15. Wie das Leben sich zeigt[16] 1

Die vor alters tüchtig waren als Meister,

waren im Verborgenen eins mit den unsichtbaren Kräften.

Tief waren sie, so daß man sie nicht kennen kann.

Weil man sie nicht kennen kann,

darum kann man nur mit Mühe ihr Äußeres beschreiben.

Zögernd, wie wer im Winter einen Fluß durchschreitet,

vorsichtig, wie wer von allen Seiten Nachbarn fürchtet,

zurückhaltend, wie Gäste,

einfach, wie unbearbeiteter Stoff,

weit waren sie, wie die Tiefe,

undurchsichtig waren sie, wie das Trübe.

Wer kann (wie sie) das Trübe durch Stille allmählich klären?

Wer kann (wie sie) die Ruhe durch Dauer allmählich erzeugen?

Wer diesen SINN bewahrt,

begehrt nicht Fülle.

Denn nur weil er keine Fülle hat,

darum kann er gering sein,

das Neue meiden

und die Vollendung erreichen.


Erklärung

1 Möglich, daß die letzten Zeilen des vorigen Abschnitts in nähere Verbindung mit dem vorliegenden gehören. Die Schilderung der alten Meister der »Mystik« kann ebenso auf Laotse selbst, wie überhaupt auf jeden Mystiker angewandt werden. Es gehört zum Wesen des Mystikers, daß er nach außen hin verborgen ist, da er ja das äußere Leben nicht mehr als etwas von wesentlich ernsthaftem Charakter zu betrachten fähig ist, daher er dann schwer zu »fassen« ist. Die ironische, oft stark sarkastische Art solcher Mystiker ist auch aus dem Leben des Kung bekannt. Vgl. Gespräche Buch XVIII, 5, 6, 7, 8 (pag. 203-205). Kung war solchen Leuten gegenüber immer besonders wehrlos. Die Übersetzung der letzten 7 Zeilen ist nach dem Text des Komm. II gegeben, der weniger Schwierigkeiten bietet als andere Variationen. Nach dem Text von Wang Bi wäre zu übersetzen: »Wer kann das Trübe dadurch, daß man es still macht, klären? Wer kann das Ruhige dadurch, daß man es lange bewegt, erzeugen?« Die Frageform gibt in dieser Zusammenfassung keinen Sinn.

Bei den letzten Zeilen ist wieder ein Gedankenzusammenhang mit dem folgenden Abschnitt zu konstatieren.

Die letzte Zeile ist übersetzt nach dem Kommentar von Wang Fu Dschï, der trennt: »Gering bleiben, nicht neu werden, vollenden«. Andere verbinden: »Er kann gering bleiben und neuem Werden entgehen«. Es ist nicht anzunehmen, daß in dem »neuen Werden« der Gedanke der Metempsychose angedeutet ist. Vielmehr scheint der Gedanke einfach in der Richtung der verborgenen Zurückgezogenheit zu liegen. Die Fülle, die der Bewahrer des SINNS nicht wünscht, ist ähnlich zu verstehen wie in No. 4, daß nämlich das Leben mit dem, was es zu bieten vermag, ihn nicht restlos ausfüllen kann. Darin liegt die Überzeitlichkeit, die in der Wertung der Lebensgüter den rechten Maßstab findet.

Quelle:
Laotse: Tao Te King – Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Düsseldorf/Köln 1952, S. 16-17.