70. Schwierigkeit des Verstandenwerdens[74] 1

Meine Worte sind ganz leicht zu verstehen und ganz leicht auszuführen,

und doch ist niemand auf Erden im Stand sie zu verstehen und auszuführen.

Diese Worte haben einen Vater.

Diese Taten haben einen Herrn.

Weil die nicht verstanden werden,

darum werde ich nicht verstanden.

Daß ich von wenigen nur verstanden werde,

ist ein Zeichen meines Werts.

Also auch der Berufene:

Er trägt sein Juwel in härenem Gewand.


Erklärung

1 Auch Laotse hat sich wie Kung mit der Schwierigkeit auseinanderzusetzen, daß er nicht verstanden wird. Vielleicht ist nichts charakteristischer für das ganze Wesen der beiden, als die verschiedene Art, wie sie sich mit dieser Tatsache auseinandersetzen. Bei Kung ist das Nichtverstandenwerden der große Schmerz seines Lebens, mit dem er wohl nie ganz fertig geworden ist. Denn gerade daß er – vom 1. Satz in den Gesprächen an – so viel darüber redet, daß man sich über das Verkanntsein zu erheben habe, zeigt, wie tief ihn das Problem angriff. Wir wissen, daß es bei Kung nicht gekränkte Eitelkeit war, die diese Stellung hervorrief, sondern das Bewußtsein, daß er die Mittel habe, dem Reich zu helfen, während sich niemand fand, der zu ihrer Anwendung bereit gewesen wäre. Laotse setzt sich mit souveränem Stolz darüber hinweg im Bewußtsein, daß sein Verkanntwerden eine Folge davon ist, daß der »Herr und Vater« seiner Lehren, das Prinzip, das ihnen zugrunde liegt, der »SINN«, nicht erkannt wird. Er gehört in die Reihe jener Weisen, die ein für allemal resigniert haben, wie sie uns in den Gesprächen Kungs mehrfach begegnen, bes. im Buch XVIII. Für den Mystiker liegt dieser Standpunkt ohne weiteres nahe. Lao tse hat darin Geistesverwandte in allen Zeiten und Ländern.

Quelle:
Laotse: Tao Te King – Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Düsseldorf/Köln 1952, S. 74-75.