Kapitel XII.

Von den Mitteln, unsere Erkenntnisse zu vermehren

[489] § 1. Philalethes. Wir haben von den Arten unserer Erkenntnis gesprochen. Jetzt wollen wir zu den Mitteln übergehen, die Erkenntnis zu vermehren oder die Wahrheit zu finden. – Es ist eine unter den Gelehrten angenommene Meinung, daß die Maximen die Grundlagen aller Erkenntnis sind und jede Wissenschaft im besonderen auf gewisse schon vorher bekannte Dinge (Praecognita) sich gründet § 2. Ich gestehe zu, daß die Mathematik diese Methode durch ihren guten Erfolg zu begünstigen scheint, und Sie haben sich auch vielfach darauf gestützt. Aber es ist noch ungewiss, ob es nicht vielmehr die[489] Vorstellungen sind, die durch ihren Zusammenhang dazu gedient haben, viel mehr als zwei oder drei allgemeine Maximen, welche man zu Beginn aufgestellt hat. Ein junger Knabe erkennt, daß sein Körper größer ist als sein kleiner Finger, aber nicht auf Grund jenes Axioms, daß das Ganze größer ist als sein Teil. Die Erkenntnis hat mit besonderen Sätzen angefangen, aber hinterher hat man das Gedächtnis mittels der allgemeinen Begriffe von einem verwirrenden Haufen besonderer Vorstellungen entlasten wollen. Wenn die Sprache so unvollkommen wäre, daß sie die Relativausdrücke: Ganzes und Teil nicht besäße, könnte man dann etwa nicht erkennen, daß der Körper größer als der Finger ist? Ich lege Ihnen wenigstens die Gründe meines Autors vor, obgleich ich vorauszusehen glaube, was Sie in Übereinstimmung mit dem schon von Ihnen Bemerkten darüber sagen könnten.

Theophilus. Ich weiß nicht, warum Sie den Maximen, um sie von neuem wieder anzugreifen, so übel begegnen; wenn sie doch dazu dienen, das Gedächtnis von einer Menge besonderer Vorstellungen zu entlasten, wie Sie es anerkennen, so müssen sie sehr nützlich sein, wenn sie auch sonst keinen anderen Nutzen hätten. Aber ich füge hinzu, daß sie auf die angegebene Weise nicht entstehen, denn man findet sie nicht durch Induktion aus Beispielen. Derjenige, welcher erkennt, daß zehn mehr ist als nenn, daß der Körper größer ist als der Finger, und das Haus zu groß, um durch die Tür davonlaufen zu können, erkennt jeden dieser besonderen Sätze durch denselben allgemeinen Grund, der darin gleichsam verkörpert und klargemacht wird, ganz wie man mit Farben aufgemalte Züge sieht, wo die Proportion und Gestaltung eigentlich in den Zügen besteht, mag die Farbe sein, welche sie wolle. Nun, dieser gemeinsame Grund ist eben der Grundsatz, der sozusagen auf verhüllte Weise (implicite) erkannt wird, obwohl das nicht so fort auf abstrakte und versinnlichte Weise geschieht Die Beispiele ziehen ihre Wahrheit aus dem verkörperten Grundsatz, aber der Grundsatz hat nicht seine Begründung durch die Beispiele. Und da dieser gemeinsame Grand jener besonderen Wahrheiten im Geiste aller Menschen ist, so sehen Sie wohl, daß es für ihn nicht nötig ist, daß sich[490] die Worte Ganzes und Teil in der Sprache dessen finden, welcher von ihm durchdrungen ist.

§ 4. Philalethes. Ist's aber nicht gefährlich, unter dem Verwande von Grundsätzen, Vollmacht zu Hypothesen zu geben? Der eine wird mit einigen Alten die Hypothese machen, daß alles materiell sei, der andere mit Polemo, daß die Welt Gott sei, ein dritter wird als Tatsache aufstellen, daß die Sonne die oberste Gottheit sei. Urteilen Sie, welche Religion wir haben würden, wenn das erlaubt wäre. So wahr ist es, daß es Gefahr bringt, Grundsätze, ohne sie der Prüfung zu unterwerfen, anzunehmen, besonders wenn sie die Moral angehen. Denn mancher würde ein zukünftiges Leben erwarten, mehr dem des Aristipp ähnlich, welcher die Glückseligkeit in die körperlichen Lüste setzte, als dem des Antisthenes, welcher behauptete, daß die Tugend hinreiche, um glücklich zu machen. Und Archelaus, der als Prinzip aufstellt, daß Recht und Unrecht, Ehrbar und Schändlich allein durch die Gesetze und nicht von der Natur bestimmt werden, würde ohne Zweifel andere Maße des moralisch Guten und Bösen haben, als diejenigen, welche den menschlichen Festsetzungen vorausliegende Verpflichtungen anerkennen. § 5. Die Prinzipien müssen also gewiß sein. § 6. Aber diese Gewißheit kommt nur aus dem Vergleiche der Vorstellungen; wir haben also keine anderen Prinzipien nötig und werden, wenn wir dieser Regel allein folgen, weiter kommen, als wenn wir unseren Geist der Willkür eines anderen unterwerfen.

Theophilus. Ich bin erstaunt, daß Sie gegen die Maximen d.h. gegen die evidenten Grundsätze dasjenige geltend machen, was man gegen die ohne Grund als Grundsätze betrachteten Sätze sagen kann und maß. Wenn man Vorhererkanntes in den Wissenschaften verlangt oder vorausgehende Erkenntnisse, welche dazu dienen, die Wissenschaft zu gründen, so fordert man bekannte Grundsätze und nicht willkürliche Aufstellungen, deren Wahrheit nicht bekannt ist; Aristoteles selbst versteht es auch so, daß die niedrigeren und untergeordneten Wissenschaften ihre Prinzipien von anderen, höheren Wissenschaften, in denen sie bewiesen worden sind, entlehnen, ausgenommen die erste der Wissenschaften, welche wir die Metaphysik nennen. Diese verlangt ihm[491] zufolge von den anderen nichts und liefert ihnen die Prinzipien, deren sie bedürfen, und wenn er sagt: dei pisteuein ton manthanonta, der Lernende muß dem Lehrer glauben, so ist seine Ansicht dabei die, daß er es nur einstweilen tun solle, weil er in den höheren Wissenschaften noch nicht unterrichtet ist, so daß jenes nur vorläufig geschieht. So bin ich also gar weit davon entfernt, willkürliche Prinzipien zuzulassen. Ich muß dem hinzufügen, daß selbst Grundsätze, deren Gewißheit nicht vollständig ist, ihren Nutzen haben können, wenn man nur durch Beweisführung darauf weiter baut. Denn obwohl in diesem Falle alle Schlußfolgerungen nur bedingte sind und allein unter der Voraussetzung gelten, daß jenes Prinzip wahr ist, so würden nichtsdestoweniger dieser Zusammenhang selbst und diese bedingten Urteile wenigstens logisch gültige sein – so daß sehr zu wünschen wäre, wir hätten viele auf diese Art geschriebene Bücher, wobei keine Gefahr zu irren wäre, wenn der Leser oder Lernende von der Bedingung unterrichtet ist. Und die Praxis würde man nach diesen Schlußfolgerungen nur in dem Maße einrichten, als die Voraussetzung sich anderweitig gerechtfertigt findet. Diese Methode dient ferner selbst sehr oft dazu, die Voraussetzungen oder Hypothesen zu rechtfertigen, wenn viele Schlußfolgerungen daraus hervorgehen, deren Wahrheit anderweitig erkannt worden ist, und das gibt mitunter eine vollständige Umkehrung, welche die Wahrheit der Hypothese zu beweisen genügt. Conring, von Beruf ein Arzt, aber in jeder Art der Gelehrsamkeit tüchtig, vielleicht die Mathematik allein ausgenommen, hatte einem Freund einen Brief geschrieben, der damit beschäftigt war, zu Helmstädt das Buch des Viottus, eines geschätzten peripatetischen Philosophen, welcher das Beweisverfahren und die beiden letzten Bücher der Analytik des Aristoteles zu erklären sucht, wieder aufdrucken zu lassen. Dieser Brief wurde dem Bach hinzugefügt; Conring tadelte darin den Pappus, daß er sagt: Die Analyse beabsichtigt, das Unbekannte zu finden, indem sie es voraussetzt, und von da durch Folgerung zu bekannten Wahrheiten fortschreitet; dies ist gegen die Logik – sagte er – welche lehrt, daß man aus Falschem Wahres schließen kann. Ich zeigte ihm aber später, daß die Analyse sich der Definitionen und anderer reziproker[492] Sätze bedient, welche das Mittel an die Hand geben, die Umkehrung zu machen und synthetische Beweise zu finden. Und selbst wenn diese Umkehrung nicht beweisend ist, wie in der Physik, so ist sie nichtsdestoweniger von großer Wahrscheinlichkeit, wenn die Hypothese viele Erscheinungen leicht erklärt, die sonst schwierig und voneinander unabhängig sind. Ich halte in Wahrheit dafür, daß gewissermaßen der Grundsatz aller Grundsätze der richtige Gebrauch der Vorstellungen und Erfahrungen ist, aber wenn man sich darein vertieft, so wird man finden, daß hinsichtlich der Vorstellungen er nichts anderes ist, als die Verknüpfung der Definitionen mittels identischer Axiome. Es ist indessen nicht immer ein leichtes, zu dieser letzteren Analyse zu gelangen, und so viel Lust auch die Mathematiker, wenigstens die alten, bezeigt haben, im damit zustande zu kommen, so haben sie es doch noch nicht vollbringen können. Der berühmte Verfasser der Abhandlung über den menschlichen Verstand würde ihnen viel Vergnügen bereiten, wenn er diese Untersuchung, die bedeutend schwerer ist, als man vielleicht denkt, abschließen wollte. Euklid hat z.B. unter die Axiome eines gesetzt, welches darauf hinausläuft, daß zwei gerade Linien sich nur einmal treffen können. Das von der sinnlichen Erfahrung hergenommene Phantasiebild erlaubt uns nicht, uns mehr als eine Begegnung zweier Graden vorzustellen, aber darauf darf die Wissenschaft nicht begründet werden. Und wenn jemand glaubt, daß dies Phantasiebild den Zusammenhang der bestimmten Vorstellungen gewährt, so ist er über die Quelle der Wahrheiten nicht wohl unterrichtet, und sehr viele Sätze, die nur durch andere Vordersätze beweisbar sind, wurden ihm für unmittelbare gelten. Das haben viele, welche Euklid getadelt haben, nicht gehörig erwogen. Jene Arten von Phantasiebildern sind nur verworrene Vorstellungen, und wer die gerade Linie nur auf diese Weise erkennt, wird nicht imstande sein, etwas von ihr zu beweisen. Aas Mangel einer deutlich ausgedrückten Vorstellung, d.h. einer Definition der Geraden (denn die von ihm vorläufig gegebene ist dunkel und hilft ihm bei seinen Beweisen nicht), ist darum Euklid gezwungen, auf zwei Axiome zurückzukommen, welche ihm statt Definitionen gedient haben, und die er in seinen Beweisen anwendet, das eine,[493] daß zwei Grade nichts miteinander gemein haben, und das zweite, daß sie keinen Raum einnehmen. Archimedes hat eine Art Definition der geraden Linie gegeben, indem er sagt, daß sie der kürzeste Weg zwischen zwei Paukten ist. Aber er setzt dabei stillschweigend voraus (indem er in den Beweisen solche Elemente anwendet, wie die des Euklid, welche auf die beiden von mir erwähnten Axiome gegründet sind), daß die Affektionen, von denen diese Axiome reden, der von ihm definierten Linie zukommen. Wenn Sie also mit Ihren Gesinnungsgenossen glauben, daß man unter dem Vorwande der Übereinstimmung und Sichtübereinstimmung der Vorstellungen in der Geometrie das annehmen durfte und noch darf, was die Bilder uns angeben, ohne jene Strenge der Beweise durch die Definitionen und Axiome anzustreben, welche die Alten in dieser Wissenschaft gefordert haben, wie, glaube ich, viele, ohne untersucht zu haben, urteilen durften, so gestehe ich Ihnen, daß man sich damit hinsichtlich derer zufriedenstellen kann, welche sich nur um die gewöhnliche praktische Geometrie bemühen, nicht aber hinsichtlich derer, welche die Wissenschaft, mit der man die Praxis selbst zu vervollkommnen hat, haben wollen. Und wenn die Alten dieser Meinung gewesen und in diesem Punkte lässig gewesen wären, so glaube ich, wären sie nicht vorwärts gekommen und hätten uns nur eine solche praktische Geometrie hinterlassen, wie die der Ägypter augenscheinlich war und die der Chinesen noch zu sein scheint. Dies hätte sie der schönsten physischen und mechanischen Erkenntnisse beraubt, welche die Geometrie sie auffinden ließ und die überall da unbekannt sind, wo es unsere Geometrie ist. Es hat auch den Anschein, daß man, wenn man den Sinnen und deren Bildern gefolgt wäre, in Irrtümer verfallen sein würde, ungefähr so, wie man sieht, daß alle diejenigen, welche nicht in der wissenschaftlichen Geometrie unterrichtet sind, auf das Zeugnis ihrer Einbildungskraft bin als eine unzweifelhafte Wahrheit annehmen, daß zwei sich beständig einander nähernde Linien zuletzt zusammenkommen müssen, während die Mathematiker mit gewissen Linien, welche sie Asymptoten nennen, Beispiele vom Gegenteil geben. Aber wir würden außerdem dessen beraubt sein, was ich in der Geometrie in Absicht der[494] Spekulation am meisten schätze, daß sie nämlich die wahre Quelle der ewigen Wahrheiten und des Mittels, uns deren Notwendigkeit begreiflich zu machen, er blicken läßt, welche die verworrenen Bilder der Sinne nicht deutlich zu zeigen vermögen. Sie werden mir sagen, daß Euklid gleichwohl gezwungen gewesen ist, sich auf gewisse Axiome zu beschränken, deren Evidenz man nur verworren mittels der Bilder erkennt. Ich gebe Ihnen zu, daß er sich auf diese Axiome beschränkt hat, aber es war besser, sich auf eine kleine Anzahl von Wahrheiten dieser Art zu beschränken, die ihm als die einfachsten erschienen, und daraus die übrigen abzuleiten, welche ein anderer von geringerer wissenschaftlicher Schärfe gleichfalls ohne Beweis für sicher angenommen hätte, als viele unbewiesen zu lassen und, was noch schlimmer ist, den Leuten die Freiheit zu lassen, nach eigener Laune ihre Nachlässigkeit weiter zu treiben.

Sie sehen also, daß das, was Sie mit Ihren Freunden über den Zusammenhang der Vorstellungen als wahre Quelle der Wahrheiten bemerkt haben, der Aufklärung bedarf. Wenn Sie sich begnügen wollen, diesen Zusammenhang verworren zu erkennen, so schwächen Sie die Strenge der Beweise, und Euklid hat unvergleichlich besser getan, alles auf Definitionen und eine kleine Zahl von Axiomen zurückzubringen. Wollen Sie aber, daß dieser Zusammenhang der Vorstellungen deutlich gesehen und ausgedrückt werde, so werden Sie genötigt sein, auf die Definitionen und identischen Grundsätze, wie ich es verlange, zurückzugehen, und mitunter werden Sie genötigt sein, sich wie Euklides und Archimedes mit einigen weniger ursprünglichen Grundsätzen zufrieden zu geben, wenn Sie Mühe haben werden, zu einer vollständigen Analyse zu gelangen, – und daran werden Sie besser tun, als schöne Entdeckungen, welche Sie durch deren Vermittlung bereits finden können, zu vernachlässigen oder aufzuschieben. Sonst würden wir in der Tat, wie ich Ihnen schon ein anderes Mal gesagt habe, keine Geometrie (ich verstehe darunter keine demonstrative Wissenschaft) haben, wenn die Alten – bevor sie die Grundsätze, zu deren Anwendung sie genötigt waren, bewiesen hatten, – nicht hätten dazu fortschreiten wollen.[495]

§ 7. Philalethes. Ich fange zu verstehen an, was ein bestimmt erkannter Zusammenhang von Vorstellungen ist, und sehe wohl, daß auf diese Art die Grundsätze notwendig sind. Auch sehe ich wohl, wie die Methode, welche wir bei unseren Untersuchungen befolgen, wenn es sich um die Prüfung der Vorstellungen handelt, nach dem Beispiele der Mathematiker geregelt werden muß, die von gewissen sehr klaren und leichten Ausgangspunkten aus, (die nichts anderes als die Grundsätze und Definitionen sind) in kleinen Schritten und mittels einer ununterbrochenen Verkettung von Beweisen zur Entdeckung und zum Beweise der Wahrheiten, die anfangs über die menschliche Fassungskraft hinauszugehen scheinen, emporsteigen. Die Kunst, Beweise und jene bewundernswürdigen Methoden aufzufinden, welche sie zur Auseinandersetzung und Anordnung der Mittelbegriffe erfunden haben, hat so erstaunliche und unverhoffte Entdeckungen hervorgebracht. Ob man aber mit der Zeit nicht irgend eine ähnliche Methode wird erfinden können, welche für die übrigen Vorstellungen so gut als für die zur Größe gehörigen dient, darüber will ich nicht entscheiden. Wenigstens werden wir, wenn andere Vorstellungen nach der den Mathematikern gewöhnlichen Methode geprüft werden, in unserem Denken dadurch weiter kommen, als wir uns vorzustellen vielleicht geneigt sind. § 8. Und dies könnte besonders in der Moral geschehen, wie ich schon mehr als einmal gesagt habe.

Theophilus. Ich glaube, daß Sie recht haben, und bin seit lange geneigt, alles zu tun, um ihre Voraussetzungen zu erfüllen.

§ 9. Philalethes. Hinsichtlich der Erkenntnis der Körper muß man einen gerade entgegengesetzten Weg einschlagen, denn da wir keine Vorstellungen von deren wirklichen Wesenheiten haben, sind wir genötigt, auf die Erfahrung zurückzugehen. § 10. Ich leugne indessen nicht, daß wer vernünftige und regelmäßige Erfahrungen zu machen gewohnt ist, fähig ist, richtigere Vermutungen als ein anderer über deren noch unbekannte Eigenschaften aufzustellen. Aber das ist urteilen und meinen, nicht aber erkennen und sicher wissen. Dies veranlaßt mich zu glauben, daß die Physik nicht fähig ist, unter unseren Händen Wissenschaft zu werden. Indessen können die[496] historischen Erfahrungen und Beobachtungen uns hinsichtlich der körperlichen Gesundheit und der Bequemlichkeiten des Lebens Dienste leisten.

Theophilus. Ich stimme dem bei, daß die ganze Physik niemals eine vollkommene Wissenschaft bei uns sein wird, aber wir können nichtsdestoweniger eine physische Wissenschaft besitzen und besitzen davon sogar schon jetzt Proben. Die Magnetologie kann z.B. für eine solche Wissenschaft gelten, denn indem wir wenige in der Erfahrung gegründete Voraussetzungen machen, können wir daraus mit sicherer Folgerung eine Menge Erscheinungen nachweisen, die tatsächlich so vorkommen, wie wir sie durch die Vernunft angegeben sehen. Wir dürfen nicht hoffen, von allen Erfahrungen Rechenschaft abzulegen, wie selbst die Geometer noch nicht alle ihre Grundsätze bewiesen haben, aber wie sie zufrieden sind, eine große Zahl von Lehrsätzen aus einer kleinen Anzahl von Vernunftprinzipien abzuleiten, ist es auch genug, daß die Physiker mittelst einiger Erfahrungsgrundsätze von einer großen Menge von Erscheinungen Rechenschaft ablegen und sie in der Praxis sogar vorhersehen können.

§ 11. Philalethes. Weil aber unsere Geisteskräfte nicht dazu angetan sind, uns die innere Bildung der Körper deutlich zu machen, müssen wir es als hinlänglich erachten, daß sie uns das Dasein Gottes und eine genügende Selbsterkenntnis erschließen, um uns über unsere Pflichten und über unsere wichtigsten Interessen hinsichtlich der ganzen Ewigkeit zu unterrichten. Und so glaube ich im Recht zu sein, daraus zu folgern, daß die Moral die eigentliche Wissenschaft und die große Angelegenheit der Menschen im allgemeinen ist, wie andrerseits die verschiedenen Künste, welche verschiedene Teile der Natur betreffen, einzelnen zukommen. Man kann z.B. sagen, daß die Unwissenheit im Gebrauch des Eisens Ursache ist, daß in den Ländern von Amerika, wo die Natur alle Arten von Gütern ausgebreitet hat, die meisten Bequemlichkeiten des Lebens fehlen. Weit entfernt also, die Wissenschaft der Natur zu verachten (§ 12), halte ich dafür, daß dies Studium, wenn es gehörig geleitet wird, von größerem Nutzen für das Menschengeschlecht sein kann, als alles, was man bisher gemacht hat; und[497] derjenige, welcher die Buchdruckerei erfand, den Gebrauch des Kompasses entdeckte und die Heilkraft der Quinquinarinde zeigte, mehr zur Verbreitung des Wissens und zur Förderung der dem Leben nützlichen Bequemlichkeiten beigetragen und mehr Menschen vom Tode gerettet hat, als die Gründer von Schulen und Hospitälern und anderen mit großen Kosten errichteten Denkmalen rühmlichster Menschenliebe.

Theophilus. Sie können nichts sagen, was mir mehr zusagte. Die wahre Moral oder Frömmigkeit, weit entfernt, die Trägheit gewisser fauler Quietisten zu begünstigen, muß uns dazu treiben, die Künste zu pflegen. Und wie ich vorlängst gesagt habe, würde eine bessere Staatskunst imstande sein, uns dereinst eine viel bessere Medizin, als wie wir jetzt haben, zu verschaffen. Nächst der Sorge für die Sittlichkeit kann man dies nicht genug predigen.

§ 13. Philalethes. Obwohl ich die Erfahrung empfehle, verachte ich doch die wahrscheinlichen Hypothesen keineswegs. Sie können zu neuen Entdeckungen führen und sind wenigstens dem Gedächtnis eine große Hilfe. Aber unser Geist ist sehr geneigt, zu schnell fortzueilen und sich mit einigen leichten Wahrscheinlichkeiten zufrieden zu geben, ohne sich die nötige Mühe und Zeit zu nehmen, sie auf viele Erscheinungen anzuwenden.

Theophilus. Die Kunst, die Ursachen der Erscheinungen oder die wirklichen Hypothesen zu entdecken, ist wie die Dechiffrierkunst, wo eine sinnreiche Vermutung ein großes Stück Weges abkürzt. Lord Bacon hat den Anfang gemacht, die Kunst zu experimentieren auf Vorschriften zu bringen, und der Ritter Boyle hat ein großes Talent sie auszuüben gehabt. Aber verbindet man nicht damit die Kunst, die Erfahrungen anzuwenden und Folgerungen daraus zu ziehen, so wird man mit königlichem Kostenaufwande nicht dahin kommen, was ein Mann von großem Scharfsinn sogleich entdecken konnte. Descartes, der dies sicherlich war, hat in einem seiner Briefe bei Gelegenheit der Methode des Kanzlers von England eine ähnliche Bemerkung gemacht, und Spinoza, den zu zitieren ich mich nicht scheue, wenn er etwas Gutes sagt, macht in einem seiner Briefe an den verstorbenen Oldenburg, Sekretär der Royal Society von England, welche unter den nachgelassenen[498] Werken dieses scharfsinnigen Juden gedruckt sind, eine verwandte Reflexion über ein Werk Boyles, der, die Wahrheit zu sagen, sich ein wenig zu lange damit aufhält, aus einer unendlichen Zahl schöner Erfahrungen keinen anderen Schluß zu ziehen, als den, welchen er als Grundsatz hätte annehmen können, daß nämlich in der Natur alles auf mechanische Art geschieht, ein Grundsatz, dessen man sich durch die bloße Vernunft und niemals durch die Erfahrungen, so viel man auch deren mache, versichern kann.

§ 14. Philalethes. Nachdem man klare und deutliche Vorstellungen mit bestimmten Namen aufgestellt hat, besteht das große Mittel zur Ausbreitung unserer Erkenntnisse in der Kunst, die Mittelbegriffe zu finden, welche uns die Verknüpfung oder die Unverträglichkeit der einander fernstehenden Begriffe zeigen können. Die Maximen wenigstens dienen nicht dazu, sie uns zu verschaffen. Gesetzt, daß jemand keine genaue Vorstellung von einem rechten Winkel hat, so wird er sich vergeblich quälen, etwas über das rechtwinklige Dreieck zu beweisen, und welche Maximen man auch anwende, man wird Mühe haben, mit ihrer Hilfe dahin zu gelangen, zu beweisen, daß die Quadrate der den rechten Winkel einschließenden Seiten dem Quadrat der Hypothese gleich sind. Es könnte jemand lange über die Grundsätze nachdenken, ohne jemals in der Mathematik klarer zu sehen.

Theophilus. Über die Grundsätze nachzudenken hilft nichts, wenn man nicht sie anzuwenden Gelegenheit hat. Die Grundsätze dienen oft dazu, die Vorstellungen zu verknüpfen, wie z.B. jene Maxime, daß die ähnlichen Strecken zweiter und dritter Dimension sich wie die Quadrate und Kuben der entsprechenden Stücke erster Dimension verhalten, von größtem Nutzen ist. Daraus entsteht z.B. die Quadratur des Möndchens des Hippokrates, wenn man eine Anwendung auf Kreise macht und eine zweckmäßige Anordnung der Figuren damit verbindet.[499]

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 489-500.
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