[136] 2. Carpe diem

Yang Dschu sprach: »Die höchste Grenze menschlichen Lebens sind hundert Jahre. Hundert Jahre erreicht unter Tausenden nicht einer. Doch nehmen wir an, es gebe so einen: die Zeit seiner Kindheit und Unreife und die des gebrechlichen Alters nimmt etwa die Hälfte davon ein; davon nimmt die Zeit, die man nachts im Schlafe verbringt und die tags im Wachen unbenützt verstreicht, wieder etwa die Hälfte weg; Schmerzen und Krankheit, Trauer und Verdruß, Verlust und Mißerfolg, Kummer und Sorgen nehmen von dem Rest wieder etwa die Hälfte weg. Innerhalb der übrigbleibenden Zahl[136] von etwa zehn Jahren kommt auf die Zeit, in der man vollkommen frei sich selbst genießt, ungetrübt von jeglicher Spur sorgender Gedanken, kaum einer Stunde Spanne.

In eines Menschen Leben, was bleibt da also noch an Freuden übrig? Es bleibt Genuß, es bleibt die Schönheit der Töne und Farben; doch des Genusses kann man sich auch nicht dauernd ungetrübt erfreuen, an Tönen und Farben kann man sich auch nicht dauernd ungetrübt ergötzen; dazu kommen noch die Überredungen und Einschränkungen von Lohn und Strafe, die hemmenden und treibenden Einflüsse von Namen und Vorbildern. In rastloser Hast streitet man um eitles Lob während der Spanne Zeit, um nach dem Tode überflüssige Verherrlichung zu erreichen. Nutzlos zügelt man Ohren und Augen und achtet auf Recht und Unrecht der Triebe des Leibes. So bringt man sich umsonst um den höchsten Genuß der Gegenwart und ist auch nicht der einen Stunde freier Herr. Wodurch unterscheidet sich ein solches Leben noch von den Ketten und Fesseln eines schweren Verbrechers?

Die Menschen der grauen Vorzeit hatten erkannt, daß des Lebens Dauer flüchtig ist, hatten erkannt, daß es flüchtig dem Tode zueilt; darum ließen sie in ihren Handlungen ihrem Herzen freien Lauf und widerstrebten nicht den natürlichen Neigungen, und was augenblicklich dem Leibe schmeichelte, das taten sie nicht ab. So ließen sie sich nicht um des Ruhmes willen überreden; sie folgten ihrer Natur und ließen sich treiben, und aller Wesen Neigungen ließen sie gewähren. Sie waren nicht auf Ruhm nach dem Tode aus, so wurden sie auch von der Strafe nicht erreicht. Und Ruhm und Lob der früheren oder späteren Zeit und ihrer Lebensjahre zugemessene Zahl beachteten sie nicht.«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 136-137.
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