Sechstes Kapitel.
Von den allgemeinen Sätzen, ihrer Wahrheit und Gewissheit

[196] § 1. (Die Untersuchung der Worte ist für das Wissen unentbehrlich.) Die Prüfung und Beurtheilung der Vorstellungen selbst, mit gänzlicher Weglassung ihrer Worte, würde allerdings der beste und sicherste Weg zum klaren und deutlichen Wissen sein; allein bei der überwiegenden Gewöhnung, Laute für die Vorstellungen zu benutzen, wird dies wenig geübt. Jedermann kann bemerken, wie allgemein die Worte statt ihrer Vorstellungen benutzt werden, und zwar selbst bei dem inneren Nachdenken und Ueberlegen, sobald namentlich die Vorstellungen sehr verwickelt und aus vielen einfachen zusammengesetzt sind. Deshalb ist die Betrachtung der Worte und Sätze ein unentbehrlicher Theil der Lehre von der Wahrheit, und deshalb ist es so schwer, über diese verständlich zu sprechen, ohne jene zu erläutern.

§ 2. (Allgemeine Wahrheiten sind unverständlich, wenn sie nicht in Wort-Sätze gefasst sind.) All unser Wissen betrifft die Wahrheit des Einzelnen oder des Allgemeinen; Alles, was diese allgemeine Wahrheit betrifft, nach der man mit Recht am meisten verlangt, kann aber nicht gut mitgetheilt und noch seltener verstanden werden, wenn es nicht in Worte gefasst und ausgedrückt wird. Deshalb wird zur Untersuchung des Wissens auch die von der Wahrheit und Gewissheit allgemeiner Sätze gehören.

§ 3. (Die Gewissheit ist zweifach; die eine betrifft die Wahrheit, die andere das Wissen.) Um indess hier nicht durch die überall gefährliche Zweideutigkeit der Worte irre zu gehen, bemerke ich, dass die Gewissheit zweifach ist: eine Gewissheit der Wahrheit und eine Gewissheit des Wissens. Die Gewissheit der Wahrheit ist dann vorhanden, wenn Worte, zu Sätzen verbunden, genau die Uebereinstimmung zwischen den von ihnen bezeichneten Vorstellungen so ausdrücken, wie sie wirklich besteht; Gewissheit des Wissens ist die Erkenntniss[196] der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Vorstellungen, die in irgend einem Satze ausgedrückt ist. Dies heisst gewöhnlich das Wissen oder die Gewissheit von der Wahrheit eines Satzes.

§ 4 (Die Wahrheit eines Satzes kann nicht gewusst werden, wenn das Wesen der darin genannten Arten nicht gekannt wird.) Da man indess der Wahrheit eines allgemeinen Satzes nicht gewiss sein kann, wenn man nicht die Grenzen und Ausdehnung der mit dessen Worten bezeichneten Arten kennt, so muss man das Wesen jeder Art kennen, da dieses die Art ausmacht und bestimmt. Bei allen einfachen Vorstellungen und Zuständen ist das nicht schwer; hier ist das wirkliche und das Wort-Wesen dasselbe, oder, was gleich viel sagt, die allgemeine, durch den allgemeinen Ausdruck bezeichnete Vorstellung ist das alleinige Wesen und die Begrenzung, die für diese Art gilt, und es kann dann kein Zweifel darüber bestehen, wie weit diese Art reicht und welche Gegenstände jedes Wort befasst; nämlich alle Gegenstände, welche mit der bezeichneten Vorstellung genau übereinstimmen, und keinen weiter. Aber bei Substanzen, wo ein von dem Wort-Wesen verschiedenes wirkliches Wesen die Art bilden, bestimmen und begrenzen soll, ist die Ausdehnung des allgemeinen Wortes schwankend, weil man das wirkliche Wesen nicht kennt und deshalb nicht wissen kann, was zu seiner Art gehört, und was nicht, und was daher von ihm mit Sicherheit bejaht werden kann. Spricht man also von dem Menschen oder von Gold oder einer anderen Art natürlicher Substanzen, die auf einem bestimmten wirklichen Wesen beruhen sollen, welches die Natur regelmässig jedem Einzelnen dieser Art mittheilt, und wodurch es zu dieser Art gehört, so kann man von keiner Behauptung oder Verneinung darüber Gewissheit haben. Denn wenn die Worte Mensch oder Gold in diesem Sinne für die Art genommen werden, welche auf ihrem wirklichen Wesen beruht und von der Gesammtvorstellung des Sprechenden verschieden ist, so bezeichnen sie, man weiss nicht was, und der Umfang und die Grenzen dieser Arten sind so unbekannt und unbestimmt, dass man mit Sicherheit nicht behaupten kann, dass alle Menschen vernünftig seien, und dass alles Goldgelb sei. Wo[197] aber das Wort-Wesen als der Maassstab der Art gilt, und der allgemeine Ausdruck nicht weiter geht als auf die Dinge, welche die Gesammtvorstellung des Wortes enthalten, da ist nicht zu fürchten, dass man sich über die Grenzen der Art irre, und es kann da nicht zweifelhaft sein, ob ein Satz wahr ist oder nicht. Ich habe hier diese Ungewissheit der Sätze auf scholastische Weise erklärt, und die Ausdrücke Wesen und Art absichtlich benutzt, um zu zeigen, wie verkehrt und falsch es ist, sie für mehr als blosse, mit Namen versehene allgemeine Vorstellungen zu nehmen. Glaubt man, dass die Arten der Dinge mehr seien als ein blosses Einordnen der Dinge nach allgemeinen Namen, je nachdem sie den mit diesen Worten bezeichneten allgemeinen Vorstellungen entsprechen, so verwirrt man die Wahrheit und macht alle allgemeinen Sätze, die über sie aufgestellt werden können, unsicher. Der Gegenstand hier hätte daher für Personen ohne scholastische Gelehrsamkeit besser und klarer behandelt werden können; allein diese falschen Begriffe von Wesen und Arten haben bei den Meisten Wurzel gefasst, die etwas von der in diesem Theile der Welt geltenden Gelehrsamkeit abbekommen haben; sie müssen deshalb enthüllt und beseitigt werden, damit sie Worten Platz machen, welche die Gewissheit mit sich führen.

§ 5. (Dies gilt besonders für Substanzen.) Deshalb können die Namen von Substanzen, wenn sie die Arten bezeichnen sollen, die angeblich auf einem wirklichen Wesen beruhen, das man nicht kennt, dem Verstande keine Gewissheit gewähren, und man kann der Wahrheit von den aus solchen Worten gebildeten Sätzen nicht sicher sein. Der Grund ist klar: denn wie kann man sicher sein, dass diese oder jene Eigenschaft im Golde sei, wenn man nicht weiss, was Gold ist? Bei dieser Ausdrucksweise ist nur dasjenige Gold, was an einem Wesen Theil nimmt, das man nicht kennt, und wovon man daher auch nicht wissen kann, wo es ist; man kann deshalb von keinem Stück Stoff in der Welt sicher sein, ob es Gold in diesem Sinne ist oder nicht; denn man weiss durchaus nicht, ob es das hat, was das Gold ausmacht, oder was das Wesen des Goldes ist, von dem man keine Vorstellung hat. Es ist dies ebenso unmöglich, als wenn ein Blinder angeben sollte, in welcher[198] Blume sich die Farbe des Jelängerjelieber findet, obgleich er von dieser Farbe keine Vorstellung hat. Selbst wenn man bestimmt wissen könnte (obgleich es unmöglich ist), in welchen Stücken das wirkliche Wesen des Goldes enthalten sei, könnte man doch diese oder jene Eigenschaft des Goldes nicht sicher davon aussagen, weil man nicht wissen könnte, ob diese Eigenschaft oder Vorstellung eine nothwendige Verbindung mit dem wirklichen Wesen habe, von dem man gar nicht weiss, welche Art dieses angeblich wirkliche Wesen möglicher Weise noch bilden kann.

§ 6. (Von einigen allgemeinen Sätzen in Betreff der Substanzen kennt man die Wahrheit.) Andererseits können die Substanz-Namen, wenn sie, wie sie sollten, die Vorstellungen in der Seele bezeichnen, trotz ihrer klaren und bestimmten Bedeutung doch vielfach nicht zur Bildung von allgemeinen Sätzen benutzt werden, von deren Gewissheit man überzeugt sein kann; und zwar nicht wegen der Unsicherheit ihrer Bedeutung, sondern weil für die zusammengesetzten Vorstellungen, die sie bezeichnen, solche Verbindungen einfacher sind, bei denen ihre Verbindung oder Unverträglichkeit nur in Bezug auf wenige andere Vorstellungen entdeckt werden kann.

§ 7. (Weil das Zusammenbestehen von Vorstellungen in einigen Fällen erkannt werden kann.) Die Gesammtvorstellungen, welche eigentlich unter dem Namen für die Arten und Substanzen verstanden werden, sind Verbindungen von Eigenschaften, deren Zusammenbestehen man an einem unbekannten Unterliegenden bemerkt hat, das Substanz heisst; dagegen kann man nicht wissen, welche weiteren Eigenschaften mit diesen Verbindungen nothwendig zusammenbestehen, so lange man nicht ihre natürliche Abhängigkeit ermittelt hat, was bei deren ersten Eigenschaften nur zu einem kleinen Theile, und bei deren zweiten Eigenschaften aus den in Kap. 3 erwähnten Gründen gar nicht möglich ist. Denn 1) kennt man die wirkliche Verfassung der Substanzen nicht, von denen die zweiten Eigenschaften abhängen, und 2) hülfe, selbst wenn man sie kennte, das nur für Erfahrungskenntniss (nicht für allgemeine), welche über den einzelnen Fall nicht hinausreicht, weil der[199] menschliche Verstand keine fassbare Verbindung zwischen zweiten Eigenschaften und irgend einer Besonderung der ersten entdecken kann. Deshalb giebt es nur wenig unzweifelhaft gewisse allgemeine Sätze über Substanzen.

§ 8. (Ein Beispiel am Golde.) »Alles Gold ist feuerbeständig«; dies ist ein Satz, von dessen Wahrheit man nicht überzeugt sein kann, trotzdem dass er allgemein für wahr gehalten wird. Denn wenn nach den nutzlosen Erfindungen der Schulen das Wort Gold eine von der Natur durch ein besonderes Wesen ausgeschiedene Art von Dingen bezeichnen soll, so kennt man die einzelnen Dinge nicht, die zu dieser Art gehören, und kann deshalb nichts allgemein von dem Golde aussagen. Soll aber das Gold eine durch das Wort-Wesen bezeichnete Art sein, wo dies Wort- Wesen z.B. die Vorstellung eines Körpers von gelber Farbe ist, der biegsam, schmelzbar und besonders schwer ist, so kann man in diesem Sinne wohl erkennen, was Gold ist; allein andere Eigenschaften können trotzdem von dem Golde nicht behauptet oder verneint werden, wenn sie mit diesem Wort-Wesen keine ersichtliche Verbindung oder Unverträglichkeit haben. So hat z.B. die Feuerbeständigkeit keine erkennbare Verbindung mit der Farbe, der Schwere oder einer andern Eigenschaft, noch mit deren Vereinigung zu einem Ganzen, und so kann man auch die Wahrheit des Satzes, dass alles Gold feuerbeständig sei, nicht sicher wissen.

§ 9. Da, wie gesagt, diese Verbindung der Feuerbeständigkeit mit den andern Eigenschaften nicht erkennbar ist, so bleibt, wenn man die Gesammtvorstellung des Goldes aus einem gelben, schmelzbaren, biegsamen, schweren und feuerbeständigen Körper zusammensetzt, dieselbe Ungewissheit rücksichtlich seiner Löslichkeit in Königswasser, und zwar aus gleichem Grunde; denn man kann aus der blossen Betrachtung dieser Vorstellungen nicht sicher entnehmen, ob die Löslichkeit in Königswasser damit verbunden ist. Dasselbe gilt für die übrigen Eigenschaften des Goldes; deshalb möchte ich gerne einen Satz kennen, in dem mit voller Gewissheit eine Eigenschaft als allgemein dem Golde zukommend behauptet werden kann. Man wird mir entgegnen, dass die Biegsamkeit desselben ein solcher allgemeiner Satz sei; allein dies gilt doch nur dann, wenn diese Eigenschaft in die[200] Gesammtvorstellung schon vorher aufgenommen worden ist, welche man mit Gold bezeichnet. Dann wird aber nur behauptet, dass das Wort Gold eine Vorstellung bezeichne, die die Biegsamkeit mit enthalte; aber eine solche Wahrheit hat auch der Satz, dass der Centaur vier Füsse habe. Bildet dagegen die Biegsamkeit keinen Theil des Wort-Wesens des Goldes, so ist der Satz: Alles Gold ist biegsam, nicht gewiss, da diese Biegsamkeit, mag dieses Wesen aus sonst welchen Eigenschaften zusammengesetzt sein, doch ersichtlich von diesen einzeln oder zusammen nicht abhängt; diese Verbindung der Biegsamkeit mit den übrigen Eigenschaften beruht vielmehr auf der Vermittelung der inneren Verfassung der kleinsten Theilchen, und da man diese nicht kennt, so kann man auch diese Verbindung nicht erkennen, wenn man nicht das Band entdecken kann, das sie verknüpft.

§ 10. Soweit ein solches Zusammenbestehen erkennbar ist, soweit können allgemeine Sätze gewiss sein; allein dies reicht nicht weit, weil:) Je mehr zusammenbestehende Eigenschaften man zu der Gesammtvorstellung eines Wortes verbindet, desto bestimmter und genauer wird die Bedeutung des Wortes; allein es können trotzdem andere, in dieser Gesammtvorstellung nicht enthaltene Eigenschaften daraus nicht sicher abgeleitet werden, da man ihre Verbindung oder Abhängigkeit nicht erkennt, weil man die wirkliche Verfassung des Goldes nicht kennt, in der sie alle begründet sind, und aus der sie hervorgehen. Denn der Haupttheil unsres Wissens von Substanzen ist nicht blos ein Bezeichnen zweier getrennt bestehender Vorstellungen, sondern betrifft die nothwendige Verbindung und das Zusammenbestehen verschiedener Vorstellungen in demselben Gegenstande, oder ihre Unverträglichkeit dazu. Könnte man an dem andern Ende beginnen und das ermitteln, woraus die Farbe besteht, oder was einen Körper leichter oder schwerer macht, oder welches Gewebe seiner Theile biegsam, schmelzbar und feuerbeständig macht und ihn in einer Flüssigkeit sich auflösen lässt; hätte man (sage ich) eine solche Vorstellung von den Körpern, und könnte man wahrnehmen, worin alle sinnlichen Eigenschaften ursprünglich bestehen, und wie sie hervorgebracht werden, so könnte man solche Vorstellungen von ihnen bilden,[201] die zur Bildung allgemeiner Sätze mehr geeignet wären, und die zugleich allgemeine Wahrheit und Gewissheit mit sich führten. Allein unsre jetzigen Vorstellungen von den Arten und Substanzen sind weit von dem wirklichen Wesen entfernt, von dem diese Eigenschaften abhängen; sie sind nur eine unvollständige Ansammlung sinnlich-wahr nehmbarer, an ihnen bemerkbarer Eigenschaften, und deshalb können über Substanzen nur wenig allgemeine Sätze sicher und wahr gebildet werden; denn nur bei wenigen einfachen Vorstellungen hat man von ihrer Verbindung und ihrem nothwendigen Zusammenbestehen ein sicheres und zweifelloses Wissen. Ich glaube, dass von allen zweiten Eigenschaften der Substanzen und deren darauf bezüglichen Kräften man nicht zwei nennen kann, von denen man gewiss weiss, dass sie nothwendig zusammenbestehen oder sich nicht vertragen; nur von den gleichbedeutenden ist dies möglich, bei denen allerdings die eine die andere einschliesst, wie ich anderwärts gezeigt habe. Niemand kann aus der Farbe eines Körpers sicher abnehmen, welchen Geruch, Geschmack, Ton und welche fühlbare Eigenschaften er habe, und welche Veränderungen er an anderen Körpern bewirken oder von ihnen erleiden könne. Ebenso kann dies nicht aus dem Ton oder Geschmack desselben abgeleitet werden. Da die Art-Namen der Substanzen nur solche Zusammenfassungen von Vorstellungen bezeichnen, so ist es natürlich, dass daraus nur wenig allgemeine Sätze von unzweifelhafter Gewissheit abgeleitet werden können. Enthalten aber solche Vorstellungen eine einfache, deren nothwendiges Zusammenbestehen mit anderen erkennbar ist, so können insoweit allgemeine Sätze hierüber sicher aufgestellt werden. Wenn man z.B. eine nothwendige Verbindung zwischen der Biegsamkeit und der Farbe oder Schwere des Goldes ermitteln könnte, so würde man darüber auch einen sicheren allgemeinen Satz beim Golde aufstellen können, und die wirkliche Wahrheit des Satzes: »Alles Gold ist biegsam« wäre dann so gewiss, wie die von dem Satze, dass die drei Winkel des Dreiecks zweien rechten gleich sind.

§ 11. (Die unsre Vorstellungen von Substanzen ausmachenden Eigenschaften sind meist von äusseren, entfernten und unbemerkten Ursachen[202] abhängig.) Wären unsre Vorstellungen von den Substanzen der Art, dass wir wüssten, welche wirkliche Verfassung die an ihnen bemerkten Eigenschaften hervorbringt und Wie sie daraus abfliessen, so könnten wir durch die Vorstellung ihres wahren Wesens in unsrer Seele ihre Eigenschaften, und was sie Eigenthümliches haben oder nicht haben, besser erkennen, als jetzt vermittelst der Sinne. Um die Eigenschaften des Goldes zu kennen, wäre dann das Dasein von Gold und die Anstellung von Versuchen mit demselben so wenig nöthig, wie das Dasein eines Dreiecks aus irgend einem Stoffe für die Erkenntniss seiner Eigenschaften nothwendig ist; die Vorstellung in der Seele würde in beiden Fällen dazu hinreichen. Allein wir sind von den Geheimnissen der Natur so ausgeschlossen, dass wir uns kaum dem Eingange dazu nähern können. Man ist gewohnt, von den Substanzen, welche man antrifft, jede als ein ganzes Ding für sich zu betrachten, das seine Eigenschaften für sich und unabhängig von anderen Dingen hat. Man übersieht meist die Wirksamkeit jener unsichtbaren Flüssigkeiten, die sie umgeben, und von deren Bewegungen und Wirksamkeit meist die an ihnen bemerkten Eigenschaften abhängen, welche wir zu Kennzeichen machen, nach denen man sie unterscheidet und benennt. Allein ein Stück Gold für sich und getrennt aus dem Bereiche und Einfluss aller anderen Körper, würde sofort Farbe, Schwere und wahrscheinlich auch seine Biegsamkeit verlieren und völlig zerreiblich werden. Ebenso würde das Wasser für sich allein, dessen Flüssigkeit als seine wesentliche Eigenschaft gilt, dieselbe sofort verlieren. Wenn also schon bei leblosen Körpern ihr Zustand auf anderen äusseren Körpern beruht, und sie uns nicht mehr für das gelten würden, wenn letztere entfernt wären, so gilt dies noch mehr von den Pflanzen, welche ernährt werden, wachsen und Blätter, Blüthen und Samen in stetiger Folge hervorbringen. Und betrachtet man den Zustand der Thiere näher, so zeigen sie sich in ihrem Leben, Bewegungen und erheblichsten Eigenschaften so abhängig von äusseren Ursachen und von den Eigenschaften anderer Körper, dass sie ohne diese nicht einen Augenblick bestehen könnten, obgleich diese fremden Körper wenig beachtet werden und keinen Theil der von diesen Thieren[203] gebildeten Gesammtvorstellung bilden. Man entziehe die Luft nur eine Minute lang einem lebenden Wesen, und die meisten werden sofort die Empfindung, das Leben und die Bewegung verlieren. Die Nothwendigkeit zu athmen hat dies unsrem Wissen aufgezwungen; aber auf wie vielen anderen, vielleicht feineren Körpern mögen nicht die Federn dieser wunderbaren Maschine ruhen, die man nicht bemerkt, ja, an die man nicht denkt, und wie viele mag es geben, die selbst durch die genaueste Untersuchung sich nicht entdecken lassen werden. Obgleich die Bewohner dieses Theiles des Weltalls viele Millionen Meilen von der Sonne entfernt sind, so hängen sie doch so sehr von der gehörigen und massigen Bewegung der von ihr kommenden Theilchen ab, dass die Erde nur ein wenig aus ihrer jetzigen Stellung zu dieser Wärmequelle entfernt zu werden brauchte, und die lebenden Wesen auf ihr würden sofort zum grössten Theile umkommen. Schon ein Uebermaass oder Mindermaass von Sonnenwärme, denen sie an einzelnen Orten zufällig ausgesetzt werden, genügt, sie zu tödten. Die an einem Magnet wahrgenommenen Eigenschaften müssen jenseits desselben ihre Quelle haben, und das Untergehen vieler Thierarten, ohne sichtbare Ursache, der gewisse Tod mancher (wie man berichtet) blos in Folge der Ueberschreitung des Aequators oder der Versetzung in benachbarte Länder zeigt klar, dass diese gemeinsame Wirksamkeit von Körpern, die man gar nicht vermuthet, sie erst zu dem macht, wie sie uns erscheinen, und ihnen die Eigenschaften giebt, an denen wir sie erkennen. Man geht deshalb ganz irre, wenn man meint, die Dinge enthalten in sich die Eigenschaften, die sie zeigen, und man sucht vergeblich in der Verfassung einer Fliege oder eines Elephanten die Ursachen, von denen ihre Eigenschaften und Kräfte abhängen. Um sie recht zu kennen, müsste man vielleicht über diese Erde und diesen Dunstkreis und selbst über die Sonne und die entferntesten noch sichtbaren Sterne hinausblicken, denn man kann gar nicht bestimmen, wie viel das Dasein und die Thätigkeit der einzelnen Substanzen auf dieser Erde von Ursachen abhängt, die unserem Gesichtskreis ganz entrückt sind. Man sieht und bemerkt einige der Bewegungen und gröberen Wirkungen der Dinge ringsum; allein woher der[204] Strom kommt, welcher all diese wunderbaren Maschinen trotz ihrer Mannichfaltigkeit in Bewegung und im Stande erhält, übersteigt unser Wissen. Die grossen Stricke und Räder (so zu sagen) dieses staunenswerthen Baues des Weltalls können, so viel wir wissen, eine solche Verbindung und Abhängigkeit bei ihren Einwirkungen auf einander haben, dass vielleicht die Dinge in unserer Wohnung eine ganz andere Gestalt annehmen und das zu sein aufhören würden, was sie jetzt sind, wenn einer von den Sternen oder grossen Körpern in unermesslicher Ferne aufhörte, sich so zu bewegen, wie es jetzt geschieht. So viel ist gewiss, dass selbst die Dinge, die am meisten selbstständig und in sich abgeschlossen scheinen, doch nur von andern Theilen der Natur abhängig und nicht das sind, wofür sie meist gehalten werden. Sie verdanken ihre sichtbaren Eigenschaften, Thätigkeiten und Kräfte Dingen ausserhalb ihrer, und jedes noch so vollständige Stück in der Natur verdankt sein Dasein und seine Vorzüge seinen Nachbaren, so dass man, um seine Eigenschaften völlig zu verstehen, das Denken nicht auf dessen Oberfläche sich beschränken darf, sondern einen guten Theil weiter blicken muss.

§ 12. Man darf sich daher nicht wandern, dass unsere Vorstellungen von Substanzen unvollkommen sind, und dass wir das wirkliche Wesen, von dem ihre Eigenschaften abhängen, nicht kennen. Man kann weder die Grösse noch die Gestalt und das Gewebe ihrer kleinsten thätigen Theile entdecken und noch weniger die verschiedenen Bewegungen und Stösse, die in ihnen und auf sie durch fremde Körper geschehen, obgleich die meisten und erheblichsten Eigenschaften, die man an ihnen bemerkt, und aus denen deren Vorstellungen sich bei uns zusammensetzen, davon abhängen. Dies allein genügt, um unseren Hoffnungen auf Erkenntniss ihres wahren Wesens ein Ende zu machen; wir können an deren Stelle nur deren Wort-Wesen setzen, das uns aber nur spärlich mit einer allgemeinen Kenntniss und sichern allgemeinen Sätzen versieht.

§ 13. (Das Urtheilen reicht weiter, ist aber kein Wissen.) Man darf sich daher nicht wundern, dass nur wenige über Substanzen aufgestellte Sätze sicher sind; denn unsere Kenntniss ihrer Eigenschaften geht selten[205] über den Bereich unserer Sinne hinaus. Vielleicht dringen die Forschungen und Beobachtungen einzelner tüchtiger Männer weiter vor. Vielleicht vermögen sie auf Grund sorgfältiger Beobachtungen und zusammengefasster Andeutungen mitunter das zu errathen, was die Wahrnehmung noch nicht entdeckt hat; allein es bleiben dies blosse Vermuthungen; man kommt hier nicht über das Meinen hinaus und erlangt nicht die zum Wissen nöthige Gewissheit; denn das allgemeine Wissen gehört nur unserm Denken an und besteht nur in der Betrachtung unsrer eigenen allgemeinen Vorstellungen. Wo man bemerkt, dass sie mit einander stimmen oder nicht stimmen, da hat man ein allgemeines Wissen, und indem man danach die Worte dieser Vorstellungen zu Sätzen verbindet, kann man allgemeine Wahrheiten mit Sicherheit aussprechen. Allein diese allgemeinen Vorstellungen von Substanzen, für welche besondere Worte vorhanden sind, haben, soweit sie eine bestimmte Bedeutung haben, nur mit wenig andern Vorstellungen eine erkennbare Verbindung oder Unvereinbarkeit, und deshalb sind allgemeine Sätze, die als gewiss gelten können, über Substanzen in Bezug auf das, was uns am meisten interessirt, spärlich und dürftig, und es giebt kaum ein Substanz-Wort, mag seine Bedeutung sein, welche sie wolle, bei dem man gewisse Eigenschaften ihm allgemein und gewiss zusprechen oder absprechen kann, die regelmässig mit seiner Vorstellung, wo sie auch angetroffen wird, verknüpft oder nicht verknüpft sind.

§ 14. (Was zur Kenntniss der Substanzen gehört.) Ehe man hier nur einige Kenntniss erlangen kann, müsste man zunächst wissen, welche Veränderungen die ersten Eigenschaften des einen Körpers in den ersten eines andern bewirken, und wie dies geschieht. Zweitens müsste man wissen, welche ersten Eigenschaften eines Körpers gewisse Empfindungen oder Vorstellungen in uns hervorbringen; und dies verlangt ein Wissen von allen Wirkungen des Stoffes je nach seinen Besonderungen in Grösse, Gestalt, Zusammenhang, Bewegung und Ruhe, was Jeder wohl ohne Offenbarung für unerreichbar halten wird. Wäre es aber uns offenbart, welche Art von Gestalt, Grösse und Bewegung der kleinsten Körperchen in uns die Empfindung der gelben Farbe bewirkt,[206] und welche Gestalt, Grösse und Gewebe auf der Oberfläche eines Körpers solchen Körperchen die gehörige Bewegung mittheilt, um diese Farbe hervorzubringen, so wurde dies doch zur Bildung sicherer allgemeiner Sätze aber die einzelnen Arten nicht zureichen, wenn unsere Vermögen nicht so scharf wären, dass man auch die Masse, Gestalt, das Gewebe und die Bewegung der kleinsten Theile in den einzelnen Körpern wahrnehmen könnte, durch die sie auf unsere Sinne einwirken, um danach die allgemeinen Vorstellungen über sie zu bilden. Ich habe hier nur körperliche Substanzen gemeint, deren Wirksamkeit unserm Verstande näher zu liegen scheint; denn bei den Wirksamkeiten der Geister, sowohl in deren Denken wie Bewegen der Körper, hört schon bei dem ersten Blick unser Wissen auf. Allein auch bei den Körpern wird man, wenn man näher über sie und ihre Wirksamkeit nachdenkt und erwägt, wie wenig unsere Begriffe selbst bei diesen mit einiger Klarheit über einzelne Thatsachen hinausreichen, gestehn müssen, dass selbst hier unsere Entdeckungen wenig übervollkommene Unwissenheit und Unfähigkeit hinausgehen.

§ 15. (Da unsere Vorstellungen von Substanzen deren wirkliches Wesen nicht enthalten, so können wir nur wenig allgemeine Sätze über sie aufstellen.) So viel ist klar, dass die allgemeinen Vorstellungen der Substanzen, die durch allgemeine Worte bezeichnet werden, nur wenig allgemeine Gewissheit gewähren können, weil sie deren wirkliche Verfassung nicht einschliessen. Unsere Vorstellungen von ihnen sind nicht aus dem gebildet, wovon die an ihnen wahrgenommenen Eigenschaften abhängen, und was uns hierüber belehren könnte, oder mit dem sie in Verbindung stehen. Wenn z.B. die Vorstellung, die man Mensch nennt, meist einen Körper von der entsprechenden Gestalt, mit Wahrnehmung, freiwilliger Bewegung und Vernunft bezeichnet, so kann man aus dieser allgemeinen Vorstellung, die sonach das Wesen des Menschen bildet, nur wenig allgemeine Sätze über den Menschen aufstellen; denn man kennt nicht die wirkliche Verfassung, von der die Wahrnehmung, die Kraft zu bewegen und zu denken und diese besondere Gestalt abhängen, und worauf ihre Verbindung zu einem Wesen beruht. Deshalb giebt es[207] nur wenig andere Eigenschaften, mit denen jene in einer nothwendigen und erkennbaren Verbindung stehen, und man kann nicht sicher behaupten, dass z.B. alle Menschen zu Zeiten schlafen; dass kein Mensch sich von Steinen und Holz ernähren könne; dass alle Menschen durch Schierling vergiftet werden; denn all diese Vorstellungen stehen in keiner Verbindung und sind auch nicht umgekehrt unvereinbar mit dem Wort Wesen des Menschen und mit der allgemeinen, durch dieses Wort bezeichneten Vorstellung, Man muss hier und bei andern Fragen Versuche an Einzelnen anstellen, kommt indess damit nicht weit; im Uebrigen muss man sich mit Wahrscheinlichkeiten begnügen; allgemeine Gewissheit ist unmöglich, weil unsre Vorstellung vom Menschen das wirkliche Wesen nicht als die Wurzel einschliesst, aus der all seine Eigenschaften abfliessen und sich untrennbar in ihr vereinigen, unsre Vorstellung vom Menschen ist nur eine unvollständige Sammlung einiger erkennbarer Eigenschaften und Kräfte desselben, und deshalb fehlt die Verbindung oder der Widerstreit derselben mit der Wirksamkeit des Schierlings oder der Steine auf dessen Verfassung. Es giebt Thiere, die ohne Schaden Schierling verzehren, und andere, die sich von Holz und Steinen nähren; so lange aber uns die Kenntniss der wirklichen Verfassung der einzelnen Thier-Arten fehlt, von der diese und andere Eigenschaften und Kräfte abhängen, kann man nicht hoffen, eine Gewissheit für allgemeine Sätze über sie zu erreichen. Nur jene wenigen Vorstellungen, die eine erkennbare Verbindung mit dem Wort-Wesen oder einem Theile desselben haben, können uns solche Sätze gewähren; deren sind indess so wenige, und sie sind von so geringer Bedeutung, dass unser gewisses allgemeines Wissen über Substanzen so gut wie keines ist.

§ 16. (Worauf die allgemeine Gewissheit der Sätze beruht.) Also können allgemeine Sätze irgend welcher Art nur dann Gewissheit haben, wenn die darin vorkommenden Worte solche Vorstellungen bezeichnen, deren Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung in der ausgedrückten Art von uns entdeckt werden kann, und wir sind nur dann ihrer Wahrheit oder Unwahrheit gewiss, wenn wir erkennen, dass die bezeichneten Vorstellungen so übereinstimmen oder nicht übereinstimmen,[208] wie sie bejaht oder verneint worden sind. Daher besteht die Gewissheit des Allgemeinen nur in unsern Vorstellungen; sucht man sie anderswo in Versuchen oder Beobachtungen, so kommt man nicht über das Wissen von dem Einzelnen hinaus. Nur die Betrachtung unsrer allgemeinen Vorstellungen kann uns allgemeines Wissen gewähren.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 196-209.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
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