Kapitel VIII.

Weitere Betrachtungen über die einfachen Vorstellungen

[99] § 2. Philalethes. Was werden wir von den Vorstellungen der negativen Eigenschaften sagen? Mir scheint, daß die Vorstellungen der Ruhe, der Finsternis und der Kälte ebenso positiv sind, wie die der Bewegung, des Lichtes und der Wärme. Wenn man indessen diese Negationen als Ursachen der positiven Vorstellungen hinstellt, bin ich der gewöhnlichen Meinung, aber im Grunde wird es zu bestimmen schwer sein, ob wirklich eine Vorstellung dabei ist, welche aus einer negativen Ursache stammt, bis man nämlich bestimmt hat, ob die Ruhe eher als die Bewegung eine Negation ist.

Theophilus. Ich hätte nicht geglaubt, daß man an dem negativen Wesen der Ruhe zu zweifeln Veranlassung haben könnte. Es genügt dazu, daß man die Bewegung beim Körper aufhebt, aber zur Bewegung genügt nicht, daß man die Ruhe aufhebt, denn man muß noch etwas anderes hinzufügen, um den Grad der Bewegung zu bestimmen, weil es zu ihrem Wesen gehört, davon mehr oder weniger zu erhalten, während alle Arten Ruhe gleich sind. Etwas anderes ist es, von der Ursache der Ruhe zu reden, welche in der zweiten Materie oder Masse positiv sein muß. Ich möchte auch glauben, daß selbst die Vorstellung der Ruhe negativ ist, d.h. daß sie nur in einer Negation besteht. Allerdings ist die Handlung des Verneinens etwas Positives.

§ 9. Philalethes. Da die Eigenschaften der Dinge die Vermögen sind, in uns die Wahrnehmung der Vorstellungen hervorzubringen, so ist es zweckmäßig, sie voneinander zu unterscheiden. Es gibt erste und zweite Eigenschaften. Die Ausdehnung, die Dichtigkeit, die Gestalt, die Zahl, die Beweglichkeit sind ursprüngliche und vom Körper untrennbare Eigenschaften, welche ich erste nenne.

§ 10. Aber zweite Eigenschaften nenne ich die Vermögen oder Kräfte des Körpers, gewisse sinnliche Empfindungen in uns oder gewisse Wirkungen in anderen Körpern hervorzubringen, wie z.B. das Feuer im Wachs hervorbringt, indem es dasselbe schmelzt.

[99] Theophilus. Man könnte, glaube ich, sagen, daß, wenn die Kraft wohl zu verstehen ist und deutlich erklärt werden kann, sie unter die ersten Eigenschaften gerechnet werden müsse, wenn sie aber nur sinnlich ist und nur eine verworrene Vorstellung bietet, wird man sie unter die zweiten Eigenschaften setzen müssen.

§ 11. Philalethes. Diese ersten Eigenschaften zeigen, wie die Körper aufeinander wirken. Nun wirken die Körper nur durch Anstoß, wenigstens soweit, als wir es begreifen können; denn unmöglich ist zu begreifen, daß die Körper auf das, was sie nicht berühren, wirken können, was ebensoviel wäre, als sich einbilden, der Körper könne wirken, wo er nicht ist.

Theophilus. Ich bin auch der Ansicht, daß die Körper nur durch Anstoß wirken. Indessen liegt in dem soeben vernommenen Beweis noch eine Schwierigkeit, denn die Anziehung findet nicht immer ohne Berührung statt, und man kann berühren und fortbewegen ohne sichtbaren Anstoß, wie ich oben, als ich von der Härte sprach, gezeigt habe. Wenn es die Atome des Epikur gäbe, so würde ein angestoßener Teil den anderen mit sich fortbewegen und ihn berühren, indem er ihn ohne Anstoß in Bewegung setzte; und bei der gegenseitigen Anziehung der einander naheliegenden Dinge kann man nicht sagen, daß das, was ein anderes mit sich fortbewegt, da, wo es nicht ist, wirkt. Dieser Grund würde nur gegen die Anziehung aus der Ferne streiten, wie auch hinsichtlich dessen, was man die vires centripetas (zentripetalen Kräfte) nennt, die von einigen Gelehrten vorgebracht worden sind.

§ 13. Philalethes. Gewisse Teile, die auf eine gewisse Art unsere Organe treffen, verursachen in uns gewisse Empfindungen von Farben oder Geschmäcken oder anderen sekundären Eigenschaften, welche das Vermögen haben, diese Empfindungen hervorzubringen. Und es ist nicht schwerer zu begreifen, daß Gott solche Vorstellungen (wie die der Wärme) mit Bewegungen verknüpfen könne, mit denen sie keine Ähnlichkeit haben, als zu begreifen schwer ist, daß er die Vorstellung des Schmerzes mit der Bewegung eines Stückes Eisen verbunden hat, das unser Fleisch zerteilt, einer Bewegung, welcher der Schmerz in keiner Weise gleicht.

[100] Theophilus. Man darf sich nicht einbilden, daß diese Vorstellungen der Farbe oder des Schmerzes willkürlich und ohne Beziehung oder natürliche Verbindung mit ihren Ursachen sind; mit so wenig Ordnung und Vernunft zu handeln, ist nicht Gottes Gewohnheit Ich möchte vielmehr sagen, daß dabei eine Art von Ähnlichkeit ist, zwar keine gänzliche und sozusagen in terminis, aber doch eine in Ausdruck zu fassende oder eine Art von Beziehung der Anordnung, wie eine Ellipse und selbst eine Parabel oder Hyperbel in gewisser Beziehung dem Kreise gleichen, dessen Projektion auf der Ebene sie sind, da zwischen dem, was projiziert wird, und der Projektion, die davon gemacht wird, jeder Punkt des einen jedem Punkte der anderen nach einer gewissen Beziehung entspricht. Dies beachten die Kartesianer nicht genüge und Sie haben diesmal ihnen mehr als gewöhnlich nachgegeben und mehr, als Grund dazu war.

§ 15. Philalethes. Ich nehme an, was mir richtig er scheint und der Augenschein lehrt, daß die Vorstellungen der ersten Eigenschaften der Körper diesen Eigenschaften gleichen, aber daß die in uns durch die zweiten Eigenschaften erzeugten Vorstellungen ihnen in keiner Weise gleichen.

Theophilus. Ich habe eben bemerkt, wie in Hinsicht der zweiten ebensogut als in Hinsicht der ersten Eigenschaften Ähnlichkeit und genaue Beziehung stattfindet. Es ist ganz vernünftig, daß die Wirkung ihrer Ursache entspreche, und wie kann man das Gegenteil versichern, da man weder die sinnliche Empfindung des Blauen, noch die Bewegungen, welche sie hervorrufen, genau kennt? Allerdings gleicht der Schmerz nicht den Bewegungen einer Nadel, er kann aber sehr wohl den Bewegungen, welche diese Nadel in unserem Körper verursacht, gleichen und diese Bewegungen in der Seele darstellen, wie ich gar nicht zweite, daß es der Fall ist. Deswegen sagen wir auch, daß der Schmerz in unserem Körper und nicht in der Nadel ist. Wir sagen aber, das Licht ist im Feuer, weil es im Feuer Bewegungen gibt, die zwar nicht auf bestimmte Art besonders wahrnehmbar sind, aber deren Vermischung oder Verbindung wahrnehmbar wird und durch die Vorstellung des Lichtes sich uns darstellt.[101]

§ 21. Philalethes. Wenn aber die Beziehung zwischen Gegenstand und sinnlicher Empfindung natürlich wäre, wie könnte es doch geschehen, daß, wie wir in der Tat wahrnehmen, das nämliche Wasser der einen Hand warm und der andern kalt erscheinen kann? Was auch zeigt, daß die Wärme nicht mehr im Wasser ist, als der Schmerz in der Nadel.

Theophilus. Das Angeführte zeigt höchstens, daß die Wärme keine sinnlich empfindbare Qualität oder Kraft ist, welche ganz und gar für sich empfunden werden kann, sondern daß sie sich auf die ihr angemessenen Organe bezieht: denn eine eigene Bewegung in der Hand kann sich damit verbinden und ihre Erscheinung ändern. Auch erscheint das Licht Augen von schlechter Beschaffenheit nicht, und wenn sie selbst schon von starkem Licht erfüllt sind, ist ein schwächeres für sie nicht mehr empfindbar. Selbst die nach Ihrer Bezeichnung ersten Eigenschaften, z.B. die Einheit und die Zahl, brauchen nicht immer in gehöriger Weise zu erscheinen. Denn, wie schon Descartes erwähnt hat, erscheint eine mit den Fingern auf eine gewisse Art berührte Kugel doppelt, und die fazettiert geschliffenen Spiegel oder Gläser vervielfältigenden Gegenstand. Es folgt daraus also nicht, daß das, was immer ebenso erscheint, eine Beschaffenheit des Gegenstandes sei und daß sein Bild ihm gleiche. Und was die Wärme anbetrifft, so läßt sich, wenn unsere Hand sehr heiß ist, die mittlere Wärme des Wassers nicht bemerken und mäßigt vielmehr die der Hand, und das Wasser erscheint uns folglich kalt, wie das Salzwasser des Baltischen leeres, wenn es mit dem Wasser des Portugiesischen leeres gemischt wird, dessen spezifischen Salzgehalt vermindert, obgleich das erstere selbst salzhaltig ist. So kann man in einer Hinsicht sagen, daß die Wärme dem Wasser eines Bades angehört, obgleich es jemand kalt erscheinen kann, wie der Honig schlechthin süß genannt wird und das Silber weiß, obgleich manchem Kranken der eine bitter, das andere gelb erscheint, denn die Bezeichnung geschieht nach dem Gewöhnlichsten. Dennoch bleibt es wahr, daß, wenn das Organ und das Mittel gehörigermaßen beschaffen sind, die inneren Bewegungen und die der Seele sie darstellenden Vorstellungen den Bewegungen des Gegenstandes gleichen,[102] welche die Farbe, den Schmerz usw. bewirken, oder, was hierbei dasselbe ist, ihn durch einen ganz genauen Rapport ausdrücken, obgleich dieser Rapport uns nicht deutlich erscheint, weil wir jene Menge kleiner Eindrücke weder in unserer Seele, noch in unserem Körper, noch in dem, was außer uns ist, voneinander unterscheiden können.

§ 24. Philalethes. Die Eigenschatten der Sonne, das Wachs zu bleichen und zu erweichen oder den Kot zu verhärten, betrachten wir nur als einfache Kräfte, ohne in der Sonne etwas vorzustellen, was dieser Weiße oder dieser Weichheit oder dieser Härte gleicht: die Wärme aber und das Licht werden gemeiniglich als wirkliche Eigenschaften der Sonne betrachtet. Erwägt man indessen die Sache wohl, so sind diese Eigenschaften des Lichts und der Wärme, welche in mir Wahrnehmungen sind, auf keine andere Art in der Sonne, als die im Wachs hervorgebrachten Veränderungen, wenn es gebleicht oder geschmolzen wird.

Theophilus. Diese Lehre haben einige so weit getrieben, daß sie uns haben überreden wollen, jemand, der die Sonne berühren könne, würde darin gar keine Wärme finden. Die nachgeahmte Sonne, welche sich im Fokus eines Spiegels oder eines Brennglases fühlbar macht, kann diesen Irrtum widerlegen. Was aber die Vergleichung zwischen dem Vermögen des Erwärmens und dem des Schmelzens anbetrifft, so wage ich zu behaupten, daß, wenn das geschmolzene oder gebleichte Wachs Empfindung hätte, es auch etwas dem Ähnliches empfinden würde, was wir empfinden, wenn die Sonne uns wärmt, und, wenn es könnte, würde es sagen, daß die Sonne heiß sei – nicht, weil seine Weiße der Sonne ähnlich ist, denn wenn die Gesichter von der Sonne gebrannt werden, würde deren dunkle Farbe ihr auch gleichen müssen, sondern weil im Wachs Bewegungen geschehen, welche zu den sie verursachenden der Sonne eine Beziehung haben. Seine Weiße könnte aus einer anderen Ursache stammen, aber nicht die Bewegungen, welche es gehabt hat, als es jene von der Sonne empfing.[103]

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 99-104.
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