[75] 2. Die Lehre vom Schein

Lau Tscheng Dsï wollte bei Meister Yin Wen die Lehre vom Schein erlangen. Aber der teilte ihm drei Jahre lang nichts mit. Da bat Lau Tscheng Dsï um Aufklärung über seine Fehler und Entlassung. Meister Yin Wen machte ihm eine Verbeugung und führte ihn in sein Gemach.

Nachdem er die Leute seiner Umgebung entfernt hatte, sprach er also zu ihm: »Als vor Zeiten Lau Dan (Laotse) nach Westen ging, wandte er sich zu mir und sprach: ›Die Kraft, die zu Zeugungen führt, die Form, die zu Gestaltungen führt, sind beide nur Schein. Was durch Schöpfung und Wandlung begonnen wird, was durch die beiden Weltkräfte verändert wird, heißt Zeugung, heißt Tod. Was die Bestimmung bedingt, die Veränderungen durchdringt, die Gestaltungen verursacht, den Wechsel veranlaßt, heißt Wandlung, heißt Schein. Die Macht, die die Welt erschuf, ist geheimnisvoll in ihrem Wirken, tief in ihrem Walten, darum ist sie unerschöpflich[75] und unendlich. Die Macht, die die Einzelgestaltungen verursacht, ist offenbar in ihrem Wirken und flach in ihrem Walten, darum wechselt bei ihnen Entstehen und Vergehen. Wer erkennt, daß Schein und Wandlung dasselbe ist wie Zeugung und Tod, der erst kann die Lehre vom Schein erlangen. Ich und du sind auch Schein, was braucht man ihn also erst noch zu erlernen!‹«

Lau Tscheng Dsï kehrte heim und dachte über die Worte des Meisters Yin Wen tief nach, drei Monate lang. Da hatte er die freie Herrschaft über Sein und Nichtsein. Er konnte die vier Jahreszeiten vertauschen, im Winter Donner und im Sommer Eis machen, die Vögel zu Lauftieren und die Lauftiere zu Vögeln machen. Aber sein Leben lang offenbarte er nicht sein Geheimnis, darum ward es in der Welt nicht überliefert.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 75-76.
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