Dreizehntes Kapitel.
Noch einige weitere Betrachtungen über unser Wissen

[273] § 1. (Unser Wissen ist theils nothwendig, theils freiwillig.) Unser Wissen hat, wie in andern Dingen, so auch darin mit dem Sehen grosse Aehnlichkeit, dass es weder durchaus nothwendig noch durchaus freiwillig ist. Wäre unser Wissen durchaus nothwendig, so würde nicht allein Jedermann so viel als der Andere wissen, sondern Jeder würde auch Alles wissen, was überhaupt wissbar ist; wäre es aber durchaus freiwillig, so würde Mancher es so gering schätzen, dass er wenig oder gar nichts wissen würde. Menschen mit gesunden Sinnen müssen manche Vorstellungen durch diese aufnehmen, und wenn sie Gedächtniss haben, so müssen sie Manches davon behalten, und wenn sie etwas Verstand haben, so müssen sie die Uebereinstimmung einzelner Vorstellungen oder deren Nicht-Uebereinstimmung bemerken; so wie Jemand, wenn er seine Augen bei Tage öffnet, Manches sehen und unterscheiden muss. Allein wenn ein solcher auch das Sehen nicht ganz abhalten kann, so hat er doch die Wahl, wohin er seine Augen richten will; es kann ihm ein Buch mit Bildern und Berichten zur Hand sein, was Vergnügen und Belehrung gewähren kann, und dennoch öffnet er es vielleicht nicht, und thut keinen Blick hinein.

§ 2. (Die Aufmerksamkeit ist willkürlich; aber wir erkennen die Dinge, wie sie sind, nicht, wie es uns beliebt.) Auch hängt es von dem Menschen ab, ob er einen Gegenstand nur oberflächlich besehen oder mit Aufmerksamkeit alles an ihm Sichtbare beobachten will. Allein was er sieht, muss er so sehen, wie er es sieht. Er kann nicht willkürlich das Gelbe schwarz sehen und das Heisse kalt fühlen. Die Erde ist[273] nicht mit Blumen geschmückt, und die Felder sind nicht mit Grün bedeckt, blos weil er dies denkt; im kalten Winter muss er Schnee und Reif sehen, wenn er sich umsieht. Ebenso ist es mit dem Verstande. Von dem Willen hängt bei dem Wissen nur die Benutzung oder Fernhaltung unserer Vermögen von diesem oder jenem Gegenstände ab, und die mehr oder weniger sorgfältige Betrachtung derselben; werden aber diese Vermögen in Thätigkeit gesetzt, so hängt die Art des Erkennens nicht mehr von unserm Belieben ab, sondern wird durch die Gegenstände bestimmt, so weit sie klar erfasst werden, Wenn deshalb die Sinne sich auf äussere Gegenstände richten, so muss die Seele die durch sie überlieferten Vorstellungen aufnehmen und das Dasein äusserer Dinge wahrnehmen; und wenn das Denken sich auf seine eigenen Vorstellungen richtet, so muss es in gewissem Maasse die Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung unter denselben bemerken, welche damit ein Wissen wird, und wenn Worte für diese betrachteten Vorstellungen vorhanden sind, so muss man von der Wahrheit der Sätze überzeugt sein, welche die bemerkte Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung aussprechen. Denn was man sieht, muss man sehen, und was man bemerkt, davon muss man wissen, dass man es bemerkt.

§ 3. (Beispiele an den Zahlen.) Wer z.B. die Vorstellungen der Zahlen erlangt und sich die Mühe genommen hat, die 1, 2 und 3 mit der 6 zu vergleichen, muss wissen, dass sie einander gleich sind, und wer die Vorstellung eines Dreiecks hat, und die Weise, die Dreiecke zu messen, aufgefunden hat, ist überzeugt, dass die drei Winkel desselben zweien rechten gleich sind, und kann daran so wenig wie an dem Satze zweifeln, dass unmöglich dasselbe Ding sein und nicht sein kann.

(An der natürlichen Religion.) Wer ferner die Vorstellung eines vernünftigen, aber gebrechlichen schwachen Wesens hat, das von einem andern, ewigen, allmächtigen, allweisen und guten Wesen geschaffen ist, weiss so gewiss, dass der Mensch Gott ehren, fürchten und gehorchen muss, als dass die Sonne scheint, welche er sieht. Denn wenn er die Vorstellungen dieser zweier Wesen hat und sein Denken darauf richtet, so wird er so sicher finden, dass das niedere, endliche und abhängige[274] verpflichtet ist, dem hohem zu gehorchen, als er findet, dass 3, 4 und 7 weniger als 15 sind, sobald er diese Zahlen vergleicht, und er kann es nicht sicherer wissen, dass die Sonne scheint, wenn er an einem hellen Morgen seine Augen öffnet und nach ihr blickt. Allein trotz der Gewissheit und Klarheit dieser Wahrheiten, kann Derjenige beide nicht kennen lernen, der seine Fähigkeiten nicht zu deren Erkenntniss gebraucht.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 273-275.
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Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1