung auf einer gleichsam vorgezeichneten Bahn zurückgelegt wurde.481

Die ganze Schwierigkeit der Verständigung steckt hier darin, daß man den Begriff des Entwicklungsgesetzes richtig fasse. Das Wort klingt manchem Naturforscher etwas verdächtig; etwa wie wenn von einem »Schöpfungsplan« die Rede ist und dabei an eine Stufenfolge wiederholter Eingriffe übernatürlicher Kräfte gedacht wird. Es ist aber nicht der mindeste Grund dazu vorhanden, bei den »inneren Ursachen«, von denen hier die Rede ist, irgendeine mystische Beihilfe zu dem gewohnten Gang der Naturkräfte vorauszusetzen. So kann denn auch das »Entwicklungsgesetz«, nach welchem die Organismen in bestimmter Stufenfolge aufsteigen, nichts andres sein, als die einheitlich gedachte Zusammenwirkung der allgemeinen Naturgesetze, um die Erscheinung der Entwicklung hervorzubringen. Das »Entwicklungsgesetz« Köllikers ist so gut wie die zahlreichen Gesetze der Formenbildung, welche Haeckel aufstellt, logisch betrachtet, zunächst nur ein sogenanntes »empirisches Gesetz«, d.h. eine der Beobachtung entnommene Zusammenfassung gewisser Regeln in den Naturvorgängen, deren letzte Ursachen wir noch nicht kennen. Wir können aber doch versuchen, uns von den wahren, natürlichen Ursachen, welche dem Entwicklungsgesetz zugrunde liegen, eine Vorstellung zu machen, und wäre es auch nur, um zu zeigen, daß zur Flucht in eine mystische Vorstellungsweise nicht die mindeste Veranlassung vorliegt.

Haeckel hat den Gedanken ausgesprochen, daß seine Plastiden-Theorie zurückzuführen sei auf eine Kohlenstoff-Theorie, d.h. daß in der Natur des Kohlenstoffs – freilich in einer noch völlig dunkeln Weise – die Ursache zu suchen sei für die eigentümlichen Bewegungen, welche wir im Protoplasma beobachten, und die wir als die Elemente aller Lebenserscheinungen betrachten. Es ist mit diesem Gedanken nicht sehr viel gewonnen, allein wir können ihn hier[709] zur Anknüpfung benutzen, um unsre Vorstellung vom Wesen des Entwicklungsgesetzes daran anzuknüpfen.

Betrachten wir die Chemie der Kohlenstoffverbindungen etwas näher, so finden wir, daß für die Bildung der organischen Säuren heutzutage schon eine vollständige Theorie vorliegt, die wir sehr wohl mit einem Entwicklungsgesetze vergleichen können. Der »Plan« dieser ganzen Entwicklung liegt vorgezeichnet in der Lehre von der »Wertigkeit« der Atome, und indem nach einem bestimmten Prinzip der Substitution jede gegebene organische Säure gleichsam zu einer andern weiter entwickelt werden kann, haben wir eine, wie es scheint ins Unendliche verlaufende Möglichkeit immer komplizierterer und immer mannigfaltigerer Bildungen vor uns, welche trotz ihrer ungeheuren Fülle nur eine enge und streng vorgeschriebene Bahn verfolgen. Was entstehen oder nicht entstehen kann, ist im voraus durch gewisse hypothetische Eigenschaften der Moleküle bestimmt.482

Wir könnten hier schon abbrechen und einfach den in seinen Grundzügen bekannten Plan aller möglichen organischen Substanzen als erläuterndes Bild mit dem noch unbekannten Plan aller überhaupt möglichen Tierformen zusammenstellen. Wir wollen aber einen Schritt weitergehen und an den Zusammenhang zwischen Kristallform und Zusammensetzungsweise des kristallisierten Stoffes erinnern. Daß ein ähnlicher Zusammenhang zwischen Stoff und Form auch bei den Organismen bestehe, ist kein neuer Gedanke. Die Analogie liegt sehr nahe und ist schon oft zu Betrachtungen aller Art benutzt worden. Daß man dabei schließlich auch auf Eigentümlichkeiten der Moleküle zurückkommt, ist sehr natürlich. Für unsern Zweck kann es ganz gleichgültig sein, ob man die Form mit einem bestimmten, für das Tier charakteristischen Stoff in Verbindung bringen will, der im Stammbaum der Stoffe eine bestimmte Stellung einnimmt, oder ob man sie als Resultat einer Zusammenwirkung aller im Tierkörper vorhandenen Stoffe ansieht. Auch dürfte beides im Grunde auf dasselbe hinauskommen. Genug, sobald nur in irgendeiner Weise ein Zusammenhang zwischen Form und Stoff eingeräumt wird, haben wir das Entwicklungsgesetz der Organismen in greifbarster Gestalt vor uns als das Substitutionsgesetz der Kohlenstoffverbindungen.

Möge die Sache sich nun so oder anders verhalten: auf alle Fälle wird diese Ausführung genügen, um zu zeigen, daß man sich unter dem Entwicklungsgesetz nichts Übernatürliches oder Mystisches[710] vorzustellen braucht, und damit dürfte der Hauptwiderstand gegen die Anerkennung seiner Bedeutung beseitigt sein. Das Entwicklungsgesetz gibt die möglichen Formen; die natürliche Zuchtwahl wählt aus der ungeheuren Fülle derselben die wirklichen; sie kann aber nichts hervorrufen, das nicht im Plan der Organismen enthalten ist, und das bloße Nützlichkeitsprinzip wird in der Tat ohnmächtig, wenn man von ihm eine Modifikation des Tierkörpers verlangen wollte, die gegen das Entwicklungsgesetz ist. Hierdurch aber wird Darwin nicht getroffen, da er sich an die Auswahl des Nützlichen unter den spontan hervortretenden Variationen hält; seine Lehre wird nur ergänzt, insofern anzunehmen ist, daß der Kreis der möglichen Variationen von einem allgemeinen Entwicklungsgesetze bedingt wird.

Man könnte nun denken, die Annahme eines solchen Entwicklungsgesetzes mache die Theorie der natürlichen Zuchtwahl überflüssig, da ja die Fülle der Formen sich im Laufe der Zeiten ohne alle Zuchtwahl ergeben müsse. Eine solche Meinung übersieht zunächst die ungeheure Bedeutung des Wettbewerbs um das Dasein, der eben nicht nur Theorie, sondern erwiesene Tatsache ist. Zugleich aber muß man festhalten, daß das Entwicklungsgesetz, wir mögen uns nun darunter verborgen denken, was wir wollen, auf keinen Fall eine dämonisch wirkende Macht ist, welche die reinen Formen, wie sie seinen Bedingungen entsprechen, unbedingt herstellt. Wenn wir schon in der Kristallisation, die unter so viel einfacheren Bedingungen steht, die mannigfachsten Unregelmäßigkeiten entdecken, so daß der Kristall der Theorie eigentlich nur ein Ideal ist, so werden wir bei den Organismen leicht einsehen, daß das Entwicklungsgesetz Störungen und Mißbildungen aller Art, gemischte Formen neben den reinen, unvollkommne neben den Typen nicht verhindern kann, wiewohl es auf alle entstehenden Formen seinen Einfluß übt. Wenn aber schon die reinen Formen nach dem Entwicklungsgesetz ins Unendliche verlaufen, so wird die Zahl des Möglichen durch die modifizierten Formen noch eine ungleich größere, und dennoch bleibt sie stets nur ein Bruchteil des überhaupt Denkbaren. Es kann, wie schon die Materialisten des Altertums einsahen, nicht alles aus allem werden. In jene wuchernde Fülle der Formen tritt nun der Kampf um das Dasein richtend und sichernd hinein und führt das oben beschriebene Gleichgewicht herbei, welches wir erkannten als das Maximum des gleichzeitig möglichen Lebens. Ob dabei diejenigen Formen, auf[711] welche die natürliche Zuchtwahl zuletzt hinausführt, und welche durch sie beharrlich gemacht werden, schließlich immer zugleich die reinsten Typen nach dem Entwicklungsgesetz sind, kann dahingestellt bleiben; jedenfalls aber wird man annehmen, daß die Beharrlichkeit der Arten um so größer wird, je mehr dies Zusammentreffen erreicht wird.


Eine ernstlichere Frage, welche sich hier darbietet, ist die, ob bei der Annahme eines mechanisch wirkenden Entwicklungsgesetzes die gleich aussehenden Urformen der Organismen, aus denen wir alle jetzt lebenden Formen herleiten, in Wirklichkeit als gleich beschaffen anzusehen sind oder nicht. Wir wollen mit der Stellung dieser Frage nicht an jenem Gesetze rütteln, welches die einflußreichsten Vertreter der Deszendenzlehre für so überaus wichtig erklären: an dem Gesetze der Übereinstimmung von »Ontogenie« und »Phylogenie«, wie Haeckel sagt, oder an der Lehre, daß von jedem Wesen die Stadien seiner Vorgeschichte in der eignen Entwicklungsgeschichte, zumal im Fötalleben, summarisch wiederholt werden. Wir wollen zunächst nur bemerken, daß dies Gesetz für die Theoretiker der Deszendenzlehre zwar von ungemeiner heuristischer Wichtigkeit ist, daß aber seine Notwendigkeit gerade vom Standpunkte des reinen Darwinismus aus schwerlich einzusehen ist. Von einem Nutzen des Durchlaufens dieser Stadien für den Kampf um das Dasein kann keine Rede sein, und das Prinzip der Vererbung gilt nicht so unbedingt, daß es für jene Übereinstimmung aufkommen könnte. Es kann also wohl nicht anders sein, als das chemische und physikalische Ursachen vorhanden sind, welche das Durchlaufen dieser Stadien notwendig machen, und darin liegt schon die Anerkennung des Entwicklungsgesetzes, wie wir es fassen, enthalten.


Fragt man nun aber, ob die gleich oder ähnlich aussehenden Formen in den ersten Entwicklungsstadien auch wirklich gleich beschaffen sind, so könnte man das Gegenteil schon einfach aus der Tatsache entnehmen, daß sich Verschiednes aus ihnen entwickelt. Wenn z.B. der Embryo des Hundes mit demjenigen des Menschen in der vierten Woche der Entwicklung eine auffallende Ähnlichkeit hat, so wird eben doch aus dem einen ein Hund und aus dem andern ein Mensch. Man könnte nun annehmen, daß diese nicht unbedeutende Verschiedenheit sich erst allmählich dadurch entwickelte, daß der eine der beiden ähnlichen Embryonen fortwährend[712] mit den Säften eines Hundes, der andre mit denen eines Menschen ernährt wird; allein mit dieser ziemlich rohen Betrachtungsweise ist z.B. bei den Eiern der Vögel nicht mehr durchzukommen. Bedenken wir nun das von Darwin so richtig nachgewiesene Prinzip der Vererbung erworbener Eigenschaften, so werden wir bald sehen, wie ungleich feiner wir uns hier den wahren Sachverhalt vorzustellen haben. Man nehme z.B. zwei Taubeneier, von denen das eine ein Individuum enthält, welches die erbliche Anlage in sich hat, in der Luft sich zu überschlagen, das andre ein möglichst ähnliches Individuum ohne diese Anlage. Wo steckt nun der Unterschied? Von außen kann er nicht hineinkommen. Er muß im Ei stecken; wie aber, das wissen wir nicht. Wir wissen jetzt nur, daß diese Gleichheit der äußeren Erscheinung himmelweit von Gleichheit des Wesens entfernt ist. Haeckel, der auf die Gleichheit der ersten Stufen ein sehr großes Gewicht legt, weil er in ihr ein sprechendes Zeugnis für die ursprüngliche Wesenseinheit aller Organismen erblickt, erkennt gleichwohl die Notwendigkeit, innere Unterschiede anzunehmen. »Die Unterschiede,« bemerkt er »welche zwischen den Eiern der verschiedenen Säugetiere und Menschen wirklich vorhanden sind, bestehen nicht in der Formbildung, sondern in der chemischen Mischung, in der molekülaren Zusammensetzung der eiweißartigen Kohlenstoffverbindung, aus welcher das Ei wesentlich besteht. Diese feinen individuellen Unterschiede aller Eier, welche auf der indirekten oder potentiellen Anpassung (und zwar speziell auf dem Gesetze der individuellen Anpassung) beruhen, sind zwar für die außerordentlich groben Erkenntnismittel des Menschen nicht direkt sinnlich wahrnehmbar, aber durch wohlbegründete indirekte Schlüsse als die ersten Ursachen des Unterschiedes aller Individuen erkennbar.«483

Chemische Unterschiede sind aber Wesensunterschiede, und wir haben sonach in den ähnlichen Eiern Dinge vor uns, welche ihrem Wesen nach sehr verschieden sind, während sie, offenbar durch ein allgemeines, aber noch unbekanntes Gesetz, in äußerlich gleiche Formen gebracht werden. Ob dabei nicht doch auch Unterschiede der Struktur mitspielen, wissen wir nicht. Was sagen wir denn damit, wenn wir von der Strukturlosigkeit des Protoplasma reden? Doch wohl weiter nichts, als daß wir mit unsern groben Beobachtungsmitteln keine Struktur zu erkennen vermögen. Solange die Bewegungserscheinungen des Protoplasma nicht mechanisch erklärt sind, muß die Frage nach der Struktur desselben eine offene[713] bleiben.484 Ist doch im letzten Sinne auch die chemische Beschaffenheit der Moleküle Struktur!

Man denke sich die fertig zugehauenen Steine zu einem gotischen und zu einem romanischen Dome auf zwei Lagerplätzen von gleicher Form und spärlichsten Dimensionen so aufgeschichtet, daß jedes Fleckchen benutzt ist, und daß die beiden Massen eine gleiche äußere Gestalt gewinnen. Dann ist es sehr wohl denkbar, daß diese Massen von Baumaterial aus einiger Entfernung wie zwei ganz gleiche Bauwerke aussehen. Wenn nun aber die Stücke auseinandergenommen und richtig zusammengefügt werden, so kann aus der einen dieser Massen nur der gotische, aus der andern nur der romanische Dom hervorgehen.

Hat man dies aber einmal erkannt, so muß man auch die Konsequenzen ziehen, teils in der Anerkennung dessen, daß chemische Verhältnisse ihre Regel und gleichsam ihren Entwicklungsplan haben, teils aber auch in der Beurteilung der ganzen Stellung der Morphologie zur Genesis der Organismen. Wir müssen nämlich den Satz einräumen, daß unbekannte Eigentümlichkeiten der Stoffe, wahrscheinlich chemische, auf die Entwicklung der Wesen auf ihre zukünftige Gestalt und ihre Lebensgewohnheiten einen entscheidenden Einfluß üben können, während doch in den ersten Elementarformen ebendieselben Eigentümlichkeiten schon vorhanden sind, ohne eine für uns erkennbare Verschiedenheit hervorzurufen.

Was für das Individuum gilt, muß aber auch für die Gesamtheit der Organismen in ihrer historischen Entfaltung gelten: die einfachen Urformen, welche alle Wesen durchlaufen müssen, sind nicht notwendig wesensgleich. Sie können in einer feineren, für uns unerkennbaren Struktur oder in ihrer chemischen Zusammensetzung ebenso verschieden sein, als sie morphologisch gleich sind. So wichtig daher auch Haeckels Gastrula-Theorie für die Vollendung der Morphologie und für die hypothetische Ergänzung der gesamten Deszendenzlehre sein mag, so kann doch in ihr niemals ein Beweis gefunden werden für die »monophyletische« Deszendenz d.h. für die Abstammung sämtlicher Organismen von einer und derselben Art von Urwesen.485

Von vornherein ist es natürlich ungleich wahrscheinlicher, daß von Anbeginn des Lebens eine größere Zahl nicht völlig gleicher und nicht gleich entwicklungsfähiger Keime vorhanden war, sei es nun daß man diese Keime aus dem Meteorstaub des Weltenraumes ableitet,[714] sei es, daß sich das Leben aus den Moneren des Meeresgrundes entwickelt habe. Wenn man aber auf die »polyphyletische« Abstammung der Organismen deshalb einen besondern Wert legt, weil sie das Mittel zu bieten scheint, den Menschen von der übrigen Tierwelt abzusondern, so werden wir im folgenden Kapitel noch Gelegenheit haben zu zeigen, daß mit dieser Möglichkeit durchaus kein tieferes philosophisches Interesse verknüpft ist. Der Kampf der Meinungen mag sich daher hier an der Auffassung und Beurteilung der Tatsachen abspielen. Prinzipien kommen dabei nur in Betracht, soweit es sich um die Frage des Entwicklungsgesetzes handelt, die jedoch nicht auf diesem Boden entschieden wird. Wollte etwa ein extremer Darwinismus die monophyletische Deszendenz so verstehen, daß alle Unterschiede in der inneren Beschaffenheit der organischen Urformen geleugnet und alle gewordenen Unterschiede auf die natürliche Zuchtwahl zurückzuführen seien, ohne irgendwelche Mitwirkung innerer Entwicklungsgründe, so wäre das allerdings eine sehr konsequente Metaphysik, allein eine sehr unwahrscheinliche naturwissenschaftliche Theorie. Dagegen ist die gemäßigte und vorsichtige Art, in welcher Haeckel die monophyletische Deszendenz wenigstens für das Tierreich, und namentlich für die höheren Formen desselben als die wahrscheinlichere behauptet, durchaus zulässig.486 Man stützt sich dabei hauptsächlich auf die Lehre vom »Schöpfungsmittelpunkt« jeder einzelnen Spezies und jeder Gattung, und diese Lehre wird wiederum empirisch unterstützt durch die Bemerkung, daß sich der oft seltsam gestaltete Verbreitungsbezirk der Arten in der Regel sehr gut erklären läßt, wenn man einen bestimmten Entstehungspunkt annimmt und die Möglichkeiten einer Wanderung von hier aus mit Rücksicht auf den wahrscheinlichen früheren Zustand der Erde erörtert.

Daß in dieser ganzen Lehre noch ungemein viel Hypothetisches und Zweifelhaftes ist, tut ihrem Werte keinen Eintrag, da es sich um die erste Grundlegung einer Geschichte der Organismen handelt. Die genauere Prüfung, die strengere Abwägung der Wahrscheinlichkeiten wird hier, wie überall, mit dem Fortgang der Wissenschaft sich einfinden. Dagegen darf wohl erinnert werden, daß die ganze Lehre von dem einheitlichen Schöpfungsmittelpunkt, wenn sie nicht einen metaphysischen und sogar mystischen Charakter gewinnen soll, wohl nur eine Maxime der Forschung und eine für die meisten Fälle geltende empirische Beobachtung sein[715] kann. Zu einer Verallgemeinerung durch Induktion eignet sie sich durchaus nicht, da keine natürliche Ursache denkbar ist, welche verhindern sollte, daß aus einer weit verbreiteten Stammform an zwei verschiedenen Punkten zugleich ein und dieselbe neue Spezies hervorgehen sollte. Aus dem gleichen Grunde ist aber auch die Unterstützung der monophyletischen Theorie durch die Lehre von den Schöpfungsmittelpunkten nicht gar zu hoch anzuschlagen. Die letztere könnte empirisch in neun Zehnteln aller Fälle als richtig nachgewiesen sein, ohne daß deshalb auch die erste Entstehung einfachster Organismen von einem solchen einheitlichen Mittelpunkte ausgehen müßte.

Die ganze Sache gewinnt natürlich ein andres Aussehen, wenn man sich rein auf den morphologischen Gesichtspunkt beschränkt; denn da sind allerdings Ursachen denkbar, welche alle Organismen zwingen könnten, eine gewisse Stufenfolge von Formen zu durchlaufen; einerlei, ob ihr inneres Wesen – wir verstehen darunter zunächst die chemische Zusammensetzung – identisch wäre oder nicht. Der Unterschied würde sich jedoch alsdann darin verraten, daß die einen dieser Organismen beständig auf den untersten Stufen beharren müßten, während die andern sich unter dem Einflusse der natürlichen Zuchtwahl und des immanenten Entwicklungsgesetzes zu höheren Formen erheben würden.

Es kann nicht unsre Aufgabe sein, hier alle die zahlreichen formell und materiell interessanten Fragen zu erörtern, welche der Darwinismus und die Opposition gegen denselben hervorgerufen haben. Für uns ist das Wesentliche, zu zeigen, wie alle Verbesserungen und Einschränkungen der Lehre Darwins, welche man vorgebracht hat und noch vorbringen mag, sich doch im wesentlichen stets auf denselben Boden einer rationellen, nur begreifliche Ursachen zulassenden Naturbetrachtung stellen müssen. Die strenge Durchführung des Kausalitätsprinzips unter Beseitigung aller unklaren Annahmen von Kräften, die aus bloßen Begriffen abgeleitet werden, muß für das gesamte Feld der Naturwissenschaften der leitende Gesichtspunkt bleiben, und was etwa in dieser konsequenten Durchführung der mechanischen Weltanschauung für unser Gefühl Unbefriedigendes und Verletzendes liegen mag, wird, wie wir noch hinlänglich zeigen werden, auf einem andern Boden seine Ausgleichung finden.

Wenn sonach die Opposition gegen Darwin teils offen, teils halb unbewußt von der Vorliebe für die alte teleologische Welterklärung[716] ausgeht, so kann eine gesunde Kritik nur im Gegenteil die Grenzlinien ziehen, daß keine Bekämpfung des Darwinismus naturwissenschaftlich berechtigt ist, welche nicht in gleicher Weise wie der Darwinismus selbst von dem Prinzip der Erklärbarkeit der Welt unter durchgehender Anwendung des Kausalitätsprinzips ausgeht. Wo sich daher auch immer in der Zuhilfenahme eines »Schöpfungsplanes« und ähnlicher Begriffe der Gedanke verbirgt, es könne aus einer solchen Quelle mitten in den geregelten Lauf der Naturkräfte hinein ein fremdartiger Faktor fließen, da befindet man sich nicht mehr auf dem Boden der Naturforschung, sondern einer unklaren Vermengung naturwissenschaftlicher und metaphysischer, oder vielmehr in der Regel theologischer Anschauungen. Jeder Eingriff einer mystischen Kraft, welcher eine Anzahl von Molekülen aus der Bahn wegnimmt, in welcher sie sich nach den allgemeinen Naturgesetzen bewegen, um sie gleichsam nach einer Planzeichnung in Reih' und Glied zu stellen – jeder derartige Eingriff würde nach naturwissenschaftlicher Betrachtung eine Arbeit leisten, die sich nach Äquivalenten messen läßt, während sie doch die Äquivalentreihe durchbricht, wie ein in eine richtige Gleichung hineingeschneiter Schreibfehler, der das ganze Resultat verdirbt. Der ganze »Schöpfungsplan«, welchen wir erkennen, das gesamte Resultat der bisherigen wissenschaftlichen Entdeckungen, diese schöne Harmonie eines allumspannenden und einheitlichen Gesetzes würde durchbrochen wie ein schales Kinderspiel. Und wozu? – um an die Stelle eines noch unvollständigen, aber wirklichen Begreifens einen Lappen zu stopfen aus einer Weltanschauung, in welcher nach ihren Grundlagen nur ein schwaches Analogon des Begreifens, nur eine Ordnung der Erscheinungen nach leeren Begriffen und plumpen anthropomorphen Phantasien möglich ist.

Alle jene unzulässigen Durchbrechungen der Kausalreihe lassen sich schließlich auf das Wesen der falschen Teleologie zurückführen, über die wir noch ein Wörtchen zu reden haben werden. Inzwischen gibt es auch eine Teleologie, welche mit dem Darwinismus nicht nur vereinbar, sondern nahezu identisch ist, und es gibt sodann ideale Ausführungen und spekulative Weiterbildungen dieser richtigen Teleologie, welche auf transzendentem Felde liegen, aber ebendeshalb mit den Naturwissenschaften niemals in Konflikt geraten können.

Wenn der Darwinismus gegenüber der plumpen, anthropomorphistischen[717] Teleologie als eine Zufallslehre erscheint, so ist das nur seine durchaus berechtigte negative Seite. Das Zweckmäßige geht aus der Erhaltung relativ zufälliger Bildungen hervor, allein diese Bildungen können nur zufällig genannt werden, sofern wir keinen Grund anzugeben wissen, warum gerade diese in diesem Augenblick auftritt. Im großen ganzen ist alles und somit auch das Auftreten dieser Bildungen, welche durch Anpassung und Vererbung zur Grundlage neuer Schöpfungen werden, notwendig und durch ewige Gesetze bestimmt. Diese Gesetze bringen freilich nicht sofort das Zweckmäßige hervor, sondern sie bringen eine Fülle von Variationen, eine Fülle von Keimen hervor, unter welchen der Spezialfall des Zweckmäßigen, des Fortlebenden vielleicht ein relativ sehr seltner ist. Wir haben gezeigt, daß diese Art, das Zweckmäßige zu bilden, nach menschlicher Zweckmäßigkeit beurteilt, eine sehr niedrige ist; allein der Mensch ist eben auch der komplizierteste aller der unzähligen Organismen, die wir kennen, und mit einem bis ins Unendliche verwickelten Apparat ausgestattet, um auf spezielle Bedürfnisse auch in speziellster und eigentümlichster Weise zu reagieren. Der Mechanismus, welcher dies bewerkstelligt, bleibt seinem eignen Bewußtsein verborgen und es erscheint daher eine menschliche und menschenähnliche Tätigkeit vom Standpunkte roher und unwissenschaftlicher Betrachtung wie eine unvermittelte, vom bloßen Gedanken aus das Objekt ergreifende Kraftwirkung, während sie in der Tat nur die am feinsten vermittelte ist. Läßt man die hieraus fließenden Irrtümer beiseite, so ist jener Mechanismus, durch welchen die Natur ihre Zwecke erreicht, durch seine Allgemeinheit mindestens ebenso hochstehend, als die menschliche Zweckmäßigkeit durch ihren Rang als vollkommenster Spezialfall. Es ließe sich leicht nachweisen, daß selbst in den höchsten Handlungen des Menschen jenes Prinzip der Erhaltung des relativ Zweckmäßigsten noch seine Rolle spielt, allenthalben zusammenwirkend mit den feinsten Apparaten einer spezifischen Reaktion. Selbst die großen Entdeckungen und Erfindungen, welche die Grundlage der höheren Kultur und des geistigen Fortschritts bilden, unterliegen noch jenem allgemeinen Gesetze der Erhaltung des Stärksten, während sie gleichzeitig mit den feinsten Methoden der Wissenschaft und Kunst geprüft werden.

Die ganze Frage der richtigen Teleologie aber läßt sich darauf hinaustreiben, daß man untersucht, inwiefern gerade in dieser Einrichtung der Natur in Verbindung mit dem mechanisch wirkenden[718] Entwicklungsgesetze etwas gefunden werden darf, das man einem »Weltplan« vergleichen darf. Lassen wir dabei vorsichtig alles beiseite, was auf einen menschenähnlich sinnenden »Baumeister der Welten« hinausführt, so bleibt als logischer Kern dieser Frage übrig: Ist diese Welt ein Spezialfall zwischen unzähligen gleich denkbaren Welten, welche entweder ewig chaotisch oder ewig starr bleiben würden, oder ist etwa zu behaupten, daß bei jeder beliebigen Beschaffenheit der Uranfänge nach dem Darwinschen Prinzip sich schließlich Ordnung, Schönheit, Vollendung im gleichen Maße, wie wir sie beobachten, ergeben mußten? Man kann diese Frage auch dahin erweitern, daß man in Zweifel zieht, ob selbst eine geordnete und sich entwickelnde Welt notwendig für den Menschengeist, welcher der Orientierung an bestimmten Klassen und Gattungen der Dinge bedarf, verständlich sein würde, oder ob nicht eine solche Mannigfaltigkeit der Formen und Vorgänge denkbar wäre, daß sie für ein nach Art des Menschen organisiertes Wesen unverständlich bleiben müßte.

Ohne Zweifel wird man zugeben, daß unsre Welt in diesem Sinne ein Spezialfall genannt werden darf, denn wie sehr auch alles Geschehen sich aus einfachen Annahmen mathematisch entwickeln läßt: positive Annahmen, und zwar solche, welche die Entwicklung unsrer Welt ermöglichen, während sie ohne diese Rücksicht ganz anders sein könnten, müssen eben doch gemacht werden. In dieser Beziehung ist selbst Empedokles nicht ohne teleologische Elemente, denn wie konsequent er auch immer die Zweckmäßigkeit des einzelnen aus dem bloßen Durchprobieren aller möglichen Zusammensetzungen hervorgehen läßt, so ergibt sich doch das Spiel der Zusammensetzung und Trennung im großen ganzen mit Notwendigkeit aus den Eigenschaften der vier Elemente und der zwei bewegenden Grundkräfte. Man denke sich nur die letzteren hinweg, und man hat ewige Starrheit oder ewiges Chaos. Ebenso steht es mit dem Systeme der Atomistiker. Man kann hier zwar die Lehre von der Unendlichkeit der Welten benutzen, um den Spezialfall unsrer Welt relativ zufällig zu machen, aber die notwendigen Grundlagen einer verständlichen Welt finden sich eben doch in den fundamentalen Annahmen über die Eigenschaften und die Bewegungsweise der Atome. Man nehme z.B. eine Welt mit lauter runden und glatten Atomen an, und es wird sich nichts von der festen Ordnung der Dinge, die wir um uns her erblicken, bilden können. Es ist hier sogar in bewußter Weise das Prinzip von der[719] Begreiflichkeit der Welt rückschließend angewandt, um die Welt zu einem Spezialfall zu machen, in der sehr feinen und tief durchdachten Lehre von der Endlichkeit des Formenreichtums der Atome.

In der Kantschen Philosophie, welche diese Fragen wieder tiefer als irgendeine andre ergründet hat, wird daher die erste Stufe der Teleologie geradezu identifiziert mit dem Grundsatze, den wir wiederholt als das Axiom von der Begreiflichkeit der Welt bezeichnet haben, und der Darwinismus in weiterem Sinne des Wortes, d.h. die Lehre von einer streng naturwissenschaftlich begreiflichen Deszendenz, steht nicht nur nicht im Widerspruch mit dieser Teleologie, sondern ist im Gegenteil eine notwendige Voraussetzung derselben. Die »formale« Zweckmäßigkeit der Welt ist nichts andres als die Angemessenheit derselben für unsern Verstand, und diese Angemessenheit fordert ebenso notwendig die unbedingte Herrschaft des Kausalgesetzes ohne mystische Eingriffe irgendwelcher Art, als sie auf der andern Seite die Übersichtlichkeit der Dinge durch ihre Ordnung in bestimmte Formen voraussetzt.487

Kant lehrt dann freilich noch eine zweite Stufe der Teleologie, die »objektive«, und hier hat Kant selbst, wie in der Lehre von der Willensfreiheit, nicht überall streng die Linie des kritisch Zulässigen eingehalten; allein mit der wissenschaftlichen Aufgabe der Naturforschung kommt auch diese Lehre nicht in Konflikt. Die Organismen erscheinen uns nach derselben als Wesen, in denen jeder Teil durch jeden andern durchgängig bestimmt wird, und wir werden sodann vermöge der Vernunftidee einer absoluten wechselseitigen Bestimmung der Teile im Weltganzen dazu gebracht, sie so anzusehen, als ob sie Produkt einer Intelligenz seien. Kant hält diese Auffassungsweise für nicht beweisbar und nichts beweisend allein er hält sie mit Unrecht gleichwohl für eine notwendige Folge der Einrichtung unsrer Vernunft. Für die Naturwissenschaften jedoch kann auch diese »objektive« Teleologie niemals etwas andres sein, als ein heuristisches Prinzip; es wird durch sie nichts erklärt, und Naturwissenschaft reicht ein für allemal nur so weit, als die mechanisch-kausale Erklärung der Dinge. Wenn Kant glaubt, bei den Organismen werde diese Erklärungsweise niemals vollständig ausreichen, so ist diese Ansicht, die übrigens keinen notwendigen Teil des Systems bildet, durchaus nicht so zu verstehen, daß die mechanische Naturerklärung irgendwo auf eine feste Schranke stoßen könne, jenseits welcher die teleologische eintreten würde; vielmehr[720] denkt sich Kant nur die mechanische Erklärung der Organismen als einen ins Unendliche verlaufenden Prozeß, bei welchem stets noch ein ungelöster Rest bleiben wird, ähnlich, wie bei der mechanischen Erklärung des Weltganzen. Diese Anschauungsweise gerät aber mit dem Prinzip der Naturforschung in keinen Konflikt, wenn auch die Naturforscher großenteils geneigt sein mögen, sich über diesen jenseit der Erfahrung liegenden Punkt andre Vorstellungen zu bilden.

Aus dem gleichen Grunde ist auch Fechners Teleologie naturwissenschaftlich nicht anfechtbar. Er macht das Prinzip der »Tendenz zur Stabilität« zur Vermittlung zwischen Kausalität und Teleologie, indem er annimmt, daß die allgemeinen Naturgesetze selbst allmählich immer Vollkommeneres mit Notwendigkeit hervorbringen, und darin findet er eine teleologische Anlage des Weltganzen, die er weiterhin auch mit einer schöpferischen Intelligenz in Verbindung bringt. Das Prinzip der Tendenz zur Stabilität selbst ist eine naturwissenschaftliche Hypothese und ein metaphysischer Gedanke zugleich, und es wird sich der Kritik von beiden Seiten unterwerfen müssen; das Weitere sind Glaubensartikel, die ihre Basis jenseit des Erfahrungsgebietes haben.

Um so plumper und handgreiflicher ist dagegen die falsche Teleologie, diejenige, welche mechanische Arbeit aus nichts schafft und damit den Kausalzusammenhang der Natur vernichtet, in Hartmanns »Philosophie des Unbewußten« vertreten. Zwar verwahrt sich Hartmann dagegen, daß seine »Finalität« »etwas neben oder gar trotz der Kausalität Bestehendes« sei, allein seine Durchführung der »Finalität«, und namentlich seine merkwürdige Grundlegung derselben durch vermeintliche Wahrscheinlichkeitsrechnung zeigen sofort, daß eben doch gerade dieses, die Durchbrechung des strengen Kausalzusammenhanges der Natur, die Grundlage seines ganzen Denkens bildet, welches vollständig auf den Standpunkt des Köhlerglaubens und der rohen Naturvölker zurückkehrt.488

Der scheinbare Widerspruch erklärt sich leicht durch die Art, wie Hartmann zwischen Geist und Materie, geistigen und materiellen Ursachen unterscheidet. »Weit entfernt,« sagt er von seiner Teleologie, »die Ausnahmslosigkeit des Kausalitätsgesetzes zu vernichten, setzt sie dieselbe vielmehr voraus, und zwar nicht nur für Materie untereinander, sondern auch zwischen Geist und Materie, und Geist und Geist.« Gleich darauf wird mit großer Seelenruhe[721] die Annahme durchgeführt, daß die wirkende Ursache irgendeines Ereignisses, M genannt, in den gleichzeitig obwaltenden materiellen Umständen nicht vollständig begründet sei, daß man »mithin« die zureichende Ursache von M auf geistigem Gebiete suchen müsse.

Die Schwierigkeit einer vollständigen Analyse der gleichzeitigen materiellen Umstände macht Hartmann keinen Kummer. Die Fälle sind sehr selten, »wo außerhalb eines engen örtlichen Umkreises für den Vorgang wesentliche Bedingungen liegen, und alle unwesentlichen Umstände brauchen nicht berücksichtigt zu werden.« Man sieht sich also in dem »engen örtlichen Umkreise« um, mit soviel Verstand und Naturkenntnis, als man eben zufällig besitzt, wendet etwa auch ein Mikroskop, ein Thermometer oder dergleichen an und was man dann noch nicht bemerkt hat, existiert nicht, oder ist unwesentlich. Hat man nun die vollständige Erklärung von M nicht gefunden, so ist »devil-devil« im Spiele.489

Daß auch in dem »engen örtlichen Umkreise« eine Unendlichkeit von Kräften und Einrichtungen materieller Art wirksam ist, darf man nicht annehmen; sonst gäbe es keine »Philosophie des Unbewußten«. Dem Naturforscher freilich ziemt es in solchen Fällen einfach zu sagen, daß die physische Ursache von M noch nicht entdeckt ist, und in der ganzen Geschichte seiner nie rastenden Wissenschaft wird er den Impuls finden zu neuen Forschungen, die ihn dem Ziele um einen Schritt näher führen. Der Australneger aber und der Philosoph des Unbewußten machen da Halt, wo ihr Vermögen natürlicher Erklärung aufhört und schieben den ganzen Rest auf ein neues Prinzip, mit welchem alles durch ein einziges Wort höchst befriedigend erklärt ist. Die Grenze, bei welcher die physische Erklärung aufhört und der Spuk dafür eintritt, ist bei beiden verschieden; die wissenschaftliche Methode aber ist dieselbe. Dem Australneger z.B. ist der Funke der Leydener Flasche wahrscheinlich devil-devil, während Hartmann ihn noch natürlich erklären kann; allein die Methode des Übergang von dem einen Prinzip zum andern ist durchaus dieselbe. Das Blatt, welches sich zur Sonne wendet, ist für Hartmann, was die Leydener Flasche für den Australneger. Während die Unermüdlichkeit der Forscher gerade auf diesem Gebiete täglich neue Entdeckungen hervorbringt, welche alle darauf hinweisen, daß auch diese Erscheinungen ihre mechanische Ursache haben, hat der Philosoph des Unbewußten mit seinen botanischen Studien hier zufällig an einem Punkte Halt[722] gemacht, welcher das Mysterium noch in voller Unverletztheit bestehen läßt, und hier ist nun natürlich auch die Grenze, wo der phantastische Reflex der eignen Unwissenheit, die »geistige Ursache« eintritt und dasjenige ohne weitere Mühe erklärt, was noch unerklärbar ist.490

Daß Hartmanns geistige Ursachen identisch sind mit dem devil-devil der Australneger, bedarf kaum des Beweises. Die Wissenschaft kennt nur eine Art von Geist: den menschlichen; und wo von »geistigen Ursachen« in wissenschaftlichem Sinne die Rede ist, bleibt stets vorbehalten, daß sich dieselben durch Vermittlung menschlicher Körper geltend machen. Was wir sonst noch etwa von »Geist« annehmen, ist transzendent und gehört in das Gebiet der Ideen. Wir haben das Recht, wenn wir durch den Materialismus hindurch zum Idealismus vorgedrungen sind, alles Bestehende für geistiger Art zu erklären, sofern es zunächst unsre Vorstellung ist; solange wir aber noch zwischen Geist und Materie unterscheiden, haben wir nicht das Recht, Geister und geistige Ursachen zu erfinden, die uns nicht gegeben sind.

Was den Menschengeist betrifft, so wollen wir einmal annehmen, es lasse sich auch die Ansicht verteidigen, welche im Gehirn mechanische Arbeit verschwinden und sich in »Geist« umsetzen sowie umgekehrt eine bestimmte Arbeitsgröße aus bloßem »Geist« entstehen läßt. Daß wir diese Ansicht nicht teilen, sondern vielmehr eine lückenlose Kausalfolge der materiellen Vorgänge annehmen, ist bereits hinlänglich gezeigt worden; doch sei hier einmal das Gegenteil angenommen, damit wir wenigstens zu einem Beispiel gelangen für »geistige Ursachen«, welche materielle Vorgänge erzeugen. Diese hypothetische Ursache nun zu verallgemeinern kann um so weniger zulässig sein, da uns jede Analogie zwischen den Vorgängen in der Natur und denen im Menschen fehlt. Man darf hier wohl an Du Bois-Reymonds Forderung erinnern, daß man ihm, wenn er eine Weltseele annehmen solle, erst irgendwo im Universum das Gehirn derselben nachweise. Warum ist diese Forderung so befremdend? Einfach deshalb, weil wir bei den Dingen in der Natur, bei welchen sich eine anthropomorphe Auffassung am leichtesten darbietet, gar nicht gewohnt sind, an das Gehirn oder gar an Molekularbewegungen innerhalb desselben zu denken. Es sind vielmehr die menschlichen Hände, die wir uns in Götterhände übertragen; überhaupt Lebensäußerungen gedachter Wesen, welche nach Analogie menschlicher Handlungen, nicht[723] menschlicher Hirnbewegungen, in den Lauf der Dinge eingreifen. Der Gläubige sieht im Verlauf der Ereignisse »die Hand Gottes«, nicht eine Molekularbewegung im Hirn der Weltseele. Die Naturvölker denken sich gespenstische Wesen übermenschlich-menschlicher Art überall gegenwärtig. Aus diesen Vorstellungen und nicht aus der Hirntheorie sind überhaupt die Begriffe von nicht materiellen Ursachen hervorgegangen und die ganze Annahme eines »geistigen Gebietes« der Wirkungen, die wir beobachten, ist nichts als ein abgezogener Begriff von diesen bunten Schöpfungen des Glaubens und des Aberglaubens. Die Wissenschaft kennt ein solches »geistiges Gebiet« nicht und kann ihm daher auch keine Ursachen entlehnen. Was sie nicht natürlich, nach den Grundsätzen der mechanischen Weltanschauung, erklären kann, das erklärt sie eben gar nicht. Es bleibt einstweilen ein ungelöstes Problem. Köhlerglaube und Afterphilosophie aber sind sich noch zu allen Zeiten darin begegnet, daß sie das Unerklärliche mit Worten erklärt haben, hinter welchen nichts andres steckt als das gröber oder feiner vorgestellte Gebiet der Gespenster, das heißt eben der phantastische Reflex unsrer Unwissenheit.

Auf diesen Prinzipien beruht nun auch die Möglichkeit einer sehr interessanten Wahrscheinlichkeitsrechnung. Zur Anstellung einer solchen bedarf es einer vollständigen Disjunktion. Würde man sich unter »geistigen Ursachen« irgend etwas Bestimmtes vorstellen, z.B. Handlungen eines menschlichen oder anthropomorph gedachten göttlichen Wesens, so wäre die Disjunktion nicht sicher. Es könnte recht gut Ursachen einer dritten Art geben, wie z.B. Zauberei, Einfluß der Astralgeister, Spiritismus u. dgl., was alles auf diesem Standpunkte sehr ernstlich in Frage käme. Sobald man aber unter »geistig« schlechthin alles versteht, was sich zurzeit nicht als materiell nachweisen läßt, ist die Disjunktion vollständig. Etwaige noch nicht entdeckte materielle Ursachen fallen weg und alles übrige ist devil-devil.

Jetzt läßt sich zeigen, daß die Wahrscheinlichkeit, daß devil-devil im Spiele ist, bei allen Naturvorgängen der Gewißheit gleich ist. Hartmann führt es nicht für alle Naturvorgänge überhaupt durch, sondern nur für denjenigen Teil, welcher in die Philosophie des Unbewußten paßt. Die Methode ist aber ebenso einfach, als ihre allgemeine Anwendbarkeit evident ist. Man nennt die Wahrscheinlichkeit, daß M eine materielle Ursache habe, 1/x, so ist die Wahrscheinlichkeit der »geistigen Ursache« 1 - 1/x. Kann man nun die[724] materiellen Ursachen nicht finden, so wird 1/x verschwindend klein und das Gegenteil zur Gewißheit, die durch 1 ausgedrückt wird.

Noch schöner gestaltet sich die Sache bei der Betrachtung eines bestimmten einzelnen Naturvorganges. Hier hat man nämlich den Vorteil, daß man jeden solchen Naturvorgang zerlegen kann in eine ganze Reihe von verschiednen Teilvorgängen, welche alle, wie billig, einem Zweifel unterliegen, ob sie auch wohl rein physikalisch begründet seien. Alsdann kann man, gestützt auf einen bekannten Satz aus den Elementen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, ohne Gefahr großmütig sein. Man kann die Wahrscheinlichkeit, daß die einzelnen Teilvorgänge aus materiellen Ursachen zustande kommen, ziemlich hoch setzen; dann wird doch die Wahrscheinlichkeit ihres Zusammentreffens sehr gering werden, da sie das Produkt der einzelnen Wahrscheinlichkeiten ist. Man setze z.B., wenn man 15 Teilvorgänge hat, die Wahrscheinlichkeit der physischen Begründung gleich 0,9. Der Naturforscher wird zwar geneigt sein, sie ohne weiteres =1 zu setzen; aber das kommt nur daher, weil er die zurzeit noch nicht beobachteten natürlichen Ursachen mit in Betracht zieht, und weil er aus dem bisherigen Gang der Naturforschung den Induktionsschluß gezogen hat, daß sich bei hinlänglich weiter Ausdehnung der Forschung zuletzt alles aus den gewöhnlichen Naturgesetzen werde erklären lassen. Bei einer solchen Voraussetzung ist das Kunststück der Philosophie des Unbewußten nicht mehr möglich. Bleibt man aber bei der Wahrscheinlichkeit 0,9 stehen, so wird die Wahrscheinlichkeit für den zusammengesetzten Vorgang nach obiger Annahme die fünfzehnte Potenz hiervon sein, und daß ist schon ein recht kleiner Bruch, dem gegenüber nun das kontradiktorische Gegenteil, die »geistige Ursache« im Glanz einer sehr erheblichen Wahrscheinlichkeit dasteht.

Auf die gleiche Art kann man beweisen, daß ein Mensch nicht ohne Hilfe der Fortuna oder eines Spiritus familiaris zehnmal nacheinander im Würfelspiel gewinnen könne. Nur der erste Schritt kostet etwas. Man behaupte mit naiver Zuversicht die Disjunktion, daß bei jedem Glücksfall entweder Fortuna mitwirke oder nicht. Man setzt die Wahrscheinlichkeit des Gewinns ohne Mitwirkung der Fortuna im einzelnen Falle gleich 1/2, und alsbald hat man die zehnte Potenz dieses Bruches für die Wahrscheinlichkeit einer zehnmaligen Wiederholung des Gewinns. Die Mitwirkung der Fortuna steht nun der Gewißheit nahe.[725]

Wer die Wahrscheinlichkeitsrechnung etwas gründlicher kennt, der weiß, daß die Wahrscheinlichkeit für jede beliebige bestimmte Folge von gleich möglichen Ereignissen an sich gleich groß ist, daß also z.B. der Fall, bei welchem unser Spieler im 1. Wurf gewinnt, im 2., 3. und 4. verliert, im 5. und 6. wieder gewinnt, im 7. verliert, im 8. und 9. gewinnt, im 10. wieder verliert, durchaus ebenso unwahrscheinlich ist, wie der, daß er zehnmal nacheinander gewinnt.491 Die Wirklichkeit selbst, wo sie von sehr vielen einzelnen Umständen abhängt oder wo sie ein Spezialfall aus sehr viel Möglichkeiten ist, erscheint stets, a priori betrachtet, als äußerst unwahrscheinlich, was aber ihrer Wirklichkeit keinen Abbruch tut. Die einfache Erklärung der Sache ist die, daß die ganze Wahrscheinlichkeitslehre eine Abstraktion von den wirkenden Ursachen ist, die wir eben nicht kennen, während uns gewisse allgemeine Bedingungen bekannt sind, die wir unsrer Rechnung zugrunde legen. Wenn der Würfel seinen Stoß erhalten hat und in der Luft schwebt, so ist es schon durch die Gesetze der Mechanik bestimmt, welche Seite schließlich oben bleiben wird, während für unser Urteil a priori noch die Wahrscheinlichkeit für diese Seite wie für jede andre, gleich 1/6 ist.

Wenn sich in einer Urne eine Million Kugeln befinden, und ich greife hinein, um eine herauszuziehen, so ist die Wahrscheinlichkeit für jede bestimmte einzelne Kugel nur ein Milliontel, und doch wird eine, und zwar eine bestimmte einzelne, mit Notwendigkeit gezogen werden. Der Wahrscheinlichkeitsbruch bedeutet hier gar nichts als den Grad unsrer subjektiven Ungewißheit über das, was geschehen wird, und ganz ebenso ist es in den Beispielen, welche Hartmann der organischen Natur entnimmt. Daß z.B. unter den natürlichen Ursachen des Sehens besondere Nervenstränge, welche Licht empfinden, vom Gehirn ausgehen und sich in der Retina verbreiten, ist ein Vorgang, dessen Bedingungen wieder so kompliziert und uns noch so unbekannt sind, daß es lächerlich wäre hier von einer »Wahrscheinlichkeit« = 0,9 oder auch = 0,25 zu sprechen. Die Wahrscheinlichkeit, daß dies zufällig eintrete, ist vielmehr so gut wie Null, und doch ist die Sache wirklich und, wie jeder denkende Naturforscher annehmen wird, auch notwendig nach allgemeinen Naturgesetzen. Hier der »Unwahrscheinlichkeit« wegen, die doch nur der mathematische Ausdruck unsrer subjektiven Ungewißheit ist, zu einem Prinzip greifen, welches jenseit der Naturforschung liegt, heißt einfach die Wissenschaft[726] preisgeben und die gesunde Methode einem Phantom opfern. Ein näheres Eingehen auf die »Philosophie des Unbewußten« liegt nicht in unserm Plane. Der Weg von dem Punkte, wo wir sie verlassen, zur falschen Teleologie durch das Eingreifen des »Unbewußten« ist von selbst klar, und nur mit dieser »Grundlage« des neuen metaphysischen Gebäudes haben wir es zu tun. Daß nach unsrer Auffassung der Wert metaphysischer Systeme nicht an ihre durchgehende auf Selbsttäuschung beruhende Beweisgrundlage gebunden ist, haben wir schon hinlänglich dargetan. Wenn die »Philosophie des Unbewußten« jemals so viel Einfluß auf die Kunst und Literatur der Zeitgenossen gewinnen und so zum Ausdruck der vorherrschenden Geistesströmung werden sollte, wie das einst mit Schelling und Hegel der Fall war, so würde sie damit bei noch so schadhafter Grundlage als eine Nationalphilosophie ersten Ranges legitimiert sein. Die Periode, welche damit bezeichnet würde, wäre eine Periode des geistigen Verfalls, aber auch der Verfall hat seine großen Philosophen, wie Plotin am Schlusse der griechischen Philosophie. Auf jeden Fall aber bleibt es bemerkenswert, daß schon so bald nach dem Feldzuge unsrer Materialisten gegen die gesamte Philosophie ein System bedeutenden Anklang finden konnte, welches sich zu den positiven Wissenschaften in einen schrofferen Gegensatz stellt als irgendeines der früheren492 und welches in dieser Beziehung alle Fehler eines Schelling und Hegel in weit gröberer und handgreiflicherer Form wiederholt.[727]

459

Der hier bekämpfte absolute Speziesbegriff hat seine doppelte Wurzel in der metaphysischen Bedeutung des platonisch-aristotelischen eidos und in der Tradition von der Arche Noah. Selbstverständlich kann die Unterscheidung der organischen Formen nach Spezies nicht nur dem praktischen Zwecke der Übersicht dienen, sondern auch eine gewisse materielle Bedeutung beanspruchen, ohne jedes Dogma von der Unveränderlichkeit und transzendenten Begründung der Arten. Aus dem Darwinismus selbst kann mit Hilfe des Prinzips der wachsenden Stabilität abgeleitet werden, daß die Organismen innerhalb sehr großer Zeiträume die Tendenz annehmen müssen, sich nach Spezies zu gruppieren und gegeneinander abzugrenzen. Dies ist aber dann etwas total andres, als der absolute Speziesbegriff, welcher in der Zeit der Reaktion gegen den Materialismus Vogts und andrer oft in einer allen Grundsätzen der Naturforschung widerstreitenden Weise hervortrat.

460

Andreas Wagner, Naturwissenschaft und Bibel, im Gegensatze zu dem Köhlerglauben des Herrn Carl Vogt, als des wiedererstandenen und aus dem Französischen ins Deutsche übersetzen Bory. Stuttgart 1855. Vgl. z.B. S. 29: Solche Angaben (von fruchtbaren Bastarden)... »gründen sich auf Aussagen von Landwirten und Reisenden, denen jedoch der stringente Nachweis, wie ihn der Untersuchungsrichter zur rigorösen Konstatierung des Tatbestandes verlangt, abgeht.« – S. 31: »entweder sind solche Angaben geradezu falsch, oder sie ermangeln der juridischen Beweiskraft« usw.

461

Statt eines einzigen größeren Werkes ist eine Reihe besonderer Publikationen erschienen, unter denen besonders reich ist an Material das zweibändige Werk über »das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustand der Domestikation« (übers. v. Carus, 2. Ausg. Stuttg. 1873).

462

Mein Urteil über Radenhausens Isis würde jetzt wohl nicht mehr ganz so günstig lauten, namentlich mit Beziehung auf die historischen und historisch-psychologischen Ausführungen, die viel Gewagtes und Unrichtiges enthalten. Dies kommt aber hier für die Gedankenwelt in Beziehung auf Teleologie wenig in Betracht. Beiläufig sei übrigens bemerkt, daß der Rezensent im Liter. Zentralblatt (1863 Sp. 486) demselben nachrühmt: »Das Buch ist durchaus mit einer affektlosen Ruhe und trockenen Selbstgewißheit geschrieben, die an Spinoza erinnert.« Die im Text erwähnte Bekämpfung dessen, was wir als den empedokleischen Standpunkt bezeichnen können, findet sich im Liter. Zentralblatt 1864, Sp. 843 u. f.

463

Wigand, der Darwinismus u. d. Naturforschung Newtons und Cuviers (Braunschw. 1874) I, S. 421 hat diese Stelle total mißverstanden, wenn er meint, es solle hier »die größte Unzweckmäßigkeit und Zufälligkeit als der Charakter der Natur dargestellt werden«; während es sich zunächst nur darum handelt, den Kontrast zwischen der Art, wie die Natur, und zwischen derjenigen, wie der Mensch einen Zweck verfolgt, scharf hervorzuheben. Die Handlungsweise eines Menschen, welcher nach Analogie der Natur verfahren würde, müßte man äußerst unzweckmäßig nennen: damit ist bewiesen, daß die Handlungsweise der Natur (um der Kürze wegen diesen bildlichen Ausdruck zu gebrauchen) auf jeden Fall von der des Menschen prinzipiell völlig verschieden, und daß also die anthropomorphe Form der Teleologie, um die es sich im Zusammenhang allein handelt, total unhaltbar ist. Daß nach meiner Auffassung »höchste Sparsamkeit« Zweck der Natur sein solle, davon ist nirgend die Rede. Es wird einfach das Verfahren der Natur mit dem Verfahren des Menschen bei der Verfolgung eines Zweckes verglichen. Daß die Natur tatsächlich doch ihren Zweck erreicht, wie Wigand, anscheinend gegen meine Auffassung, bemerkt, ist die selbstverständliche Voraussetzung der ganzen Betrachtung. Wenn aber Wigand hinzufügt, »und zwar ohne Beeinträchtigung andrer Zwecke«, so ist das, wie der ganze fernere Verfolg seiner Anmerkung, nichts als optimistische Metaphysik, welcher mit mindestens gleichem Rechte auf Grund der Tatsachen eine pessimistische gegenübergestellt werden kann. – Vgl. übrigens im Text die Worte des letzten hierauf bezüglichen Absatzes: »Und doch hat die Sache ihre Kehrseite« usw.

464

Wir haben auch diese Stelle der 1. Auflage hier noch unverändert folgen lassen, wiewohl sie sich nicht mehr direkt auf den Darwinismus bezieht. »Individuum« und »Art« gehören wenigstens nach der erkenntnistheoretischen Seite zusammen. Es ist der gleiche synthetische Prozeß, der das Mannigfaltige in der Erscheinung unter den einen wie unter den andern dieser Begriffe bringt, und die Frage nach der Priorität des Ganzen oder der Teile ist im Grunde nur eine andre Form der Frage nach der platonischen Präexistenz der Idee gegenüber dem Einzelwesen.

465

Virchow, Rud., vier Reden über Leben und Kranksein. Berlin 1862, S. 37-76; vgl. insbes. S. 58 u. 59.

466

Vogt, Bilder aus dem Tierleben, Frankf. 1852, S. 233. – Was die Sache betrifft, so scheinen die neuerdings entdeckten Moneren, wie namentlich der Bathybius, zu widersprechen; allein wie viel Individualität einem solchen lebenden Schleimklümpchen zuzuschreiben sei, ist eine schwierige Frage. Der Strukturlosigkeit der Protoplasma-Gebilde kann sicherlich nicht aus der Unerkennbarkeit einer Struktur mit unsern Untersuchungsmitteln geschlossen werden. Hierüber kann sich erst Licht verbreiten, wenn einmal die Mechanik dieser einfachsten Lebenserscheinungen aufgeklärt wird; davon aber sind wir noch weit entfernt.

467

Bekanntlich sind diese Versuche in neuester Zeit wieder in Aufnahme gekommen und haben wiederholt günstige Resultate ergeben.

468

Vgl. Vogt, Bilder aus dem Tierleben, S. 124-142. Die neueren hierher gehörigen Entdeckungen sind kurz zusammengestellt bei Gegenbaur, Grundz. d. vergl. Anatomie, Leipzig 1870, S. 110 u. ff. – Wir heben nur hier hervor, daß (S. 112) bei Aktinosphärium sogar drei Individuen in dieser Weise sich vereinigen können. Vgl. übrigens zu der ganzen Frage Haeckels Individualitätslehre in der »Generellen Morphologie«, 1, S. 265 u. ff.

469

Eine der merkwürdigsten hierher gehörigen Tatsachen ist das Kolonialnervensystem bei Bryozoenstöcken; vgl. Gegenbaur, Grundz. d. vergl. Anat., S. 190 u. f.

470

Haeckel, die Kalkschwämme; eine Monographie in 2 Bdn. Text und Atlas. 1. Bd., Biologie der Kalkschwämme, Berlin 1872. 4. Abschn. »Philosophie der Kalkschwämme«; S. 476 u. ff.

471

Fechners Prinzip der Tendenz zur Stabilität hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Art, wie Zöllner (Natur der Kometen) mit Hilfe der Schopenhauerschen Philosophie und des mechanischen Prinzips des kleinsten Zwanges zu deduzieren sucht, daß jedes System von Atomschwingungen in einem gegebenen Raume die Tendenz hat, die Zahl der Zusammenstöße (und damit der Unlustempfindungen) zu einem Minimum werden zu lassen. – Im Prinzip der Tendenz zur Stabilität findet Fechner zugleich die Versöhnung des Kausalprinzips und der Teleologie, indem nach diesem Prinzip die Erde notwendig einem Zustande entgegengehen muß, in welchem »alles möglichst gut zusammenpaßt« (Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgesch. d. Organismen, Leipzig 1873, S. 88 u. ff.). – Sowohl Fechners als Zöllners Idee sind jedoch bis jetzt nur kühn hingeworfene metaphysische Gedanken, denen Beweis und Ausführung noch gänzlich mangeln. Beschränken wir uns dagegen auf die relative Anpassung der Organismen an die Existenzbedingungen einer gegebenen größeren Periode, so folgt hier die Tendenz zur Stabilität unmittelbar aus dem Grundsatze des Kampfes um das Dasein.

472

Vgl. Darwin, das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation; übers. v. Carus, Stuttg. 1873, I, S. 175. Hier wird gezeigt, daß die domestizierten Tauben, welche doch alle von einer einzigen wilden Spezies abstammen, mehr als 150 Arten ausmachen und in mindestens 5 neue Gattungen geteilt werden müßten, wenn man sie nach den gleichen Grundsätzen behandelte, wie die wild gefundenen Arten.

473

Darwin, Variieren der Tiere und Pflanzen I, S. 242.

474

Fechner, Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgesch., S. 71 u. f.

475

Vgl. hierüber Wallace, Beiträge zur Theorie der natürlichen Zuchtwahl; übers. v. Bernh. Meyer, Erlangen 1870.

476

Wir folgen einer im Naturforscher IV, Nr. 15, 1871, S. 118 u. ff. mitgeteilten Rede des Herrn Bennet auf der Naturforscher-Versammlung in Liverpool, welche angeblich »von seiten sehr kompetenter Forscher Anerkennung gefunden hat«.

477

Vgl. den Bericht über diese Versuche im Naturforscher IV, Nr. 38, 1871, S. 310 u. f.

478

Darwin, Entstehung der Arten, 5. deutsche Ausg., nach der 6. englischen, Stuttg. 1872, S. 159-164; ferner Darwin, das Variieren der Tiere und Pflanzen, 2. Ausg., Stuttg. 1873, S. 364 u. ff.

479

Darwin, Entst. d. Arten, 5. Aufl. nach der 6. englischen, S. 232 u. ff. – Vgl. Naegeli, Entstehung und Begriff der naturhistor. Art. München 1865. – Vgl. auch Oskar Schmidt, Deszendenzlehre und Darwinismus, Leipz. 1873 (Intern. Bibl. II) S. 146 u. f.

480

Kölliker, Morphologie und Entwicklungsgeschichte des Pennatulidenstammes, nebst allgemeinen Betrachtungen zur Deszendenzlehre. Frankfurt a. M. 1872; vgl. insbesondere S. 26 u. ff.

481

Vgl. Haeckel, Schöpfungsgeschichte, 4. Aufl., S. 215 u. f.

482

Weihrich, die Ansichten der neueren Chemie (Mainz 1872) referiert S. 43 u. f. über die Theorie Kolbes, nach welcher ein Atom Wasserstoff durch Methyl, C2H3, ersetzt werden kann. Das Methyl selbst enthält nun aber wieder Wasserstoff, von dem abermals je einem Atom ein Atom Methyl substituiert werden kann. Durch solche Substitutionen wird die Ameisensäure in Essigsäure, die Essigsäure in Propionsäure, diese in Buttersäure verwandelt usw. – Es versteht sich, daß der im Text entwickelte allgemeine Gedanke von dieser speziellen Theorie unabhängig ist; dieselbe veranschaulicht jedoch sehr gut, was man sich unter einem Entwicklungsgesetz vorstellen kann, sofern man sich die komplizierteren Bildungen aus den einfacheren sukzessiv entstehend denkt.

483

Haeckel, natürl. Schöpfungsgesch., 4. Aufl. S. 264 u. f. – Ebenso heißt es sehr richtig auf S. 295 a. a. O.: »Alle Lebenserscheinungen der Gestaltungsprozesse der Organismen sind ebenso unmittelbar durch die chemische Zusammensetzung und die physikalischen Kräfte der organischen Materie bedingt wie die Lebenserscheinungen der unorganischen Kristalle, d.h. die Vorgänge ihres Wachstums und ihrer spezifischen Formbildung, die unmittelbaren Folgen ihrer chemischen Zusammensetzung und ihres physikalischen Zustandes sind.« – In der generellen Morphologie, 1, S. 198, sagt Haeckel: (Wir wissen) »daß diese höchst einfachen Anfänge aller organischen Individuen ungleichartig sind, und daß äußerst geringe Differenzen in ihrer materiellen Zusammensetzung, in der Konstitution ihrer Eiweiß-Verbindung genügen, um die folgenden Differenzen ihrer embryonalen Entwicklung zu bewirken. Denn sicher sind es nur äußerst geringe derartige Unterschiede, welche z.B. die erbliche Übertragung der individuellen väterlichen Eigenschaften durch die minimale Eiweiß-Quantität des Zoo sperms auf die Nachkommen vermitteln.« – Aber sollten nicht aus dieser richtigen Einsicht, in welcher die Bedeutung »innerer Ursachen« für die Entwicklung im hellsten Lichte erscheint, weitere Konsequenzen gezogen werden? Sollte nicht namentlich die übertriebene Wichtigkeit, welche der bloß morphologischen Gleichheit beigelegt wird, verschwinden müssen vor der Tatsache, daß wir die wichtigsten Unterschiede der Wesen im Keime schon begründet finden, während wir mit unsern Mitteln der Beobachtung noch nicht von ferne daran denken dürfen, diese Unterschiede direkt aufzuzeigen? Gewiß wird niemand den ersten Grund des Unterschieds zwischen Mozart und einem total unmusikalischen Menschen, oder auch den ersten Unterschied zwischen Goethe und einem Huhne deswegen unbedeutend finden, weil er an eine verschwindend kleine materielle Größe geknüpft ist. Der Umstand aber, daß diese Größe für uns bisher etwas ganz Unfaßbares ist, berechtigt den Forscher allerdings, sich mit ihr nicht speziell zu befassen, um nicht in unfruchtbare Untersuchungen zu geraten; auch kann natürlich bei einer grundsätzlich rein morphologischen Untersuchung von dieser ganz unfaßbaren Größe abgesehen werden; sobald es sich dann aber um eine Ansicht vom Wesen der Entwicklung handelt, wobei eben der morphologische Gesichtspunkt allein nicht ausreicht, würde man durch Vernachlässigung dieser Größe einen ebenso schlimmen Fehler begehen, als wenn man in einer Rechnung einen der der wichtigsten Faktoren bloß deshalb streichen wollte, weil er uns unbekannt ist: denn hier handelt es sich natürlich nicht mehr um die materielle Größe an sich, sondern um die Wichtigkeit der Folgen ihres Vorhandenseins.

484

Vgl. Preyer, über die Erforschung des Lebens, Jena 1873, S. 22: »Durch die Bewegungen des Protoplasma im winzigen Keim eines Samenkorns wird die umgebende Erde, die Luft und das Wasser unter dem Einfluß der Wärme in einen riesigen Baum verwandelt und durch die Bewegung des Protoplasma im erwärmten Ei wandelt sich dessen Inhalt in ein lebendes Tier um. Was erteilt den Anstoß ? Was zwingt die Stoffe sich so zu ordnen, daß Leben daraus resultiert? Vergebens tastet die Chemie nach einer Antwort.«

485

In der generellen Morphologie I, S. 198 bemerkt Haeckel: »Es ist unsres Erachtens für die wesentlichen Grundanschauungen der organischen Entwicklung ziemlich gleichgültig, ob in dem Urmeere zu der Zeit, als die erste Autogonie stattfand, an differenten Lokalitäten zahlreiche ursprünglich verschiedne Moneren, oder aber viele gleichartige Moneren entstanden, welche sich erst nachträglich (durch geringe Veränderungen in der atomistischen Zusammensetzung des Eiweißes) differenzierten.« Daß Haeckel seitdem mehr und mehr zur einseitigen Behauptung der monophyletischen Deszendenz überging, für welche ihm namentlich der Nachweis der Gastrula-Form bei den Kalkschwämmen von Bedeutung scheint, dürfen wir wohl durch ein zu starkes Vorwalten des rein morphologischen Gesichtspunktes erklären. Haeckel hat bei Gelegenheit der Individualitätslehre (generelle Morphologie I, S. 265 u. ff. ) in lichtvoller Weise zwischen morphologischer und physiologischer Individualität unterschieden. Wollte man denselben Unterschied auf die Deszendenzlehre anwenden, so würde nach unsrer Auffassung gegen einen bloß morphologischen Monophyletismus nichts Wesentliches einzuwenden sein, aber wir halten die Frage nach der inneren Beschaffenheit und ihren Beziehungen zu der notwendigen zukünftigen Entwicklung doch für wichtiger.

486

Natürl. Schöpfungsgesch. 4. Aufl. S. 373. Der ebendas. ausgesprochene Satz, daß im allgemeinen die monophyletischen Deszendenzhypothesen mehr innere Wahrscheinlichkeit besitzen als die polyphyletischen, ist nicht etwa die einfache Umkehrung unsres im Text ausgesprochenen Satzes. Letzterer bezieht sich ausschließlich auf die erste Entstehung des Lebens, soweit man ihre Bedingungen beurteilen und aus diesen auf den tatsächlichen Verlauf schließen kann. Haeckel hat dagegen die Abstammung jeder beliebigen existierenden Spezies oder hypothetischen Stammform im Auge, mit Rücksicht auf die Frage, ob diese Form sich ursprünglich an verschiednen Orten und mit entsprechenden Variationen gebildet habe, oder nur an einem Orte und in gleicher Form, so daß also z.B. ein weitverzweigtes Vorkommen einer Spezies auf Wanderung, nicht auf gleichzeitigen Ursprung an verschiednen Orten zurückzuführen wäre. – Vgl. ferner die vorherg. Anmerkung.

487

Die Auffassung der Kantschen Teleologie, welche wir hier vortragen, ist allerdings nicht die gewöhnliche. Wir folgen dabei teils eignen Studien, teils aber der kürzlich erschienenen lichtvollen Untersuchung von August Stadler, Kants Teleologie und ihre erkenntnistheoretische Bedeutung, Berlin 1874. Wenn Stadler vielleicht in der Herstellung einer durchgehenden Übereinstimmung zwischen Kant und den Grundsätzen der Naturwissenschaften hier und da zu weit geht und wirkliche Schwächen Kants zu gering anschlägt, so ist dagegen der Beweis dafür, daß diese Auffassung allein den Prinzipien der Transzendental-Philosophie entspricht und die Widersprüche bei Kant zu einem Minimum macht, von Stadler vollständig erbracht worden. Da wir auf einzelnes hier nicht mehr eingehen können, so verweisen wir lediglich auf die genannte Abhandlung.

488

Vgl. Philosophie des Unbewußten. Einleitendes. Il. Wie kommen wir zur Annahme von Zwecken in der Natur?

489

Waitz, Anthropol. der Naturvölker, fortges. v. Gerland, Vl. Tl., Leipzig 1872, S. 797; vgl. dazu Oskar Schmidt, Deszendenzlehre und Darwinismus, Leipzig 1873, S. 280. – Die Eingeborenen Australiens führen alles in der Natur, was sie sich nicht selber erklären können, auf devil-devil zurück; »offenbar ein aus dem englischen devil (Teufel) abgeleiteter Name einer Gottheit, welche allerdings nicht mehr deutlich vorgestellt wurde.« Mit Recht tadelt O. Schmidt die Seichtigkeit dieses Beweises für die Annahme früherer besser entwickelter, dann aber in Vergessenheit geratener Religionsvorstellungen. Die Zurückführung alles Unerklärlichen auf devil-devil ist offenbar eher das Rudiment einer Philosophie, welche der einzelnen Götter nicht bedarf. Devil-devil ist den Australnegern wahrscheinlich allwissend, allmächtig usw., ohne deshalb eine Person zu sein; ganz wie das »Unbewußte«.

490

Es ist nicht uninteressant, die total unwissenschaftliche Weise, in welcher Hartmann den »Instinkt« im Pflanzenreiche bespricht, mit den neuesten wissenschaftlichen Untersuchungen über die hier in Frage kommenden Erscheinungen des Wachstums der Pflanzen, Heliotropismus, Öffnen und Schließen der Blüten, Windungen der Ranken usw. zu vergleichen. Die ungemein lichtbringenden Entdeckungen eines Sachs, Hofmeister, Pfeffer, Frank, Batalin, Famintzin, Prillieux und andrer sind ohne Ausnahme erzielt worden durch die Voraussetzung einer streng mechanischen Begründung dieser Vorgänge im Pflanzenleben, und diese Voraussetzung hat sich in vielen Fällen schon glänzend bewährt. Wir erwähnen nur in Kürze, daß der Heliotropismus zurückgeführt ist auf Verzögerung des Wachstums durch das Licht und daher folgenden Konkavkrümmung, daß die Umschlingung von Gegenständen durch Ranken auf einer auch experimentell nachweisbaren Reizbarkeit der schwächer wachsenden Seite beruht, daß die Tages- und Nachtstellung der Blätter von Oxalis auf einer Einwirkung des Lichtes auf bestimmte Biegungsstellen beruht, und daß die Pflanze sich (trotz der Allwissenheit des Unbewußten) täuschen läßt, wenn man ein besonderes Licht ausschließlich auf diese Biegungsstellen fallen läßt usw. – Man vergleiche damit die Beobachtung von Knight, welcher Pflanzen an der Radialseite eines schnell rotierenden Rades zog und fand, daß die Hauptwurzeln in der Richtung der Zentrifugalkraft wachsen; ferner die Versuche von Sachs über den Einfluß der Feuchtigkeit im Boden auf die Wurzelrichtung. (Vgl. Sachs, Grundzüge der Pflanzenphysiologie, Leipzig 1873; Hofmeister, allg. Morphologie der Gewächse, Leipz. 1868; Pfeffer, physiol. Untersuchungen, Leipz. 1873; ferner Naturforscher, 1871, Nr. 49; Botan. Zeit., 1871, Nr. 11 u. 12; Naturf., 1872, Nr. 4 usw.) Was wäre wohl aus allen diesen wertvollen Untersuchungen geworden, wenn die betreffenden Forscher die Erscheinungen auf das zweckmäßige Eingreifen des »Unbewußten« oder irgendeines andern Gespenstes zurückgeführt hätten?

491

Vgl. hierüber die lichtvollen Erörterungen von Laplace, phil. Versuch über Wahrscheinlichkeiten, 6. Grundsatz. – Wenn der Herausgeber der deutschen Übersetzung (Langsdorf, Heidelberg 1819) gerade hier Opposition erhebt und (S. 20, Anm.) die Einteilung der möglichen Fälle in gewöhnliche und außergewöhnliche tadelt, weil die letzteren mit dem minder Wahrscheinlichen identisch seien, so hat er eben den Nerv der sehr feinen psychologischen Bemerkung nicht verstanden. Es handelt sich darum, zu zeigen, daß wir unter gewissen gleich unwahrscheinlichen (und ganz abstrakt betrachtet auch allerdings gleich »außergewöhnlichen«) Fällen die einen in ihrer ganzen Außergewöhnlichkeit, z.B. als einen Fall, der nur einmal unter Millionen vorkommt, sofort auffassen und erkennen, während uns andre Fälle mit einer großen Reihe von ähnlichen psychologisch zusammenfließen und daher den Eindruck des Gewöhnlichen machen, ungeachtet ihrer Wahrscheinlichkeit gleich klein ist, wie die der Fälle ersterer Art. So verhält es sich mit dem im Text angeführten Beispiel eines Spielers, der das eine Mal zehnmal nacheinander gewinnt, das andre Mal in einer fest bestimmten Reihenfolge abwechselnd gewinnt und verliert.

Laplace bringt übrigens diese Unterscheidung in Verbindung mit dem Rückschluß aus einer Erscheinung auf die Ursachen derselben, und dies ist, beiläufig bemerkt, auch derjenige Punkt der Wahrscheinlichkeitsrechnung, von welchem Hartmann in seiner Untersuchung hätte ausgehen müssen, statt sich in höchst plumper und augenfällig verkehrter Weise einfach an den dritten Laplaceschen Grundsatz zu halten, aus welchem hier gar nichts folgen kann, als daß komplizierte Fälle in der Tat komplizierte Fälle sind. Bei den Fällen des sechsten Grundsatzes aber sind die merkwürdigen oder außergewöhnlichen Fälle stets diejenigen, welche einigermaßen den Typus menschlicher Zwecktätigkeit an sich tragen; wäre es auch nur in einer gewissen rein äußerlichen Symmetrie, wie z.B. wenn unter 1 Million Nummern die Zahl 666666 erschiene. Hier übersehen wir nämlich mit einem Blick das ganze Verhältnis von Zähler und Nenner des Wahrscheinlichkeitsbruches und werden zugleich an die Möglichkeit erinnert, daß jemand diese Zahlen absichtlich so zusammengestellt habe. Überwältigend ist dieser letztere Eindruck namentlich da, wo der erscheinende Spezialfall eine besondere Bedeutung hat. So z.B. wenn die Buchstaben EUROPA genau in dieser Ordnung erscheinen, die doch bei einer beliebigen Kombination der betreffenden Lettern nicht im mindesten unwahrscheinlicher ist, als jede andre sinnlose Zusammenstellung. Es ist hier aber der Zähler des Wahrscheinlichkeitsbruches gleich 1 und der Nenner gleich der Zahl der überhaupt möglichen Kombinationen dieser 6 Buchstaben und noch ungleich größer, wenn man annimmt, daß sie blindlings aus einem Setzerkasten herausgegriffen wurden. Hier ist wieder vor allen Dingen zu bemerken, daß die Wirklichkeit solcher Zufälle und daher auch ihre allgemeine Möglichkeit durchaus nicht mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung angetastet werden kann. Dies ist der Punkt, welchen schon Diderot im 21. Kapitel der pensées philosophiques hervorgehoben hat, indem er zeigt, daß die Entstehung der Iliade oder der Henriade Voltaires durch bloß zufällige Kombination der Buchstaben nicht nur nicht unmöglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich sei, sobald man nur die Anzahl der Versuche bis ins Unendliche ausdehnen könne. – In Wirklichkeit aber vergleichen wir in diesen Fällen die außerordentlich geringe Wahrscheinlichkeit der zufälligen Bildung mit der ungleich größeren der willkürlichen. Hier nun ist in der Tat die Versuchung zu dem Hartmannschen Schluß auf ein Gespenst für alle, die an Gespenster glauben, ungemein naheliegend. Sagt doch selbst der scharfsinnige Mathematiker Poisson bei Behandlung dieses Punktes in § 41 seines Lehrbuchs der Wahrscheinlichkeitsrechnung (übers. v. Schnuse, Braunschweig 1841, S. 85 u. f.) folgendes: »Wenn wir ein Ereignis beobachtet haben, welches an und für sich eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit hatte, und es bietet irgend etwas Symmetrisches oder Merkwürdiges dar, so werden wir ganz natürlich auf den Gedanken geführt, daß es nicht die Wirkung des Zufalles, oder allgemeiner, der einen Ursache, welche ihm diese geringe Wahrscheinlichkeit erteilen würde, ist, sondern daß es von einer mächtigeren Ursache, wie z.B. der Wille irgendeines Wesens, welches einen bestimmten Zweck dabei hatte, herrührt.« Hier ist die Sache mit solcher mathematischen Allgemeinheit behandelt, daß gleichzeitig der sehr natürliche Trugschluß des Wilden auf ein Gespenst und der richtige Schluß des wissenschaftlich Gebildeten mit demselben Ausdruck umfaßt wird. Der letztere aber wird trotz aller Verlockung durch die Analogie keine solche »Wesen« in Rechnung bringen, welche ihm nicht gegeben sind, und gegeben sind ihm nur als nach Zwecken handelnd der Mensch und die höheren Tiere. Darüber hinaus kann er wohl noch seine Reflexionen über eine zweckmäßige Anlage des Weltganzen erstrecken, aber kein einzelner Fall einer a priori auch noch so merkwürdigen Kombination wird ihn veranlassen, mystische Eingriffe eines »Wesens« anzunehmen, welches ihm nicht vorgestellt ist.

492

Es wird wohl für unsern Leserkreis kaum nötig sein, auch noch die Illusion zu zerstören, als enthalte die »Philosophie des Unbewußten« »spekulative Resultate nach induktiv-naturwissenschaftlicher Methode«. Kaum wird ein zweites Buch aus neuerer Zeit existieren, in welchem das zusammengeraffte naturwissenschaftliche Material in so schroffem Kontrast steht zu allen wesentlichen Grundzügen der naturwissenschaftlichen Methode.

Quelle:
Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1974, S. 685-728.
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