Drittes Kapitel.
Von allgemeinen Ausdrücken

[8] § 1. (Die meisten Worte sind allgemeine.) Da alle bestehenden Dinge einzelne sind, so wäre es völlig vernünftig, wenn die Worte, die den Dingen entsprechen sollen, es ebenfalls wären; ich meine in ihrer Bedeutung; allein es findet gerade das Gegentheil statt. Bei Weitem die meisten Worte in den Sprachen sind allgemeine Ausdrücke, und es ist dies nicht die Folge von[8] Nachlässigkeit und Zufall, sondern von Verstand und Nothwendigkeit.

§ 2. (Denn es ist unmöglich, dass jedes einzelne Ding einen Namen haben könne.) Erstens ist es unmöglich, dass jedes einzelne Ding einen besonderen Namen habe. Die Bedeutung und der Gebranch der Worte hängt von der Verbindung ab, welche die Seele zwischen ihren Vorstellungen und den Worten, als deren Zeichen, macht. Deshalb muss die Seele bei Anwendung der Namen auf die Dinge bestimmte Vorstellungen von letzteren haben und auch den jedem einzelnen Dinge zugehörigen Namen und dessen Gebrauch für dasselbe sich einprägen; nun übersteigt es aber die Kräfte des Menschen, von allen einzelnen Dingen, die er antrifft, besondere Vorstellungen zu bilden und zu behalten; selbst in dem grössten Verstande könnte nicht jeder Vogel und jedes andere Thier, das man gesehen, nicht jeder Baum und jede Pflanze, welche die Sinne erregten, einen Platz finden: Wenn es schon als ein staunenswerthes Gedächtniss gilt, dass manche Generale jeden Soldaten ihres Heeres bei Namen gekannt haben, so erklärt dies genügend, weshalb man nicht jedem Schafe in der Heerde und nicht jeder Krähe, die über den Köpfen wegfliegt, einen Namen gegeben hat, und weshalb dies noch weniger mit jedem Blatt eines Baumes und jedem Sandkorn auf dem Wege geschehen ist.

§ 3. (Es wäre auch nutzlos.) Wäre es aber zweitens auch möglich, so würde es doch nutzlos sein, weil es zu dem Hauptzweck der Sprache nichts beitrüge. Man würde vergeblich Namen der einzelnen Dinge anhäufen, denn sie wären zur Mittheilung der Gedanken nicht zu gebrauchen. Man lernt die Worte und gebraucht sie in dem Gespräch mit Anderen nur des Verständnisses halber, und das geschieht nur, wenn durch Gebrauch oder Uebereinstimmung mein Laut in dem Hörer dieselbe Vorstellung erweckt, von der ich spreche. Dies ist aber bei Namen für die einzelnen Dinge nicht möglich; denn der Andere kann nicht mit all den einzelnen Dingen, die ich wahrgenommen, bekannt sein, und deshalb können meine Worte für den Anderen nicht bezeichnend oder verständlich sein.[9]

§ 4 Drittens würden, selbst wenn dies möglich wäre (was es wohl nicht sein dürfte), bestimmte Worte für die einzelnen Dinge zur Vermehrung des Wissens wenig helfen, da es zwar auf dies Einzelne sich gründet, aber nur durch allgemeine Auffassungen sich erweitert, wozu die unter allgemeinen Namen gebrachten Arten der Dinge vorzüglich dienen. Diese Arten mit ihren Namen halten sich in einer gewissen Grenze und vermehren sich nicht jeden Augenblick über das Maass hinaus, was der Mensch fassen kann, oder was die Sache erfordert. Deshalb hat man sich meist hierauf beschränkt, ohne indess deshalb die Unterscheidung des Einzelnen durch Eigennamen da zu hindern, wo das Bedürfniss es erforderte. Deshalb macht der Mensch von den Eigennamen insbesondere bei seiner eigenen Gattung Gebrauch, mit der er am meisten zu thun hat, und wo er oft Anlass hat, den Einzelnen hervorzuheben; da hat daher der Einzelne auch seinen besonderen Namen.

§ 5. (Welche Dinge eigene Namen haben.) Aus demselben Grunde haben ausser den Personen auch die Länder, die Städte, die Flüsse, die Gebirge und ähnliche bestimmte Oertlichkeiten ihren Namen erhalten, da man oft Anlass hat, dergleichen im Einzelnen so zu bezeichnen, als wären sie Dem, mit welchem man spricht, vor Augen gestellt; und wo man Grund hafte, der einzelnen Pferde so oft wie der einzelnen Menschen zu erwähnen, da werden sicherlich die Eigennamen bei ihnen so gebräuchlich, wie bei den Menschen sein. Bucephalos wäre dann ein ebenso gebräuchliches Wort wie Alexander. Deshalb haben auch bei Bereitern die Pferde ebenso wie die Bedienten ihre Eigennamen, nach denen sie gekannt und genannt werden, da dort oft Anlass ist, des einzelnen Pferdes zu erwähnen, ohne es vor Augen zu haben.

§ 6. (Wie die allgemeinen Worte gebildet worden sind.) Zunächst ist zu untersuchen, wie die Worte gebildet werden. Da alle Dinge nur einzelne sind, so fragt sich, wie man zu allgemeinen Worten kommt, und wo man die allgemeinen Naturen findet, die sie bezeichnen. Die Worte werden allgemein, wenn sie zu Zeichen allgemeiner Vorstellungen gemacht werden; die Vorstellungen werden allgemein, wenn man die Nebenumstände der Zeit und des Ortes und Anderes abtrennt, was sie zu dem einzelnen[10] bestimmten Dinge macht. Auf diesem Wege des Abtrennens können sie mehrere einzelne Dinge darstellen; denn jedes einzelne Ding hat in sich das, was mit dieser Trennvorstellung übereinstimmt oder (wie man sich ausdrückt) von dieser Art ist.

§ 7. Um indess dem etwas näher zu treten, will ich den Begriffen und Namen bis zu ihrem Ursprung folgen und untersuchen, wie allmählich und in welchen Schritten die Vorstellungen sich von der Kindheit ab erweitern. Unzweifelhaft sind die Vorstellungen von den Personen, mit denen Kinder verkehren (um bei diesem Fall stehen zu bleiben), so einzelne, wie diese Personen selbst. Die Vorstellung der Amme und der Mutter sind in ihrer Seele gut ausgebildet; sie stellen, wie Gemälde, nur diese Einzelnen vor, und die ihnen gegebenen Namen beziehen sich nur auf diese einzelnen Personen; die Namen der Amme und der Mama beschränken sich nur auf diese. Später, wenn Zeit und weitere Bekanntschaft die Kinder bemerken lassen, dass es auch viele andere Wesen in der Welt giebt, die in manchen Stücken, wie in der Gestalt und anderen Eigenschaften, ihrem Vater oder ihrer Mutter und ihren Bekannten gleichen, bilden sie eine Vorstellung von dem, an welchem, wie sie bemerken, all diese Einzelnen theilnehmen, und dieser geben sie dann z.B. den Namen: Mensch. So gelangen sie zu allgemeinen Worten und Vorstellungen; sie machen dabei nichts Neues, sondern lassen nur von der zusammengesetzten Vorstellung, die sie von Peter und Jakob, von Maria und Johanna haben, das Eigenthümliche weg, und behalten blos das Allen Gemeinsame.

§ 8. So wie sie auf diese Weise zu dem allgemeinen Namen und der Vorstellung des Menschen kommen, gelangen sie auch zu noch allgemeineren Namen und Vorstellungen. Sie bemerken, dass manche Dinge sich von ihrer Vorstellung des Menschen unterscheiden und daher nicht unter diesen Namen befasst werden können, dass sie aber doch gewisse Eigenschaften mit dem Menschen gemein haben; indem sie nun letztere allein festhalten und zu einer Vorstellung verbinden, gewinnen sie eine andere, noch allgemeinere Vorstellung, und wenn sie ihr einen Namen gegeben, haben sie einen Ausdruck von grösserem Umfange. Diese neue Vorstellung ist nicht[11] durch einen Zusatz erlangt, sondern wie vorher durch Weglassung der Gestalt und einzelner anderer mit dem Worte Mensch befasster Eigenschaften und Zurückbehaltung des Körpers mit Leben, Sinnen und freiwilliger Bewegung allein, die unter dem Namen: lebendiges Geschöpf befasst werden.

§ 9. (Allgemeine Naturen sind nur begriffliche Vorstellungen.) Dass dies der Weg ist, auf dem der Mensch zuerst allgemeine Vorstellungen und Namen gebildet hat, ist so klar, dass man statt Beweises nur sich selbst und Andere und das Vorschreiten in Kenntnissen zu beobachten braucht. Wer da meint, dass allgemeine Naturen oder Begriffe etwas Anderes als solche abgetrennte und theilweise Vorstellungen von mehr zusammengesetzten seien, wird in Verlegenheit sein, wo er sie hernehmen soll. Man überlege und sage, mir, wodurch die Vorstellung des Menschen von der des Peter und Paul, und die Vorstellung des Pferdes von der des Bucephalos sich anders unterscheidet, als dass das jedem Einzelnen Besondere weggelassen und das ihnen Allen Gemeinsame zurückbehalten worden ist? Lässt man von den zusammengesetzten Vorstellungen, die unter den Worten: Mensch und Pferd verstanden werden, das Besondere, worin sie unterschieden sind, weg, und behält man nur das, worin sie übereinstimmen, und macht man davon eine neue zusammengesetzte Vorstellung mit dem Namen: lebendiges Geschöpf, so hat man einen allgemeineren Ausdruck, der neben dem Menschen auch noch andere Geschöpfe befasst. Lässt man davon die Vorstellung des Wahrnehmens oder der freiwilligen Bewegung weg, und macht man aus den übrigen einfachen des Körpers, des Lebens und der Ernährung eine neue zusammengesetzte Vorstellung, so hat man eine neue, noch allgemeinere unter den Namen der Organismen. Kurz, auf diesem selbigen Wege gelangt die Seele zu den Vorstellungen von Körper, Substanz, und zuletzt von Sein, Ding und solchen allgemeinen Ausdrücken, die für alle unsere Vorstellungen überhaupt gelten. Das ganze Geheimniss der genera und species, von dem man solchen Lärm in den Schulen macht, und das man mit Recht ausserhalb derselben sowenig beachtet, ist nichts weiter als solche Trennvorstellungen, die mehr oder weniger umfassend[12] und mit einem Namen verbunden worden sind. Ueberall gilt hier ohne Ausnahme, dass der allgemeinere Name eine solche Vorstellung bezeichnet, die nur ein Theil von jeder unter ihr befassten ist.

§ 10. (Weshalb man meist von dem genus bei den Definitionen Gebrauch macht.) Dies erklärt, weshalb man bei der Definition der Worte, welche nur eine Erklärung ihrer Bedeutung ist, von dem genus Gebrauch macht, d.h. von dem nächsten, sie befassenden allgemeinen Worte. Es geschieht nicht aus Nothwendigkeit, sondern nur um sich die Aufzählung der einzelnen einfachen Vorstellungen zu ersparen, welche das nächste allgemeine Wort befasst, und manchmal wohl auch aus Scham, dass man es nicht vermag. Obgleich das Definiren durch genus und differentia (man entschuldige diese lateinischen Kunstausdrücke, sie bezeichnen am besten die ihnen zugehörigen Begriffe), ich sage, obgleich das Definiren durch genus der kürzeste Weg sein mag, so fragt es sich doch, ob es auch der beste ist; es ist wenigstens sicherlich nicht der einzige und der unbedingt nothwendige. Denn da das Definiren durch Worte dem Andern nur verständlich macht, welche Vorstellung der definirte Ausdruck enthält, so geschieht es am besten, wenn man die einfachen darin verbundenen Vorstellungen aufzählt. Wenn man statt dessen sich an den nächsten allgemeinen Ausdruck gewöhnt hat, so ist es nicht aus Nothwendigkeit, oder der Klarheit wegen, sondern der Schnelligkeit und Bequemlichkeit wegen geschehen; denn ich glaube, dass, wenn man sagt: Der Mensch ist eine ausgedehnte Substanz, welche Leben, Sinne, freie Bewegung und Vernunft hat, der Sinn des Ausdrucks »Mensch« dadurch ebensogut verstanden werden wird, als wenn er durch »vernünftiges Thier« definirt würde, da diese Definition durch die Definitionen des Thieres, des Körpers und des Lebendigen sich ebenfalls in die aufgezählten Bestimmungen auflöst. Ich bin hier bei der Erklärung des Ausdrucks Mensch der gewöhnlichen Definition der Schulen gefolgt; sie ist vielleicht nicht ganz genau, allein sie passt hier für meinen Zweck. Sie zeigt auch, was die Regel veranlasst hat, dass eine Definition aus dem genus und der differentia bestehen müsse, und wie wenig man derselben bedarf, und wie gering der[13] Nutzen ihrer genauen Befolgung ist. Denn wenn das definiren, wie gesagt, nur ein Wort durch andere erklärt, damit seine Vorstellung sicher erfasst werde, so sind doch die Sprachen nicht immer nach den Regeln der Logik so gebildet, dass die Bedeutung jedes Wortes genau und klar durch zwei andere ausgedrückt werden könnte; die Erfahrung zeigt vielmehr das Gegentheil, oder es haben Die, welche diese Regel aufgestellt, nicht Recht gethan, dass sie uns so wenig ihr entsprechende Vorstellungen gegeben haben. Im nächsten Kapitel werde ich mehr darüber sagen.

§ 11. (Allgemeine Worte sind Geschöpfe des Verstandes.) Aus dem Gesagten erhellt, dass allgemeine Worte nicht zum wirklichen Dasein eines Dinges gehören; sie sind vielmehr Erzeugnisse und Erfindungen des Verstandes, die er für seine Zwecke gebildet hat, und nur Zeichen entweder von Worten oder Vorstellungen. Die Worte sind, wie gesagt, allgemeine, wenn sie allgemeine Vorstellungen bezeichnen und deshalb auf viele einzelne Dinge angewendet werden, können, und die Vorstellungen sind allgemeine, wenn sie als die Darstellungen vieler einzelnen Dinge aufgestellt sind. Aber Allgemeinheit gehört nicht den Dingen selbst an, vielmehr sind diese, als daseiende, sämmtlich einzelne; und dies gilt selbst bei den Worten und Vorstellungen, deren Bedeutung eine allgemeine ist. Verlässt man daher das Einzelne, so ist das Allgemeine, was übrig bleibt, nur ein von uns selbst gemachtes Geschöpf; seine allgemeine Natur ist nur die von dem Verstande ihm beigelegte Fähigkeit, vieles Einzelne zu bezeichnen und darzustellen; seine Bedeutung ist nur eine Beziehung, die ihm von der Seele zugegeben ist.

§ 12. (Die begrifflichen Vorstellungen sind das Wesen der genera und species.) Es ist also zunächst zu untersuchen, welche Art von Bedeutung die allgemeinen Worte haben; denn da sie offenbar nicht blos ein einzelnes Ding bezeichnen, weil sie sonst keine allgemeinen Worte, sondern Eigennamen sein würden, so ist doch klar, dass sie auch keine Mehrheit bezeichnen, denn sonst würden Mensch und Menschen dasselbe bedeuten, und die Unterscheidung der Zahl (wie die Sprachlehrer sagen) wäre überflüssig und nutzlos. Das, was[14] die allgemeinen Worte bezeichnen, ist deshalb eine Art von Dingen, und jedes thut dies, indem es das Zeichen einer begrifflichen Vorstellung in der Seele ist; wenn mit dieser die daseienden Dinge übereinstimmen, so werden sie unter diesem Samen gebracht, oder, was dasselbe ist, sie sind von dieser Art. Daraus erhellt, dass das Wesen der Arten oder (wenn die lateinischen Ausdrücke vorgezogen werden) der species der Dinge nur diese begrifflichen Vorstellungen sind. Denn wenn ein Ding dadurch, dass es das Wesen einer Art enthält, zu dieser Art gehört, und wenn die Uebereinstimmung des Namens mit der damit verknüpften Vorstellung diesen Namen rechtfertigt, so muss es dasselbe sein, dieses Wesen oder diese Uebereinstimmung mit der Vorstellung zu haben; denn es ist dasselbe, ob etwas von derselben Artist, oder ob es ein Recht auf den Namen dieser Art hat. So ist es z.B. dasselbe, ein Mensch oder von dieser Art zu sein und ein Recht auf den Namen Mensch zu haben; ebenso ist es dasselbe, ein Mensch oder von der Art des Menschen zu sein und das Wesen des Menschen zu haben. Wenn also nur das Ding ein Mensch ist oder das Recht zu diesem Namen hat, welches mit der begrifflichen Vorstellung, welche das Wort Mensch bezeichnet, übereinstimmt, und wenn nur das Ding ein Mensch ist und ein Recht auf die Art Mensch hat, was das Wesen dieser Art hat, so folgt, dass die begriffliche Vorstellung, die das Wort bezeichnet, und das Wesen der Art ein und dasselbe ist. Daraus erhellt, dass das Wesen, der Arten der Dinge, und also auch ihre Theilung in Arten das Werk des Verstandes ist, welcher abtrennt und diese allgemeinen Vorstellungen bildet.

§ 13. (Sie sind das Werk des Verstandes, aber haben ihre Grundlage in der Aehnlichkeit der Dinge.) Man glaube nicht, ich hätte hier übersehen und bestritten, dass die Natur bei der Hervorbringung der Dinge manche einander ähnlich macht; es ist dies allbekannt, namentlich bei den Arten der Thiere und aller durch Samen fortgepflanzten Dinge. Allein dennoch dürfte ihre Ordnung nach Arten und ihre Benennung danach das Werk des Verstandes sein, indem er von ihrer Aehnlichkeit den Anlass zur Bildung begrifflicher allgemeiner Vorstellungen nimmt und diese mit darangehefteten[15] Namen als Muster oder Formen (denn in diesem Sinne hat das Wort eine besondere Bedeutung) in der Seele aufstellt. Je nachdem die einzelnen Dinge damit übereinstimmen, sind sie von dieser Art und erhalten deren Bezeichnung oder werden in diese Klasse gestellt. Wenn man z.B. sagt: Dieser ist ein Mensch; dies ist ein Pferd; dies ist Gerechtigkeit, jenes Grausamkeit; dies ist eine Uhr, jenes ein Hanswurst, so ist dies nur ein Einreihen dieser Dinge unter verschiedene Namen, weil sie den begrifflichen Vorstellungen entsprechen, zu deren Zeichen jene Worte gemacht worden sind; und die Wesenheiten dieser herausgehobenen und mit Namen belegten Arten sind nur jene begrifflichen Vorstellungen in der Seele, die gleichsam die einzelnen bestehenden Dinge zusammenbinden und Namen erhalten, unter die sie geordnet werden. Wenn allgemeine Worte mit den einzelnen Dingen eine Verbindung haben, so geschieht es vermittelst der sie vereinenden begrifflichen Vorstellung; deshalb kann das Wesen der Art, was der Mensch unterscheidet und benennt, nur die in seiner Seele bestehende begriffliche Vorstellung sein. Deshalb können die angeblichen wirklichen Wesenheiten der Substanzen, wenn sie von den begrifflichen Vorstellungen verschieden sein sollen, nicht das Wesen der Arten sein, unter die man sie ordnet. Zwei Arten können ebenso gut eine Art sein, wie zwei verschiedene Wesenheiten die Wesenheit einer Art, und ich frage: worin bestehen die Veränderungen in einem Pferde oder in dem Blei, wenn sie nicht dadurch zu einer andern Art werden? Erklärt man die Arten der Dinge durch die begrifflichen Vorstellungen, so ist dies leicht zu lösen; will man sich aber hier mit angeblichen wirklichen Wesenheiten helfen, so dürfte man in Verlegenheit kommen, und man wird nie wissen können, wenn ein Ding genau aufhört zur Art des Pferdes oder Blei's zu gehören.

§ 14. (Jede bestimmte begriffliche Vorstellung ist eine bestimmte Wesenheit.) Wenn ich diese Wesenheiten oder begrifflichen Vorstellungen (welche die Maasse der Worte und die Grenzen der Arten sind) das Werk des Verstandes nenne, so kann dies Niemand wundern, welcher bedenkt, dass wenigstens die Namen oft bei verschiedenen Personen auch verschiedene Verbindungen einfacher[16] Vorstellungen sind, und dass deshalb dem Einen etwas als Habgierde gilt und den Andern nicht. Selbst bei den Substanzen, wo die begrifflichen Vorstellungen den Dingen selbst entlehnt zu sein scheinen, sind sie doch nicht immer sich gleich; selbst nicht bei den uns am meisten bekannten Arten, mit denen man am vertrautesten ist, da man mehrmals bezweifelt hat, ob die von einem Weibe geborene Frucht ein Mensch sei, und deshalb sogar überlegt hat, ob sie ernährt und getauft werden solle. Dies wäre unmöglich gewesen, wenn die begriffliche Vorstellung oder das Wesen, dem der Name zukommt, von der Natur gebildet wäre und nicht in der unsicheren und veränderlichen Verbindung einfacher Vorstellungen bestünde, die der Verstand zusammenbringt und ihnen in ihrer Abtrennung dann einen besonderen Namen, giebt. Deshalb ist in Wahrheit jede begriffliche Vorstellung eine bestimmte Wesenheit, und die Worte für solche begriffliche Vorstellungen bezeichnen wesentlich verschiedene Dinge. So ist ein Kreis so wesentlich von einem Oval verschieden, wie das Schaf von der Ziege, und Regen ist so wesentlich vom Schnee verschieden, wie Wasser von Erde. Die begriffliche Vorstellung, welche das Wesen von einem Dinge ist, kann einem andern nicht mitgetheilt werden; deshalb bilden zwei begriffliche Vorstellungen, die in einem Punkte von einander abweichen, mit ihren Namen zwei verschiedene Arten oder species, und sind ebenso wesentlich verschieden als die zwei entferntesten und entgegengesetztesten in der Welt.

§ 15. (Die wirklichen und die Wort-Wesen.) Da das Wesen der Dinge vielfach als unbekannt angesehen wird (und nicht ohne Grund), so ist eine Untersuchung der verschiedenen Bedeutungen dieses Wortes nöthig. Erstens kann Wesen für das gelten, wodurch ein Ding das ist, was es ist, und deshalb kann man die wirkliche innere, aber bei Substanzen meist unbekannte Verfassung der Dinge, von welcher ihre erkennbaren Eigenschaften abhängen, ihr Wesen nennen. Dies ist die eigentliche und ursprüngliche Bedeutung dieses Wortes, wie aus seiner Bildung hervorgeht, da essentia in seinem ursprünglichen Sinne das Sein bedeutet. In diesem Sinne gebraucht man das Wort, wenn man von dem Wesen[17] einzelner Dinge spricht, ohne ihnen einen Namen zu geben. Zweitens hat man in den Büchern und Streitigkeiten der Schulen sich viel mit genus und species gemüht, und dadurch hat das Wort Wesen seine ursprüngliche Bedeutung beinahe verloren; anstatt die wirkliche Verfassung von Dingen bezeichnet man damit die künstliche Verfassung der genera und species. Man nimmt allerdings gewöhnlich an, dass diese eine wirkliche Verfassung haben, und unzweifelhaft muss es wirkliche Verfassungen geben, von denen jede Verbindung zusammen bestehender einfacher Vorstellungen abhängt. Allein da die Dinge offenbar nur soweit in Gattungen und Arten geordnet werden, als sie den begrifflichen Vorstellungen entsprechen, die mit diesem Namen bezeichnet sind, so ist das Wesen jedes genus oder jeder Gattung nur die begriffliche Vorstellung, welche der Gattungs- oder Art-Name bezeichnet. Dies ist der Sinn des Wortes Wesen, in dem es am meisten gebraucht wird. Man kann diese bisherigen zwei Arten des Wesens vielleicht am besten die eine mit wirklichen, die andere mit Wort-Wesen bezeichnen.

§ 16. (Die stete Verbindung zwischen dem Namen und Wort-Wesen.) Zwischen dem Namen und dem Wort-Wesen besteht eine so enge Verbindung, dass der Name einer Art von Dingen dem einzelnen Dinge nur beigelegt werden kann, wenn es die Wesenheit hat, die der begrifflichen Vorstellung entspricht, welche der Name bezeichnet.

§ 17. (Die Annahme, dass die Arten durch ihr wirkliches Wesen von einander unterschieden seien, hat keinen Nutzen.) Ueber das wirkliche Wesen körperlicher Substanzen (wenn ich mich auf diese beschränke) giebt es, wenn ich nicht irre, zwei Ansichten. Die eine herrscht bei Denen, welche das Wort Wesen, ich weiss nicht für was gebrauchen und eine Anzahl solcher Wesen annehmen, denen entsprechend alle Dinge gemacht sind, und an denen jedes Einzelne genau Theil nimmt und dadurch von dieser oder jener Art ist. Die andere und verständigere Ansicht herrscht bei Denen, welche in allen natürlichen Dingen eine wirkliche, aber unbekannte Verfassung ihrer nicht wahrnehmbaren Theile annehmen, aus der die sinnlichen Eigenschaften sich ableiten, wodurch sie von einander unterschieden werden, je[18] nachdem man Anlass hat, sie in Arten mit besonderen Namen zu ordnen. Die erste dieser Ansichten, welche diese Wesenheiten als eine Anzahl von Formen oder Modelle ansieht, in die alle bestehenden natürlichen Dinge gepresst worden sind, und an denen sie gleichen Antheil haben, hat die Erkenntniss der natürlichen Dinge nach meiner Ansicht sehr erschwert. Das häufige Vorkommen von widernatürlichen Formen bei allen Arten der Geschöpfe, von Missgeburten und anderen seltsamen Gestalten bei menschlichen Geburten führen hier zu Schwierigkeiten, die sich mit dieser Annahme nicht vereinigen lassen; denn es ist ebenso unmöglich, dass zwei Dinge, die an demselben wirklichen Wesen Theil haben, verschiedene Eigenthümlichkeiten haben, als dass zwei Figuren, die an demselben wirklichen Wesen des Kreises Theil haben, verschiedene Eigenthümlichkeiten haben könnten. Stände dieser Ansicht auch sonst kein Grund entgegen, so ist doch die Annahme von Wesenheiten, die man nicht erkennen kann, obgleich sie das sein sollen, was die Arten der Dinge trennt, so nutzlos und hilft unserem Wissen so wenig, dass man sie schon deshalb bei Seite lassen kann und sich mit solchen Wesenheiten der Arten oder Gattungen der Dinge begnügen sollte, die in den Bereich der Erkenntniss fallen, und als solche werden sich bei genauerer Prüfung, wie gesagt, nur jene begrifflichen zusammengesetzten Vorstellungen ergeben, denen besondere Namen gegeben worden sind.

§ 18. (Das wirkliche und das Wort-Wesen sind bei einfachen Vorstellungen und bei eigenschaftlichen Besonderungen ein und dasselbe, aber bei den Substanzen verschieden.) Wenn man so das Wesen in das wirkliche und in das Wort-Wesen eintheilt, so zeigt sich, dass bei den einfachen Vorstellungen und bei den Eigenschaften beide immer dasselbe sind, aber bei den Substanzen immer verschieden; so ist die einen Raum innerhalb dreier Linien einschliessende Figur sowohl das wirkliche, wie das Wort-Wesen des Dreiecks, da sie nicht blos die begriffliche Vorstellung ist, mit welcher dieser Name verbunden wird, sondern auch das wahre Wesen oder Sein des Dinges selbst und die Grundlage, von der all seine Eigenschaften herkommen, und an welche sie sämmtlich untrennbar geheftet[19] sind. Ganz anders ist es aber mit dem Stücke Stoff, welches den Ring meines Fingers ausmacht; hier sind diese beiden Wesen offenbar verschieden. Denn es ist die wirkliche Verfassung seiner kleinsten Theile, von der seine Eigenschaften in Bezug auf Farbe, Gewicht, Schmelzbarkeit, Festigkeit u.s.w. abhängen; diese Verfassung ist unbekannt, und da die Vorstellung dafür fehlt, ist auch kein besonderer Name dafür vorhanden. Dennoch sind es die Farbe, das Gewicht, die Schmelzbarkeit, die Festigkeit u.s.w., welche machen, dass Etwas Gold ist und so genannt wird; deshalb sind sie sein Wort-Wesen; nichts kann Gold genannt werden, was nicht in seinen Eigenschaften mit der begrifflichen Vorstellung übereinstimmt, zu der dieser Name gehört. Da indess dieser Unterschied des Wesens mehr zu den Substanzen gehört, so wird er da, wo über deren Namen gehandelt werden wird, vollständiger zu erörtern sein.

§ 19. (Die Wesen sind unerzeugbar und unverderblich.) Dass diese begrifflichen Vorstellungen mit ihren Namen das Wesen sind, erhellt weiter aus dem, was man von dem Wesen sagt, nämlich: dass es nicht erzeugt werden und nicht vergehen kann. Von der wirklichen Verfassung der Dinge kann dies nicht gelten, da diese mit ihnen entsteht und untergeht. Alle bestehenden Dinge, mit Ausnahme ihres Schöpfers, sind dem Wechsel unterworfen; namentlich die Dinge, die wir kennen und in Klassen mit bestimmten Namen oder Zeichen geordnet haben. So ist das, was heute Gras ist, morgen das Fleisch eines Schafes und einige Tage später das Fleisch eines Menschen; bei allen diesen und ähnlichen Veränderungen wird offenbar sein wirkliches Wesen, d.h. die Verfassung, wovon die Eigenschaften der Dinge abhängen, zerstört und geht mit ihnen unter. Nimmt man aber die Wesen als Vorstellungen in der Seele, die bestimmte Namen haben, so gelten sie als unveränderlich, trotz der Veränderungen, welche die einzelnen Substanzen erleiden; denn was z.B. auch aus Alexander und Bucephalus werden mag, so bleiben doch die Vorstellungen, an welche der Mensch und das Pferd geknüpft waren, dieselben, und so bleiben die Wesen dieser Arten ganz und unzerstört, wenn auch die einzelnen Individuen dieser Arten noch so viel sich verändern. Auf diese Weise bleibt das Wesen[20] einer Art ganz, unverletzt und von dem Dasein eines oder vieler Individuen dieser Art unabhängig. Wenn es jetzt auch gar keinen Kreis in der Welt gäbe (da vielleicht eine genaue Kreisgestalt in der Welt gar nicht besteht), so bliebe doch die Vorstellung dieses Namens das, was sie ist, und hörte nicht auf, das Muster zu sein, wonach sich bestimmt, welche einzelne sich findenden Figuren ein Recht auf den Namen Kreis haben, und welches zeigt, welche Figuren vermöge dieser Wesenheit zu dieser Art gehören. Und wenn es so niemals in Natur ein Thier wie das Einhorn, oder einen Fisch wie die Seejungfer gegeben hätte, so würde doch, wenn diese Namen zusammengesetzte begriffliche Vorstellungen bezeichnen, die keinen Widerspruch in sich enthalten, das Wesen der Seejungfer ebenso verständlich sein, wie das des Menschen, und das Wesen des Einhorns würde so gewiss, beständig und fest sein, wie das des Pferdes. Aus dem Gesagten erhellt, wie diese Lehre von der Unveränderlichkeit der Wesenheiten sie nur als begriffliche Vorstellungen darlegt, die sich auf die Beziehung ihrer zu gewissen Lauten, als ihren Zeichen stützen; sie werden so lange wahr sein, als der Name dieselbe Bedeutung behält.

§ 20. (Wiederholung.) Ich fasse also das Bisherige zusammen und sage, dass diese ganze grosse Frage der genera und species und ihrer Wesen nur bedeutet, dass man durch Bildung begrifflicher Vorstellungen, welche mit bestimmten ihnen gegebenen Namen festgehalten werden, im Stande ist, Dinge zu betrachten und von ihnen wie in Bündeln zu sprechen, und damit die Vermehrung und Mittheilung des Wissens leichter und bequemer zu machen, während dies nur langsam geschehen würde, wenn die Worte und Gedanken nur am einzelne Dinge beschränkt worden wären.[21]

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 8-22.
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