Kapitel IX.

Von der Erkenntnis unseres eigenen Daseins

[470] § 1. Philalethes. Bisher haben wir nur die Wesenheiten der Dinge betrachtet, und da unser Geist sie nur durch Abstraktion erkennt, indem er sie von jedem besonderen Dasein ablöst, welches ein anderes ist als das in unserem Verstande vorkommende, so geben sie uns durchaus keine Erkenntnis irgend eines wirklichen Daseins. Die allgemeinen Sätze, von denen wir eine gewisse Erkenntnis haben können, beziehen sich auch nicht auf das Dasein. So oft man übrigens einem Individuum eines Geschlechts oder einer Art etwas durch einen Satz, der nicht gewiß ist, beilegt, selbst wenn dasselbe dem Geschlecht oder der Art im allgemeinen zukommt, so bezieht sich der Satz nur auf das Dasein und zeigt nur eine zufällige Verbindung in diesen besonders daseienden Dingen an, wie wenn man z.B. sagt: dieser oder jener ist gelehrt.

[470] Theophilus. Sehr richtig; in diesem Sinne beziehen die Philosophen, indem sie so oft zwischen dem unterscheiden, was zur Wesenheit und was zum Dasein gehört, auf das letztere alles, was akzidentell oder zufällig ist. Sehr oft weiß man nicht einmal, ob diejenigen allgemeinen Sätze, welche wir nur aus Erfahrung wissen, vielleicht nicht auch akzidentell sind, weil eben unsere Erfahrung beschränkt ist; wie in den Ländern, wo das Wasser nicht friert, jener dort etwa gebildete Satz: »Das Wasser ist immer in flüssigem Zustande«, nicht das Wesen ausdrückt, wie man erkennt, wenn man in kältere Länder kommt. Man kann indessen das Akzidentelle meinem beschränkteren Sinne nehmen, so daß es ein Mittleres zwischen ihm und dem Wesentlichen gibt; und zwar ist dieses Mittlere das Natürliche d.h. dasjenige, was dem Dinge nicht mit Notwendigkeit angehört, ihm indessen aber an sich zukommt, wenn kein Hindernis eintritt. So könnte jemand behaupten, daß das Flüssigsein in Wahrheit dem Wasser nicht wesentlich sei, daß es ihm aber wenigstens natürlich ist. Man könnte es, sage ich, behaupten, aber es ist gleichwohl nichts Bewiesenes, und vielleicht hätten die Einwohner des Mondes, wenn es deren gäbe, Grund, sich nicht minder berechtigt zu der Erklärung zu halten, daß es dem Wasser natürlich ist, gefroren zu sein. Indessen gibt es andere Fälle, wo das Natürliche weniger zweifelhaft ist. So geht z.B. ein Sonnenstrahl immer gerade durch dasselbe Medium, wenn er nicht zufällig irgend einer Oberfläche begegnet, die ihn zurückwirft. Übrigens pflegt Aristoteles die Quelle der zufälligen Dinge in die Materie zu verlegen; alsdann muß man aber darunter die zweite Materie verstehen, d.h. den Haufen oder die Masse der Körper.

§ 2. Philalethes. Ich habe schon, entsprechend dem vortrefflichen englischen Schriftsteller, der die Abhandlung über den Verstand geschrieben hat, bemerkt, daß wir unser Dasein durch Intuition, das Gottes durch Beweis und das der übrigen Dinge durch sinnliche Wahrnehmung erkennen. § 3. Jene Intuition nun, welche uns unser eigenes Dasein erkennen läßt, macht auch, daß wir es mit vollständiger Evidenz erkennen, welche nicht fähig ist und nicht nötig hat, bewiesen zu werden, dergestalt, daß, selbst wenn ich an allem zu zweifeln mich unterfange,[471] selbst dieser Zweifel mir nicht verstattet, an meinem Dasein zu zweifeln. Kurz, hierüber haben wir den überhaupt größtmöglichen Grad der Gewißheit.

Theophilus. Mit allem dem bin ich vollkommen einverstanden und füge noch hinzu, daß das unmittelbare Bewußtsein unseres Daseins und unseres Denkens uns die ersten aposteriorischen oder faktischen Wahrheiten d.h. die ersten Erfahrungen liefert; wie die identischen Sätze die ersten apriorischen oder Vernunftwahrheiten d.h. die ersten Erleuchtungen aus dem Innern enthalten. Die einen wie die anderen sind keines Beweises fähig und können unmittelbare genannt werden, jene, weil zwischen dem Verstande und seinem Gegenstande, diese, weil zwischen dem Subjekt und dem Prädikat Unmittelbarkeit stattfindet.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 470-472.
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