74. Einschränkung des Selbstbetrugs[78] 1

Wenn die Leute den Tod nicht fürchten,

wie will man sie da mit dem Tode schrecken?

Die Leute aber in beständiger Furcht vor dem Tode halten,

und wenn einer Wunderliches tut,

den sollte ich dann ergreifen und töten?

Wer getraut sich das?

Es gibt aber einen, der das Töten überwacht und tötet.

Wer nun statt dieses Einen, der das Töten überwacht, tötet,

der gleicht dem Mann, der statt des Zimmermanns die Axt führt.

Wer statt des Zimmermanns die Axt führt,

der wird selten davonkommen,

ohne sich die Hand zu verletzen.


Erklärung

1 Der Abschnitt wird verschieden erklärt. Manche sehen darin nur eine Einschränkung der Todesstrafe oder wohl gar nur des politischen Mords empfohlen und übersetzen Zeile 3 ff. (wobei die eingeklammerten Worte angeblich ergänzt werden müssen, jedenfalls nicht in dem Text stehen): »Die Leute in beständiger Furcht vor dem Tod halten, und wenn dann einer etwas Wunderliches (sc. Schlechtes) tut, den hole ich mir und töte ihn. Wer getraut sich (dann noch, etwas Schlechtes zu tun)? Es gibt aber einen (Scharfrichter? – nach andern: ordentlich bestellten Richter –), der die Todesstrafe zu verhängen hat ...«

Schon die vielen Ergänzungen, die auf diese Weise nötig werden, zeigen das Gezwungene dieser Deutung, ganz abgesehen davon, daß diese Ansicht ganz aus dem Gedankenkreis des Laotse herausfällt. Umgekehrt ist es ganz leicht verständlich, daß in China, wo die Todesstrafe heutzutage zu den Selbstverständlichkeiten gehört, die Kommentatoren die Erklärung des Textes der vulgären Meinung angenähert haben.

Wer der ist, der »das Töten überwacht und tötet«, ist nicht gesagt. Die Stelle erinnert in dieser Beziehung an Matth. 10, 28: Fürchtet euch vielmehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in die Hölle.

Quelle:
Laotse: Tao Te King – Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Düsseldorf/Köln 1952, S. 78-79.