Neuntes Kapitel.
Unser Wissen vom Dasein

[237] § 1. (Allgemeine und gewisse Sätze betreffen nicht das Dasein.) Bisher haben wir nur das Wesen der Dinge betrachtet, und da dies nur in allgemeinen Vorstellungen besteht und deshalb innerhalb des Denkens den daseienden einzelnen Dingen fern bleibt, indem bei dem Verallgemeinern die eigenthümliche Thätigkeit der Seele darin besteht, eine Vorstellung nicht anders als nur in der Seele daseiend aufzufassen, so gewährt es durchaus kein Wissen von dem wirklichen Dasein. Hieraus kann man beiläufig abnehmen, dass alle allgemeinen Sätze, die man als wahr oder unwahr gewiss weiss, das Dasein nicht betreffen, und ferner, dass alle Sätze über Einzelnes, die ihre Gewissheit durch ihre Verallgemeinerung verlieren würden, blos das Dasein betreffen, indem sie nur die zufällige Verbindung oder Trennung von Vorstellungen in bestehenden Dingen aussagen, die in ihrer allgemeinen Natur keine gekannte nothwendige Verbindung oder Entgegensetzung an sich haben.

§ 2. (Das Wissen von dem Dasein ist dreifach.) Die weitere Betrachtung über die Natur der Sätze und die verschiedenen Arten der Aussagen gehört jedoch an einen andern Ort; hier handelt es sich nur[237] um unser Wissen von dem Dasein der Dinge und am die Frage, wie man es erlangt. Hier sage ich, dass wir von unserm eigenen Dasein ein anschauliches Wissen haben; von dem Dasein Gottes ein beweisbares Wissen, und von andern Dingen ein wahrnehmendes Wissen.

§ 3. (Unser Wissen von dem eigenen Sein ist anschaulich.) Unser eigenes Dasein nehmen wir so klar und sicher wahr, dass es keines Beweises dafür bedarf; auch ist es dessen nicht fähig. Denn nichts kann offenbarer für uns sein als das eigene Dasein. Ich denke, ich überlege, ich fühle Lust oder Schmerz; kann all dies offenbarer für mich sein als das eigene Dasein? Selbst wenn ich alles Andere bezweifle, so lässt mich dieses Zweifeln mein eigenes Dasein wahrnehmen und daran nicht zweifeln. Denn wenn ich Schmerz empfinde, so habe ich offenbar eine ebenso sichere Wahrnehmung von meinem eigenen Dasein, wie von dem gefühlten Schmerz; und wenn ich weiss, dass ich zweifle, so habe ich eine ebenso sichere Wahrnehmung von dem zweifelnden Dinge, als von dem Gedanken, den ich Zweifel nenne. So lehrt uns die Erfahrung, dass wir ein anschauliches Wissen von unserm eigenen Dasein haben, und eine innere untrügliche Wahrnehmung, dass wir sind. Bei jedem einzelnen Fühlen, Denken oder Ueberlegen sind wir uns des eigenen Seins bewusst, und hier fehlt uns nichts an der höchsten Gewissheit.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 237-238.
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Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1