Kapitel XI.

Von unserer Erkenntnis der übrigen Dinge

[483] § 1. Philalethes. Da also das Dasein Gottes allein in einem notwendigen Zusammenhange mit dem unsrigen steht, so beweisen unsere Vorstellungen, die wir von etwas haben können, nicht mehr das Dasein dieses Dinges, als das Bild eines Menschen sein wirkliches Dasein beweist. § 2. Die Gewißheit indessen, welche ich mittels der sinnlichen Wahrnehmung von dem Weißen und Schwarzen auf diesem Papier habe, ist ebenso groß als die meiner Handbewegung, welche aus der Erkenntnis unseres Daseins und der Gottes entsteht. § 3. Diese Gewißheit verdient den Namen der Erkenntnis. Denn ich glaube nicht, daß jemand im Ernst so skeptisch sein könnte, um über das Dasein der Dinge, welche er sieht und empfindet, ungewiß zu sein. Wenigstens wird derjenige, welcher seine Zweifel so weit treiben kann,[483] niemals mit mir in Streit geraten, weil er niemals wird sicher sein können, daß ich irgend, etwas gegen seine Ansicht äußere.

Die Wahrnehmungen der sinnlichen Dinge sind (§ 4) durch äußere Ursachen hervorgebracht, welche unsere Sinne affizieren, denn wir erhalten diese Wahrnehmungen nicht ohne die Organe, und wenn die Organe ausreichten, würden sie dieselben immer hervor bringen. § 5. Ferner mache ich mitunter die Erfahrung, daß ich ihre Hervorbringung in meinem Geiste nicht verhindern kann, wie z.B. das Licht, wenn ich die Augen an einem Orte, wo der Tag hineinscheinen kann, offen halte, während ich die in meinem Gedächtnis vorhandenen Vorstellungen verlassen kann. Also muß es irgend eine äußere Ursache dieses lebhaften Eindrucks geben, deren Wirksamkeit ich nicht überwinden kann.

§ 6. Einige dieser Wahrnehmungen werden von uns mit Schmerz hervorgebracht, obgleich wir uns hinterher ihrer erinnern, ohne die geringste Unbequemlichkeit zu verspüren. Wenn nun auch die mathematischen Beweise nicht von den Sinnen abhangen, so trägt doch die mittels der Figuren auf sie gerichtete Untersuchung viel dazu bei, die Evidenz unseres Blickes darzutun, und sie scheint ihm eine Sicherheit zu verleihen, welche der der Beweisführung selbst nahe kommt.

§ 7. In manchen Fällen legen auch unsere Sinne voneinander Zeugnis ab. Der, welcher das Feuer sieht, kann auch, wenn er daran zweifelt, es fühlen. Und während ich dies schreibe, sehe ich, daß ich die Erscheinung des Papiers ändern und zum voraus sagen kann, welche neue Erscheinung es dem Geiste darbieten wird; wenn aber diese Zeichen niedergeschrieben sind, kann ich nichtmehr vermeiden, sie zu sehen, wie sie da sind. Überdies würde der Anblick dieser Charaktere einen anderen dieselben laute hervorbringen lassen.

§ 8. Wenn jemand glaubt, daß dies alles nur ein langer Traum ist, so mag er auch träumen, wenn es ihm beliebt, daß ich ihm darauf erwidere, unsere auf das Zeugnis der Sinne begründete Gewißheit sei so vollkommen, als unsere Natur es zuläßt und unsere Lebenslage es fordert. Wer eine Kerze brennen sieht und die Hitze der Flamme erfährt, die ihm Schmerz verursacht, wenn er den Finger[484] nicht zurückzieht, wird keine größere Gewißheit fordern, um seine Handlungsweise danach einzurichten, und wenn dieser Träumer es nicht so machte, würde er sich bald erweckt finden. Also genügt uns eine solche Sicherheit, die ebenso gewiß ist, wie die Lust oder der Schmerz: zwei Dinge, über welche hinaus wir kein Interesse an der Erkenntnis oder dem Dasein der Dinge haben. § 9. Aber über unsere augenblickliche Sinneswahrnehmung hinaus gibt es keine Erkenntnis, sondern nur Wahrscheinlichkeit, wie z.B. wenn ich glaube, daß es in der Welt Menschen gibt: dafür ist die äußerste Wahrscheinlichkeit, obgleich ich jetzt, da ich in meinem Zimmer allein bin, keinen sehe. § 10. Auch würde es eine Torheit sein, für alles einen Beweis zu erwarten und nicht den klaren und evidenten Wahrheiten gemäß zu handeln, wenn sie nicht gerade beweisbar sind. Ein Mensch, welcher so verfahren wollte, könnte über nichts anderes sicher sein, als in sehr kurzer Zeit zugrunde zu gehen.

Theophilus. Ich habe schon in unseren früheren Besprechungen bemerkt, daß die Wahrheit der sinnlichen Dinge durch ihren Zusammenhang gerechtfertigt wird, welcher von in der Vernunft begründeten Verstandeswahrheiten und sich gleichbleibenden Beobachtungen an den sinnlichen Dingen selbst, sogar wenn die Gründe nicht einleuchtend sind, abhängt. Und da diese Gründe und Beobachtungen uns das Mittel geben, in bezug auf unser Interesse über die Zukunft zu urteilen, und der Erfolg unserem vernünftigen Urteil entspricht, so kann man eine größere Gewißheit über diese Gegenstände nicht verlangen und selbst nicht einmal erhalten. Man kann sogar auch von den Träumen und ihrem geringen Zusammenhange mit anderen Erscheinungen Rechenschaft geben. Indessen glaube ich, daß man die Bezeichnung der Erkenntnis und Gewißheit über die jedesmaligen sinnlichen Wahrnehmungen hinaus ausdehnen könnte, da die Klarheit und Evidenz darüber hinausgehen, die ich als eine Art der Gewißheit betrachte; und es würde ohne Zweifel eine Narrheit sein, im Ernst daran zu zweifeln, oh es Menschen auf der Welt gebe, weil wir gerade keine sehen. Im Ernst zweifeln ist hinsichtlich der Praxis zweifeln, und man könnte die Gewißheit für eine Erkenntnis[485] der Wahrheit nehmen, an der man hinsichtlich der Praxis nicht zweifeln kann, ohne närrisch zu sein; und mitunter nimmt man sie noch allgemeiner und wendet sie auf diejenigen Fälle an, wo man, ohne starken Tadel zu verdienen nicht zweifeln darf. Die Evidenz aber würde eine lichtvolle Gewißheit sein, d.h. wo man wegen des Zusammenhanges, welchen man unter den Vorstellungen sieht, nicht zweifelt. Dieser Definition der Gewißheit gemäß sind wir sicher, daß Konstantinopel in der Welt ist, daß Konstantin, Alexander der Große und Krösus gelebt haben. Allerdings könnte ein Bauer aus den Ardennen mit Recht daran zweifeln, weil ihm der Unterricht fehlt, aber ein gelehrter und gebildeter Mann könnte es ohne eine große Geistesverwirrung nicht.

§ 11. Philalethes. Wir sind in Wahrheit durch unser Gedächtnis von vielem Vergangenen versichert; aber ob es noch vorhanden ist, können wir nicht wohl beurteilen. Ich sah gestern Wasser und eine gewisse Zahl schöner Farben auf den Blasen, welche sich darüber bildeten. Ich bin gegenwärtig gewiß, daß diese Blasen ebensogut als das Wasser dagewesen sind, aber ich erkenne das gegenwärtige Dasein des Wassers auf nicht gewissere Art als das der Blasen, obgleich das erstere unendlich mehr wahrscheinlich ist, und man beobachtet hat, daß das Wasser dauernd ist, die Blasen aber verschwinden. § 12. Außer uns und Gott endlich erkennen wir andere Geister nur durch die Offenbarung und haben darüber nur die Gewißheit des Glaubens.

Theophilus. Ich habe schon bemerkt, daß unser Gedächtnis uns mitunter täuscht. Und zwar messen wir ihm Glauben bei oder nicht, je nachdem es mehr oder weniger lebhaft und mit den Dingen, von denen wir wissen, mehr oder weniger verknüpft ist. Und oft können wir an den Nebenumständen zweifeln, wenn wir der Hauptsache sicher sind. Ich erinnere mich, einen Menschen gekannt zu haben, denn ich empfinde, daß sein Bild mir ebensowenig neu ist, als seine Stimme, und dies doppelte Zeichen ist mir eine bessere Garantie als eines von beiden; aber wo ich ihn gesehen habe, kann ich mich nicht erinnern. Indessen kommt es, wiewohl selten, vor, daß man jemand im Traume sieht, ehe man ihn leibhaftig gesehen hat. Man hat mich versichert, daß eine wohlbekannte[486] Hofdame den, welchen sie nachher heiratete, im Traume sah und ihren Freundinnen beschrieb, und auch den Saal, wo die Hochzeit gefeiert wurde, und zwar eher, als sie den Mann und den Ort gesehen und gekannt hatte. Man schrieb dies ich weiß nicht welchem geheimen Vorgefühl zu, aber der Zufall kann diese Wirkung hervorbringen, weil es gar selten ist, daß so etwas vorkommt. Außerdem hat man, weil die Traumbilder ein wenig dunkel sind, hinterher mehr Freiheit, sie auf andere Erscheinungen zu übertragen.

§ 13. Philalethes. Wir können also damit schließen, daß es zwei Arten von Sätzen gibt, die einen besondere und auf das Dasein bezügliche, wie z.B. daß es einen Elefanten gibt, die anderen allgemeine über die Abhängigkeit der Vorstellungen, wie z.B. daß die Menschen Gott gehorchen müssen. § 14. Die meisten dieser allgemeinen und gewissen Sätze führen den Namen ewiger Wahrheiten und sind es in der Tat alle. Nicht, weil es Sätze sind, die von aller Ewigkeit her irgendwo wirklich gebildet oder nach irgend einem Muster, das immer da war, dem Geiste eingeprägt worden wären, sondern weil wir überzeugt sind, daß wenn ein zu diesem Zweck mit Vermögen und Mitteln begabtes Geschöpf sein Denken der Erwägung seiner Vorstellungen zuwendet, es die Wahrheit dieser Sätze findet.

Theophilus. Ihre Einteilung scheint auf die meinige von tatsächlichen und Vernunftsätzen hinauszukommen. Auch die tatsächlichen Sätze können irgendwie allgemein werden, aber dies geschieht durch Induktion oder Beobachtung, und zwar in der Art, daß dabei nur eine Vielheit gleicher Fälle gegeben ist, wie wenn man beobachtet, daß alles Quecksilber durch die Kraft des Feuers verdunstet, was keine vollkommene Allgemeinheit gibt, weil man die Notwendigkeit davon nicht einsieht. Die allgemeinen Vernunftwahrheiten sind notwendig, obgleich die Vernunft auch solche liefert, die nicht schlechthin allgemein und nur wahrscheinlich sind, wie z.B. wenn wir annehmen, daß eine Vorstellung möglich ist, bis daß das Gegenteil durch eine genauere Untersuchung entdeckt wird. Endlich gibt es gemischte Sätze, welche aus Vordersätzen gezogen sind, von denen einige aus Tatsachen und Beobachtungen stammen, andere notwendige[487] Sätze sind: von solcher Art sind viele geographische und astronomische Schlüsse über die Erdkugel und den Sternenlauf, die durch die Kombination der Beobachtungen von Reisenden und Astronomen mit den Lehrsätzen der Geometrie und Arithmetik entstehen. Da aber nach der Regel der Logiker die Schlußfolgerung dem schwächsten der Vordersätze folgt und nicht mehr Gewißheit als sie haben kann, so haben diese gemischten Sätze nur die Gewißheit und Allgemeinheit, welche den Beobachtungen zukommt. Was die ewigen Wahrheiten anbetrifft, so muß man bemerken, daß sie im Grunde alle bedingt sind und in der Tat besagen: Wenn solches gesetzt ist, findet solches andere statt. Wenn ich z.B. sage: Jede Figur, die drei Seiten hat, hat auch drei Winkel, so sage ich nichts anderes als: Gesetzt, daß es eine Figur mit drei Seiten gibt, hat diese nämliche Figur auch drei Winkel. Ich sage: diese nämliche, und darin unterscheiden sich eben die kategorischen Sätze, welche bedingungslos ausgedrückt werden können, obwohl sie im Grunde auch bedingt sind, von denen, welche man hypothetische nennt, wie folgender Satz sein würde: Wenn eine Figur drei Seiten hat, so sind ihre Winkel zweien Rechten gleich, wo man sieht, daß der bedingende Satz (nämlich, die Figur mit drei Seiten) und der bedingte (nämlich, die Winkel der dreiseitigen Figur sind zweien Rechten gleich) nicht dasselbe Subjekt haben, wie sie es in dem vorigen Falle hatten, wo der bedingende Satz war: diese Figur hat drei Seiten, und der bedingte: die genannte Figur hat drei Winkel. Freilich kann der hypothetische Satz oft in einen kategorischen verwandelt werden, aber indem man die Termini ein wenig verändert, wie wenn ich statt des hypothetischen Vordersatzes sagte: die Winkel jeder dreiseitigen Figur sind zweien Rechten gleich. Die Scholastiker haben de constantia subjecti (über das Mitbestehen des Subjekts) wie sie es nannten, viel gestritten, d.h. wie ein über ein Subjekt gebildeter Satz wirklich wahr sein kann, wenn dies Subjekt gar nicht existiert. Die Wahrheit ist aber nur eine bedingte und besagt, daß wenn das Subjekt jemals da ist, man es immer so finden wird. Man könnte jedoch noch fragen, worauf diese[488] Verbindung begründet ist, weil darin doch eine Realität steckt, die nicht täuscht. Die Antwort wird sein: sie gründet sich auf den Zusammenhang der Vorstellungen. Aber man wird demgegenüber vielleicht fragen, wo diese Vorstellungen sein würden, wenn es keinen Geist gäbe, und was dann aus der realen Grundlage dieser Gewißheit der ewigen Wahrheiten werden würde? Das führt uns endlich zur letzten Grundlage der Wahrheiten, nämlich auf jenen obersten und allgemeinen Geist, dessen Dasein notwendig und dessen Verstand in Wirklichkeit, wie St. Augustin es anerkannt und auf eine sehr lebhafte Weise ausdrückt, der Ort der ewigen Wahrheiten ist. Und damit man nicht denke, daß darauf zurückzugehen nicht notwendig sei, muß man erwägen, daß diese notwendigen Wahrheiten den Bestimmungsgrund und das Regulativprinzip alles Daseienden selbst und mit einem Worte die Gesetze des Weltalls enthalten. Gehen also diese notwendigen Wahrheiten dem Dasein der zufälligen Wesen voraus, so müssen sie in dem Dasein einer notwendigen Substanz begründet sein. Dort finde ich das Urbild der Vorstellungen und Wahrheiten, welche unserer Seele eingeprägt sind, nicht in Form von Sätzen, sondern wie Quellen, aus deren Anwendung und Gelegenheiten wirkliche Urteile hervorgehen.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 483-489.
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