61. Leben der Demut[65] 1

Ein großes Reich muß sich unten halten,

so wird es der Vereinigungspunkt der Welt.

Es ist das Weibliche der Welt.

Das Weibliche siegt durch seine Stille über das Männliche.

Durch seine Stille hält es sich unten.

Darum: ein großes Reich wird dadurch, daß es sich unten hält, die kleinen Reiche gewinnen.

Ein kleines Reich wird dadurch, daß es sich unten hält, das große Reich gewinnen.

Das eine hält sich unten und gewinnt die Menschen,

das andere hält sich unten und gewinnt dadurch die Menschen.

Wenn das große Reich nichts wünscht als die Menschen zu einigen und zu nähren,

wenn das kleine Reich nichts wünscht als sich anzuschließen und zu dienen:

so erhalten beide den Platz, den sie wünschen,

aber das große muß sich unten halten.


Erklärung

1 Das »sich unten halten« hat die Meinung: »sich frei halten von Prätensionen, sich zurückhalten«.

Das Verhältnis des großen und des kleinen Reichs, die durch gegenseitige Zurückhaltung gewinnen, ist das, daß das große Reich durch Zurückhaltung das kleine zum politischen Anschluß bewegt (in der chinesischen Geschichte gibt es Beispiele davon), und daß das kleine Reich durch Vereinigung mit dem großen an politischem Einfluß gewinnt und des Schutzes gegen feindliche Übergriffe sicher wird. Es ist im allgemeinen die Lehre ausgesprochen, daß dasjenige Staatswesen, das am uneigennützigsten den allgemeinen Interessen dient, die Hegemonie erhält. Carus verweist dabei auf die Beispiele von Preußen in Deutschland und Athen in Griechenland.

Quelle:
Laotse: Tao Te King – Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Düsseldorf/Köln 1952, S. 65-66.