Zwölftes Kapitel.
Von der Vermehrung des Wissens

[261] § 1. (Das Wissen entspringt nicht aus Grundsätzen.) Unter den Gelehrten hat man immer angenommen, dass die Grundsätze die Unterlage alles Wissens seien, und dass jede Wissenschaft auf gewissen präcognitis errichtet sei, womit der Verstand beginnen und wodurch er sich selbst in seiner Untersuchung wissenschaftlicher Gegenstände leiten lassen müsse. Der breitgetretene Weg der Schulen hat darin bestanden, dass man mit ein oder mehreren allgemeinen Sätzen begann, welche die Unterlagen sein sollten, auf denen das von dem Gegenstand erreichbare Wissen aufgebaut werden müsse. Diese als die Grundlagen der Wissenschaften aufgestellten Lehren hiessen die Prinzipien, als der Anfang, von dem man auszugeben habe, ohne bei der Untersuchung weiter nach rückwärts zu schauen, wie ich bereits dargelegt habe.

§ 2. (Der Anlass zu dieser Ansicht.) Wahrscheinlich ist diese Art, in den Wissenschaften vorzuschreiten (wie ich glaube), durch den guten Erfolg veranlasst worden, den sie in der Mathematik erreicht zu haben schien. Da in ihr eine grosse Gewissheit erreicht worden war, so wurde diese Wissenschaft vorzugsweise Mathêsis oder Mathêmata genannt, d.h. das Lernen oder die erlernten Dinge oder das durchaus Erlernte, da sie vor allen andern die grösste Gewissheit, Klarheit und Ueberzeugung gewährte.

§ 3. (Die Wissenschaft geht vielmehr aus der Vergleichung klarer und deutlicher Vorstellungen hervor.) Allein, näher betrachtet, verdankt man, nach meiner Ansicht, die grossen Fortschritte und die Gewissheit wirklichen Wissens in dieser Wissenschaft nicht dem Einfluss dieser Grundsätze und nicht der Ableitung aus zwei oder drei allgemeinen Regeln, die im[261] Anfang hingestellt werden, sondern den klaren und deutlichen Vorstellungen des Denkens hierbei, und dass die Beziehung der Gleichheit oder der Ungleichheit so klar zwischen einzelnen dieser Vorstellungen ist, dass man eine anschauliche Vorstellung davon gewinnen und auf diesem Wege das Gleiche auch bei andern entdecken konnte, und zwar ohne alle Hülfe dieser Grundsätze. Denn sollte wohl ein Knabe nur kraft des Grundsatzes, dass das Ganze grösser ist als seine Theile, wissen können, dass sein Körper grösser ist als sein kleiner Finger, und sollte er dessen erst dann gewiss sein, wenn er diesen Grundsatz kennen gelernt hat? Oder sollte ein Bauermädchen nicht wissen, dass, wenn sie von dem Einen einen Gulden erhalten hat, der ihr drei schuldet, und von dem Andern auch einen Gulden, der ihr drei schuldet, die noch übrigen Schulden bei Beiden sich gleich seien? Muss sie die Gewissheit dafür sich erst aus jenem Grundsatze holen, dass, wenn man Gleiches von Gleichem nimmt, Gleiches bleibt; obgleich sie von diesem Satz vielleicht niemals etwas gehört hat? Man erwäge, was ich schon früher gesagt, ob die meisten Menschen den einzelnen Fall zuerst und gewiss wissen oder die allgemeine Regel, und welches von beiden dem andern Leben und Dasein giebt. Diese allgemeinen Regeln sind nur ein Vergleichen unserer allgemeinem Vorstellungen, welche das Werk des Verstandes sind, und Namen erhalten, um sie leichter bei Ausführungen handhaben zu können; die vielen und mannichfachen einzelnen Beobachtungen sind in ihnen durch umfassende Ausdrücke und kurze Regeln befasst. Allein das Wissen hat in der Seele mit dem Einzelnen begonnen und ruht auf diesem, wenn man auch später dies nicht mehr bemerkt, da die Seele (im Eifer, ihr Wissen auszudehnen) mit grösser Sorgfalt auf diese allgemeinen Begriffe hinarbeitet, um das Gedächtniss von der drückenden Last des Einzelnen zu befreien, worin ihr eigenthümlicher Nützen besteht. Denn man erwäge, ob ein Kind oder sonst Jemand gewisser ist, dass sein Körper sammt dem kleinen Finger und Allem grösser ist als sein kleiner Finger allein, nachdem man seinem Körper den Namen des Ganzen und seinem kleinen Finger den Namen des Theiles gegeben hat, als schon vorher; und welches neue Wissen über seinen Körper[262] diese bezüglichen Ausdrücke gewähren, was es nicht schon vorher hatte? Konnte es etwa nicht wissen, dass sein Körper grösser sei als sein kleiner Finger zu der Zeit, als seine Sprache noch so unvollkommen war, dass es diese Beziehungs-Worte vom Ganzen und seinen Theilen noch nicht kannte? Und ist es nach Erlangung dieser Worte dessen gewisser, dass sein Körper ein Ganzes und sein kleiner Finger ein Theil ist, als es vor Erlernung dieser Worte dessen gewiss war, dass sein Körper grösser sei als sein kleiner Finger? Man kann wenigstens ebenso leicht leugnen, dass der Finger ein Theil sei, als dass er kleiner sei als der Körper; wer das Letztere bezweifeln kann, kann sicherlich auch das Erstere bezweifeln. Deshalb mag der Grundsatz, dass das Ganze grösser sei als seine Theile, dann als Beweis dienen, dass der kleine Finger kleiner sei als der Körper, wenn es nicht mehr nöthig ist, eine Wahrheit zu beweisen, die schon gekannt ist. Wer nicht gewiss weiss, dass ein Stück Stoff mit einem andern Stück Stoff verbunden grösser ist als jedes Stück allein, wird es auch mit Hülfe jener zwei Beziehungs-Worte Ganzes und Theile nicht erkennen, mag man einen Grundsatz daraus bilden, wie man wolle.

§ 4. (Es ist gefährlich, auf schwankenden Grundsätzen aufzubauen.) Mag es sich nun mit der Mathematik verhalten, wie es wolle, und mag der Satz, dass, wenn ich einen Zoll von einem zwei Zoll langen schwarzen Bande und einen Zoll von einem zwei Zoll langen rothen Bande abschneide, der Ueberrest beider Bänder gleich ist, ich sage, mag dieser Satz nicht so klar sein als der Satz: Gleiches von Gleichem weggenommen, bleibt Gleiches, und mag dieser oder jener von diesen beiden Sätzen zuerst gewusst werden; so ist dies Alles für meine gegenwärtige Frage ohne Einfluss; denn hier habe ich nur zu ermitteln, ob der leichteste Weg zum Wissen mit allgemeinen Grundsätzen beginnt, auf die man weiter baut; und ob es der richtige Weg ist, die in andern Wissenschaften zur Grundlage genommenen Grundsätze als unzweifelhafte Wahrheiten ohne Prüfung aufzunehmen, sie festzuhalten und keinen Zweifel dagegen zuzulassen, blos weil die Mathematiker so glücklich oder so geschickt gewesen sind, nur selbstverständliche[263] und unzweifelhafte Grundsätze zu benutzen. Will man dies gestatten, so weiss ich nicht, was noch als Wahrheit in der Moral gelten kann, und was Alles noch in der Naturwissenschaft aufgestellt und bewiesen werden kann. Lässt man den Grundsatz einiger Philosophen als gewiss und unzweifelhaft gelten, dass Alles nur Stoff ist, und es nichts weiter giebt, so zeigen die Schriften Derer, welche diesen Grundsatz in unsern Tagen wieder aufgenommen haben, wohin dergleichen führt. Macht man mit Polemo die Welt, oder mit den Stoikern, den Aether oder die Sonne, oder mit Anaximenes die Luft zum Gotte, was hat man dann für eine Gottheit, Religion und Gottesverehrung? Nichts ist gefährlicher, als so Grundsätze unbesehen und ungeprüft aufzunehmen, namentlich wenn sie die Moral betreffen, das Leben beeinflussen und dem Handeln seine Richtung geben. Muss man bei Aristipp nicht eine andere Lebensweise erwarten, der das Glück in die sinnliche Lust setzte, als bei Antisthenes, der die Tugend für hinreichend zum Glück hielt? Wer mit Plato seine Seligkeit in die Erkenntniss Gottes setzt, wird sich zu andern Betrachtungen erheben, als wer nicht über diesen Fleck Erde und die vergänglichen Dinge auf ihr hinausblickt. Wer mit Archelaus es als einen Grundsatz aufstellt, dass Recht und Unrecht, ehrlich und unehrlich nur durch das Gesetz und nicht von Natur bestimmt seien, hat anderes Maass für das moralisch Gute und Schlechte, als die es als ausgemacht ansehen, dass uns Verbindlichkeiten obliegen, die allen menschlichen Verordnungen vorhergehen.

§ 5. (Dies ist kein sicherer Weg zur Wahrheit.) Wenn also die als Grundsätze aufgenommenen Regeln nicht gewiss sind (was man doch auf irgend eine Weise wissen muss, um sie von den zweifelhaften unterscheiden zu können), sondern nur durch unsere blinde Zustimmung als solche gelten, so ist man allem Irrthum ausgesetzt, und anstatt dass die Grundsätze uns zur Wahrheit führen, werden sie uns nur im Irrthum und in der Unwahrheit bestärken.

§ 6. (Sondern nur der, wo man klare und vollständige Vorstellungen unter festen Namen mit andern vergleicht.) Da indess das Wissen von der Gewissheit der Grundsätze wie von allen andern[264] Wahrheiten nur von der Erkenntniss abhängt, die man von der Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung der Vorstellungen besitzt, so ist es nicht der Weg zur Vermehrung unsers Wissens, wenn man blindlings und gläubig Grundsätze aufnimmt und hinunterwürgt, sondern wenn man klare, deutliche und vollständige Vorstellungen erwirbt und festhält, so weit es möglich ist; und wenn man sie mit festen Namen belegt. Wenn man so, ohne alle weitere Rücksicht auf jene Grundsätze nur diese Vorstellungen betrachtet und durch Vergleichung ihre Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung, so wie ihre Beziehungen und Richtungen ausfindig macht, so wird man unter Leitung dieser Regel mehr wahres und klares Wissen gewinnen, als wenn man Grundsätze aufgreift und damit seinen Verstand in die Gewalt Anderer giebt.

§ 7. (Das allein richtige Verfahren für Vermehrung des Wissens besteht in der Betrachtung unserer allgemeinen Vorstellungen.) Will man deshalb vernünftig vorschreiten, so muss man das untersuchende Verfahren der Natur der zu prüfenden Vorstellungen und der gesuchten Wahrheit anpassen. Allgemeine und zuverlässige Wahrheiten gründen sich lediglich auf die Richtungen und Beziehungen der allgemeinen Vorstellungen. Eine erfinderische und geregelte Benutzung des Denkens behufs Auffindung dieser Beziehungen ist der einzige Weg, um Alles zu entdecken, was wahrhaft und sicher über sie in allgemeine Sätze gebracht werden kann. Wie man hier vorzuschreiten habe, muss man bei den Mathematikern lernen, die mit dem Einfachsten und Leichtesten beginnen, und doch allmählich durch eine fortgehende Kette von Gründen zur Entdeckung und zum Beweis von Wahrheiten gelangen, welche beim ersten Blick die menschlichen Fähigkeiten zu übersteigen scheinen. Die Kunst der Auffindung der Beweise und das bewunderungswürdige Verfahren, was sie für Ausfindung und Ordnung der vermittelnden Vorstellungen erfunden haben, welche von Grössen, ohne dass man sie auf einander legen kann, zeigen und beweisen, dass sie gleich oder ungleich sind, ist das, was sie so weit gebracht, und solche wunderbare und ungeahnete Entdeckungen herbeigeführt hat. Ich lasse es dahingestellt, ob nicht Etwas dem Aehnliches bei andern Eigenschaften ebenso[265] wie bei der Grösse mit der Zeit entdeckt werden dürfte. Wenigstens würde, wenn andere Vorstellungen, die das wirkliche oder Wort-Wesen ihrer Arten bilden, in der Weise der Mathematiker untersucht würden, dies uns weiter bringen und zu grösserer Gewissheit und Klarheit führen, als man glaubt.

§ 8. (Auch die Moral kann auf diese Weise klarer gemacht werden.) Ich möchte deshalb auf die Ansicht zurückkommen, die ich in Kap. 3 berührt habe, dass nämlich die Moral ebenso wie die Mathematik der Beweise fähig ist. Denn die Vorstellungen, von denen die Ethik handelt, sind sämmtlich wirkliche Wesenheiten, die eine erkennbare Verbindung und Uebereinstimmung mit einander haben. So weit man also ihre Richtungen und Beziehungen ermittelt, so weit kann man auch gewisse, wirkliche und allgemeine Wahrheiten erreichen, und bei Anwendung des richtigen Verfahrens würde sicherlich ein grosser Theil so klar gemacht werden können, dass ein verständiger Mann so wenig, wie bei den erwiesenen Sätzen der Mathematiker, einen Anlass zu Zweifeln haben könnte.

§ 9. (Aber das Wissen von den Körpern kann nur durch die Erfahrung weiter geführt werden.) Bei der Erkenntniss der Substanzen nöthigt aus der Mangel an Vorstellungen, die für ein solches Verfahren geeignet wären, zu einem ganz andern Weg. Man kommt hier nicht, wie in andern Wissenschaften (wo die allgemeinen Vorstellungen sowohl das wirkliche, wie das Wort-Wesen bilden), durch Betrachtung unserer Vorstellungen, ihrer Beziehungen und Uebereinstimmungen weiter; dies hilft aus den früher ausführlich dargelegten Gründen wenig. Deshalb bieten die Substanzen nur wenig Stoff zu allgemeinen Sätzen, und die blosse Betrachtung ihrer allgemeinen Vorstellungen führt in der Erkenntniss der Wahrheit und Gewissheit nur wenig weiter. Was bleibt also hier für die Vermehrung des Wissens zu thun? Man muss hier einen andern Weg einschlagen; der Mangel an Vorstellungen ihres wirklichen Wesens weist uns von den eignen Vorstellungen zu den Dingen selbst, wie sie bestehen. Hier muss die Erfahrung lehren, was die Vernunft nicht vermag, und nur durch Versuche kann ich feststellen, welche andere Eigenschaften mit meiner Gesammtvorstellung[266] zusammen bestehen, z.B. ob dieser gelbe, schwere, schmelzbare Körper, den ich Gold nenne, biegsam ist oder nicht. Diese Erfahrung giebt (in welcher Art auch die Ermittelung an dem einzelnen Körper erfolgen mag) keine Gewissheit, dass es bei allen gelben, schweren und schmelzbaren Körpern sich so verhält, sondern nur für die, mit denen man den Versuch angestellt hat. Es besteht hier keine Ableitung aus meiner Gesammtvorstellung; die Nothwendigkeit oder die Unverträglichkeit der Biegsamkeit hat mit der Gesammtvorstellung eines gelben, schweren und schmelzbaren Körpers keine erkennbare Verbindung. Was ich hier über das Wort-Wesen des Goldes gesagt, welches ich als einen Körper von bestimmter Farbe, Gewicht und Schmelzbarkeit angenommen habe, bleibt auch wahr, wenn man die Biegsamkeit, Feuerbeständigkeit und Auflösbarkeit in Königswasser noch hinzunimmt. Schlüsse, die von diesen Vorstellungen ausgehen, führen nicht weit in der sichern Entdeckung anderer Eigenschaften der Stoffe, welche sie enthalten; da sie nicht von diesen Eigenschaften, sondern von dem wahren Wesen abhängen, was auch letztere bestimmt, so kann man die übrigen nicht entdecken; man kommt nicht weiter, als die einfachen Vorstellungen des Wort-Wesens führen, und dies ist wenig über sie selbst hinaus. Deshalb erlangt man damit nur spärlich allgemeine sichere und zugleich nützliche Wahrheiten. Denn wenn der Versuch mit einem einzelnen Stück (und mit allen andern dieser Farbe, dieses Gewichts und dieser Schmelzbarkeit, wo ich es versucht habe) seine Biegsamkeit ergiebt, so nehme ich diese Eigenschaft möglicherweise in meiner Gesammtvorstellung und in dem Wort-Wesen des Goldes mit auf. Damit besteht meine Gesammtvorstellung, Gold genannt, aus mehr einfachen Vorstellungen als zuvor; allein da sie doch nicht das wahre Wesen dieser Art von Körpern enthält, so hilft sie mir nicht zum sichern Wissen (ich sage Wissen; vielleicht ist es nur Vermuthung) der andern Eigenschaften dieses Körpers, so weit sie nicht eine sichtbare Verbindung mit einigen oder allen einfachen Vorstellungen haben, die das Wort-Wesen für mich bilden. Ich kann z.B. bei dieser Gesammtvorstellung nicht sicher sein, ob Gold feuerbeständig ist oder nicht; weil[267] nämlich die feste Verbindung oder die Unverträglichkeit zwischen der obigen Gesammtvorstellung und der Feuerbeständigkeit fehlt, aus der ich dieses Wissen sicher ableiten könnte. Deshalb muss ich zur Ermittelung dessen mich an die Erfahrung halten, und nur so weit diese reicht, aber nicht weiter, kann ich eine gewisse Kenntniss erlangen.

§ 10. (Dies kann uns Nutzen gewähren, aber keine Wissenschaft.) Ein an überdachte und regelrechte Versuche gewöhnter Mann sucht vielleicht tiefer in der Natur der Körper und vermuthet richtiger ihre noch unbekannten Eigenschaften, als wer darin unerfahren ist; allein es bleibt, wie gesagt, doch nur ein Annehmen und Meinen, ohne Wissen und ohne Gewissheit. Da dieser Weg, wonach wir nur durch Erfahrung und Beschreibung das Wissen von den Substanzen erlangen und vermehren können, bei der Schwäche und Mittelmässigkeit unserer Vermögen hier in dieser Welt, der einzige benutzbare ist, so fürchte ich, dass die Erkenntniss der Natur nicht zu einer Wissenschaft wird erhoben werden können, und wir werden nur wenig allgemeine Kenntnisse über die Arten der Körper und ihre Eigenschaften erlangen können. Versuche und Beobachtungen über Einzelnes kann man haben; daraus kann man für Wohlbefinden und Gesundheit Nutzen ziehen, und damit die Annehmlichkeiten des Lebens erhöhen; allein darüber hinaus reichen schwerlich unsere Anlagen, und ich glaube, wir können mit unserem Vermögen hier nicht weiter kommen.

§ 11. (Wir können ein Wissen in der Moral und natürliche Verbesserungen erreichen.) Da sonach unsere Vermögen nicht zureichen, um in den innern Bau und das wirkliche Wesen der Körper einzudringen; da sie aber uns klar das Dasein Gottes und das Wissen von uns selbst gewähren, so dass wir voll und klar unsere Pflichten und grossen Angelegenheiten erkennen, so ziemt es sich für uns, als vernünftige Wesen, diese Fähigkeiten zu dem anzuwenden, wozu sie am meisten geeignet sind, und den Weg zu gehen, den uns hiernach die Natur selbst gewiesen hat. Man kann mit Grund schliessen, dass unsere Aufgabe in diesen Untersuchungen und in dieser Art von Kenntnissen[268] enthalten ist, die unsern natürlichen Fähigkeiten am meisten entsprechen, und die unsere grössten Angelegenheiten betreffen; d.h. unsern Zustand in der Ewigkeit. Deshalb dürfte die Moral die wahre Wissenschaft und Aufgabe der Menschheit im Allgemeinen sein (die beide auf die Gewinnung des »höchsten Guts« abzielen), während die einzelnen Künste rücksichtlich der Natur das Loos und die besondere Aufgabe der Einzelnen für den gemeinsamen Nutzen bilden und ihnen für ihre eigne Erhaltung in dieser Welt dienen. Wie wichtig die Entdeckung eines einzigen Naturkörpers und seiner Eigenschaften für das menschliche Leben sein kann, davon giebt der grosse Erdtheil von Amerika ein schlagendes Beispiel. Dessen Unbekanntschaft mit nützlichen Künsten und dessen Mangel an allen Bequemlichkeiten des Lebens trotz eines Landes voll natürlichen Ueberflusses dürfte nur von der Unbekanntschaft mit dem Inhalt eines gemeinen und nicht beachteten Steines liegen, ich meine in der Unbekanntschaft mit dem Eisen; und wie hoch man auch die Fortschritte in unserm Erdtheile anschlagen mag, wo Wissen und Ueberfluss mit einander zu wetteifern scheinen, so ergiebt doch eine sorgsame Betrachtung unzweifelhaft, dass wir mit Verlust des Eisens in wenig Jahrhunderten zur Unwissenheit und Armuth der Wilden von Amerika herabsinken würden, deren natürliche Anlagen und Mittel denen der blühendsten und gebildetsten Nationen nicht nachgestanden haben. Deshalb kann Der, welcher zuerst den Nutzen dieses unscheinbaren Metalls erkannte, mit Recht der Vater der Künste und der Schöpfer des Reichthums genannt werden.

§ 12. (Allein man muss sich vor Hypothesen und falschen Grundsätzen hüten.) Man denke aber nicht, dass ich das Studium der Natur unterschätze und davon abrathen will. Ich erkenne gern an, dass die Betrachtung dieser Werke uns Gelegenheit giebt, deren Urheber zu bewundern, zu verehren und zu preisen. Richtig geleitet, kann sie der Menschheit grössere Wohlthaten bringen, als jene Bauwerke christlicher Mildthätigkeit, die von den Gründern der Hospitäler und Armenhäuser mit so grossen Kosten errichtet worden sind. Wer den Bücherdruck erfand, den Kompass entdeckte oder den Gebrauch und Nutzen der Chinarinde bekannt machte, that mehr[269] für die Verbreitung des Wissens, für die Beschaffung und Vermehrung der nützlichen Einrichtungen des Lebens, und rettete mehr Menschen vom Tode als Die, welche Studienhäuser, Arbeitshäuser und Hospitäler bauten. Ich spreche nur gegen die voreilige Erwartung und Meinung, da Kenntnisse zu finden, wo es keine giebt, oder auf Wegen, die nicht dahin führen; ich will, dass man zweifelhafte Systeme nicht für vollendete Wissenschaften und unverständliche Begriffe nicht für wissenschaftliche Beweise nehmen solle. Bei der Kenntniss der Körper muss man mit dem zufrieden sein, was man durch einzelne Erfahrungen erlauschen kann; da wegen Unkenntniss ihres wahren Wesens man nicht auf einmal ganze Bogen voll fassen, noch die Natur und Eigenschaften ganzer Arten in Bündeln davon tragen kann. Wo die Untersuchung des Zusammenbestehens oder der Unverträglichkeit durch die blosse Betrachtung der Vorstellungen nicht erfolgen kann, da kann nur Erfahrung, Beobachtung und Beschreibung vermittelst der Sinne und im Einzelnen einen Einblick in die körperlichen Substanzen gewähren. Die Erkenntniss der Körper muss durch die Sinne gewonnen werden; man muss mittelst ihrer die Eigenschaften und die Wirksamkeit der Körper sorgfältig beobachten, und unser Wissen über selbstständige Geister kann in dieser Welt wohl nur durch Offenbarung uns zukommen. Wenn man weiss, wie wenig jene allgemeinen, aber zweifelhaften Grundsätze und jene willkürlichen Hypothesen das wahre Wissen gefördert und die Untersuchungen zu wirklichen Fortschritten geführt haben; wie wenig Anfänge solcher Art durch Jahrhunderte hindurch etwas zum Fortschritt der Naturwissenschaften beigetragen haben, so wird man Denen Dank wissen, die in der letzten Zeit einen andern Weg eingeschlagen und für uns gebahnt haben; und zwar nicht einen solchen, der leicht zu gelehrter Unwissenheit führt, sondern einen, der sicher zu nützlichen Kenntnissen leitet.

§ 13. (Der wirkliche Nutzen von Hypothesen.) Deshalb sollen indess Hypothesen nicht ausgeschlossen werden, wenn es auf Erklärung der Natur ankommt. Wenn sie gut gemacht sind, unterstützen sie wenigstens das Gedächtniss und führen oft auch zu neuen Entdeckungen; ich will nur, dass man sie nicht zu hastig[270] (was leicht geschieht, da die Seele immer gleich in die Ursachen der Dinge eindringen und Grundsätze haben will, auf denen sie ruhen kann) aufstelle, ehe das Einzelne genau geprüft und mehrfache Versuche da gemacht sind, wo die Hypothese eintreten soll, damit man sehe, ob sie mit Allem übereinstimmt, und ob ihr Grundsatz sich überall bestätigt, und ob er nicht andern Erscheinungen widerspricht, während er die einen erklärt. Wenigstens soll man sich von dem Namen »Prinzip« nicht täuschen und einschüchtern lassen, und das nicht für zweifellose Wahrheit annehmen, was im besten Falle nur eine zweifelhafte Vermuthung ist, wie dies mit den meisten (ich hätte beinah gesagt, allen) Hypothesen über die Natur der Fall ist.

§ 14. (Klare und deutliche Vorstellungen mit festen Bezeichnungen, und das Auffinden solcher, welche deren Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung darlegen, sind die Mittel zur Erweiterung des Wissens.) Mag nun eine Gewissheit in der Naturwissenschaft erreichbar sein oder nicht, so scheinen mir doch die folgenden zwei Wege allein geeignet, unser Wissen so weit zu vermehren, als es überhaupt möglich ist. – Erstens hat man klare und deutliche Vorstellungen der Dinge sich zu verschaffen, für die allgemeine oder besondere Worte vorhanden sind; wenigstens so weit, als man sie in Betracht ziehen und sein Wissen hier erweitern und darüber nachdenken will. Wenn es sich dabei um die besondern Vorstellungen von Substanzen handelt, so muss man sie so vollständig als möglich machen und so viele einfache Vorstellungen verbinden, als nach den Beobachtungen regelmässig zusammenbestehen, und auf diese Weise jede Art möglichst vollständlich bestimmen. Auch muss jede dieser einfachen Vorstellungen, welche Theile der Gesammtvorstellung bilden, klar und deutlich sein; denn unser Wissen kann nicht über unsere Vorstellungen hinaus, und sind diese unvollständig, verworren oder dunkel, so kann das Wissen nicht sicher, vollständig und klar sein. Der zweite Weg besteht in der Auffindung jener vermittelnden Vorstellungen, welche die Uebereinstimmung oder den Widerstreit anderer Vorstellungen, die nicht unmittelbar verglichen werden können, darlegen.[271]

§ 15. (Die Mathematik ist ein Beispiel hierfür.) Dass diese beiden Wege (und nicht der Verlass auf Grundsätze und das Ziehen von Folgerungen aus einigen allgemeinen Sätzen) die richtigen Mittel sind, um unser Wissen auch in andern Gebieten als dem der Grösse auszubreiten, ergiebt die Betrachtung des mathematischen Wissens. Hier sieht man zunächst, dass, wer keine klare und vollständige Vorstellung von den Winkeln und Gestalten hat, über die er etwas erfahren will, zu einer Erkenntniss hierüber ganz unfähig ist. Wenn z.B. Jemand nicht weiss, was ein rechter Winkel, ein ungleichseitiges Dreieck, ein schiefwinkliges Viereck ist, so wird er vergeblich einen Beweis über sie zu gewinnen suchen. Sodann hat offenbar nicht der Einfluss jener Regeln, die für die obersten Grundsätze in der Mathematik gelten, die Meister dieser Wissenschaft zu den wunderbaren Entdeckungen geführt, die sie gemacht haben. Man kann bei guten Anlagen alle in der Mathematik benutzten Grundsätze kennen und ihren Umfang und ihre Folgen übersehen, und wird damit doch nie zur Erkenntniss gelangen, dass das Quadrat der Hypothenuse eines rechtwinkligen Dreiecks gleich ist den beiden Quadraten aus dessen Seiten. Das Wissen, dass das Ganze seinen Theilen zusammen gleich ist, und dass Gleiches von Gleichem weggenommen, Gleiches bleibt, würde ihm schwerlich zum Beweis jenes Satzes verhelfen, und man kann lange Zeit auf diese Grundsätze hinstarren und doch nicht um ein Haar mehr von den mathematischen Wahrheiten erblicken. Bei deren Entdeckung ist das Denken anders verfahren; die Seele hatte Gegenstände und Richtungen vor sich, die mit diesen Grundsätzen nichts zu schaffen hatten, als sie dergleichen Wahrheiten in der Mathematik zuerst entdeckte, welche Männer nicht genug bewundern können, denen diese anerkannten Grundsätze wohl bekannt sind, aber welche die Weise der Auffindung dieser Beweise nicht kennen. Wer kann wissen, ob nicht zur Ausbreitung des Wissens auch in andern Gebieten Verfahrungsweisen später aufgefunden werden mögen, die denen der Algebra in der Mathematik entsprechen, wo die Vorstellungen von Grössen zur Messung anderer so leicht aufgefunden werden, deren[272] Gleichheit oder Verhältniss ohnedem nur sehr schwer oder gar nicht hätte erkannt werden können.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 261-273.
Lizenz:
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Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
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