Buch III

[196] Dieses Buch, das nach dem Romantiker auf dem Throne von China, dem König Mu, benannt ist, beschäftigt sich vorzugsweise mit dem Verhältnis des bewußten, wachen Lebens, sowie des Traumlebens und verwandter psychischer Zustände zur Wirklichkeit.


[196] 1 Der König Mu ist der fünfte Herrscher aus dem Hause Dschou; er regierte von 1001-947 v.Chr. Er ist der chinesischen Sage nach berühmt wegen seiner weiten Reisen nach Westen, die ihn zu der Königin-Mutter des Westens geführt haben. Nach einem chinesischen Kommentar ist er ein göttliches Wesen, das zur Strafe für Vergehen in die Menschenwelt gebannt wurde, aber sich darin nicht so heimisch fühlte wie die gewöhnlichen Menschen, weshalb sein Leben voll ist von Reisen und Abenteuern. Diese Bemerkung gibt möglicherweise einen Fingerzeig für gewisse mythologische Züge, die mit der Geschichte dieses Fürsten verwoben sind. Der hier vorliegende Abschnitt gehört mit zu den Quellen dieser Sagen, die mit der Zeit noch weiter ausgestaltet wurden und manchen europäischen Gelehrten viel Kopfzerbrechen gemacht haben. Es wird wohl ein vergebenes Bemühen bleiben, diese Königin-Mutter des Westens (Si Wang Mu) mit irgendeiner historischen Persönlichkeit, wie z.B. der Königin von Saba, zu identifizieren. Im vorliegenden Abschnitt sind drei Orte genannt, wohin der König Mu auf seinen Reisen kam, deren Zusammenstellung einigermaßen Licht in die Frage bringen könnte:

a) Das Land der großen Jäger, Gü Sou. Aus der Beschreibung der dortigen Sitten geht ziemlich deutlich hervor, daß es sich um einen der mongolisch-hunnischen Nomadenstämme im Westen des damaligen Chinas handelt, mit denen König Mu auch nach anderen Geschichtsquellen häufig zu tun hatte.

b) Der Kun Lun-Berg. Es ist wohl mit Hirth anzunehmen, daß der Kun Lun-Berg kein festliegender geographischer Begriff war, sondern daß er mit der jeweiligen Erweiterung der Kenntnis der Westgegenden weiter nach Westen rückte.

Das rote Wasser ist ein mythischer Fluß am Fuße des Gebirges, der nach drei Windungen zu seiner Quelle zurückkehrt und dessen Wasser Unsterblichkeit verleiht.

c) In dieser Umgebung – also in den westlichen Grenzländern Chinas, höchstens in Zentralasien müssen wir auch die Königin-Mutter des Westens (Si Wang Mu) suchen. Hier kommt uns nun die Tradition zu Hilfe, die im Westen Chinas ein Weibervolk (Amazonenvolk) kennt. In einem Bilderbuch aus der Sungzeit (gemalt von Tschen Gü Dschung) ist unter den Tributstaaten Chinas ein Frauenkönigreich (Nü Wang Guo) genannt. Dieses Amazonenvolk wird als prachtliebend bezeichnet, was ja zu den Schilderungen der Zustände bei der Königin-Mutter des Westens ganz gut stimmt. Dieses Frauenkönigreich scheint etwas Ähnliches gewesen zu sein wie das von Herodot genannte. Es handelt sich hier offenbar um[197] Staaten, in denen das Mutterrecht sich besonders lange gehalten hat.

Was nun den Magier aus dem Westen anlangt, so läßt sich über ihn natürlich nichts sagen. Die Verehrung, die König Mu dem Magier darbringt, erinnert lebhaft an den Kult der Götter. Der Bau, an dem die rote Farbe – die zur Dschouzeit die kaiserliche war – bezeichnend ist, war in seiner Art ähnlich konstruiert wie die babylonisch-assyrischen Tempeltürme, d.h. er bestand aus einer massiven Terrasse, auf der das eigentliche Gebäude aufgeführt war. Derartige Terrassen sind im alten China bei Palastbauten ziemlich häufig.

Die Lieder, die der König dem Magier vorsingen läßt, sind die Lieder der alten Könige. »Halte die Wolken« (Tscheng Yün) ist die Musik des Herrn der gelben Erde. »Sechsfacher Glanz« (Liu Yung) ist die Musik des Herrschers Hau. »Neunfache Harmonien« (Giu Schau) ist die Musik Schuns. »Der Morgennebel« (Tschen Lu) ist die Musik des Königs Tang der Schangdynastie. Die Reise, die der Magier mit dem König Mu zusammen macht, erinnert an manche Szenen aus 1001 Nacht. Das Schloß, wohin er ihn führt, steht offenbar nach der Anschauung des Verfassers der Sichtbarkeit noch verhältnismäßig nahe. Deshalb hat der König Mu auch die Fähigkeit, sich diesen Verhältnissen anzupassen und empfindet sie nur als Steigerung irdischer Pracht. Der zweite Ort scheint auf einer noch höheren geistigen »Ebene« zu liegen, in Gebieten, die dem Sinnenmenschen nicht mehr zugänglich sind.

An der Stelle, wo König Mu seine Reise nach Westen antritt, steht im Text eine ausführliche Schilderung der berühmten acht Pferde (Ba Dsün), die in der chinesischen Malerei ein beliebtes Thema geworden sind.

Der Platz, »wo die Sonne einkehrt«, wird auch V, 4 erwähnt. Die Sonne hat auf ihrem Wege sechzehn Stationen.

König Mu starb der Überlieferung nach im Alter von hundertundvier Jahren.


2 Lau Tscheng Dsï, auch Hiau Tscheng Dsï, ist ein Taoist ungefähr zur Zeit des Liä Dsï. Der Katalog der Handynastie führt ein Werk von ihm in achtzehn Abschnitten an.

Meister Yin Wen (Dsï) ist, wie aus dem Text hervorgeht, identisch mit Guan Yin Hi, dem Grenzwart am Han Gu-Paß, dem Laotse den Taoteking hinterlassen. Vgl. II, 4; IV, 15; VI, 7; VIII, 1. 3.

Man beachte die hier durchgeführte Unterscheidung zwischen der Idee im platonischen Sinn als der transzendenten Freiheit und der aus der Erfahrung geschöpften und notwendig bedingten Erscheinung.[198] Diese Unterscheidung entspricht vollkommen der Kantischen. Der Unterschied besteht nur darin, daß Kant von dieser Unterscheidung nur erkenntnistheoretischen Gebrauch macht, während sie hier in den Weltzusammenhang hineinprojiziert und hypostasiert ist. Daher dann auch das Bestreben, zu diesen transzendenten Ideen vorzudringen und durch ihren Besitz die Erfahrungswelt zu meistern. Dies ist der Punkt, um den sich die ganze Theorie des Taoismus dreht, und hier finden wir den Schlüssel zu der ganzen Zauberwelt und all dem Hokuspokus, in den diese Richtung sich mit der Zeit verloren hat.


3 Der hier ausgesprochene Gedanke ist derselbe, den Goethe im V. Akt des II. Teils des Faust gestaltet hat.

»Die heiligen Männer der Vorzeit« im Text genannt, sind: die fünf Herrscher (d.h. Fu Hi, Schen Nung, Huang Di, Yau und Schun) und die drei Könige (d.h. Yü, Tang, Wen Wang). Vgl. IV, 3; VII, 14.


4 Die sechs Träume: 1. der rechte Traum, der im gewöhnlichen Leben von selber kommt; 2. der Warnungstraum, der aus einer Beunruhigung entspringt; 3. der Sehnsuchtstraum, der aus dem Begehren entsteht; 4. der Wachtraum, der von dem handelt, was man im Wachen gesprochen; 5. der freudige Traum, der aus fröhlicher Stimmung kommt; 6. der Angsttraum, der aus der Stimmung der Furcht kommt.

»Erfüllungen« und »Vorbedeutungen« hat den Sinn, daß die Außenwelt, wenn sie auf die Psyche wirkt, die genannten Träume erzeugt, wenn sie auf die Körperlichkeit wirkt, in den genannten Arten zum Ausdruck kommt. Diese »Kategorien« des wachen Lebens sind nach europäischen Begriffen etwas merkwürdig zusammengestellt; namentlich daß Geburt und Tod darunter vorkommen, berührt seltsam. Nach chinesischer Auffassung sind aber Geburt und Tod in ähnlicher Weise Zustände des Ichs wie etwa Gewinnen und Verlieren.

Der Sinn der Ausführungen ist der, daß das gesamte psychische Leben sowohl im Wachen als im Traum mit der Außenwelt in Berührung steht und deren Einwirkungen nach festen kausalen Gesetzen unterworfen ist.

In dem Ausspruch von Liä Dsï kommt diese Auffassung noch deutlicher zum Ausdruck. Die Träume, die nach dem zweiten »Darum« genannt sind: Manie, Melancholie usw. sind wohl späterer Zusatz.


[199] 5 Die Sagen vom Gu Mang Reich und vom Fu Lo Reich werden dazu benutzt, um in Zusammenstellung mit dem Reich der Mitte die Relativität der Wertung von Wachen und Traum deutlich zu machen.


6 Ebenfalls ein Gleichnis zur Darstellung dieser Auffassung. Dieses Gleichnis erinnert einigermaßen an das vom reichen Mann und armen Lazarus im Lukas-Evangelium, nur daß, was dort ins Jenseits verlegt ist, hier im Traumleben untergebracht wird.


7 Noch mehr ins Humorvolle gewendet zeigt diese Geschichte die unentwirrbaren Verwicklungen zwischen Wachen und Traum. Historisch interessant ist die Rolle, die Konfuzius als das Ideal der Weisheit neben dem gelben Herrn spielt. Die Geschichte muß also wesentlich später als Liä Dsï sein.


8 Wieder eine Geschichte aus Sung, dem klassischen Land der taoistischen Legende. Der zugrundeliegende Vorgang bietet in seinem Verlauf deutliche Anklänge an Melancholie mit darauffolgender maniakalischer Tobsucht, wenn auch die Erklärung eine ganz andere ist.

Volkspsychologisch beachtenswert sind die Mittel, die man in derartigen Krankheiten anzuwenden pflegte: Orakel, Zauber und Arzneien.


9 Auch diese Geschichte, in der Konfuzius und Laotse als typische Vertreter der positivistischen bezw. skeptischen Weltanschauung auftreten, scheint späteren Ursprungs zu sein. Ihre ganze Auffassung weist in die Schule Yang Dschus (vgl. Buch VII).


10 Diese Geschichte hat ebenfalls einen stark antikonfuzianischen Beigeschmack, der sich darin zeigt, daß die heiligsten Gefühle der Pietät, die für die konfuzianische Schule die »natürliche« Grundlage aller Moral sind, als auf Einbildung beruhend hingestellt sind.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 196-200.
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