Zehntes Kapitel.
Von dem Behalten

[152] § 1. (Betrachtung.) Das nächste Vermögen, wodurch die Seele weiter in der Kenntniss vorschreitet, ist das, was ich das Behalten nenne, oder das Festhalten der einfachen Vorstellungen, welche sie durch die Sinnes- und Selbstwahrnehmung empfangen hat. Dies Behalten geschieht in zwei Weisen; erstens indem die eingeführte Vorstellung eine Zeit lang wirklich gegenwärtig behalten wird, was Betrachtung heisst.

§ 2. (Gedächtniss.) Die zweite Art des Behaltens besteht in der Kraft, diese Vorstellungen in der Seele wieder zu erwecken, die nach deren Empfang verschwunden oder gleichsam bei Seite gelegt worden sind; so, wenn wir uns die Hitze und das Licht, die gelbe Farbe und das Süsse vorstellen, während der Gegenstand nicht gegenwärtig ist. Dies ist das Gedächtniss, gleichsam die Niederlage unserer Vorstellungen. Die menschliche Seele ist zu eng, um viele Vorstellungen auf einmal gegenwärtig zu haben; deshalb war eine Niederlage nöthig für die Vorstellungen, um sie zur gelegenen Zeit wieder hervorzusuchen. Da indess unsere Vorstellungen nur in Auffassungen der Seele bestehen, die Nichts sind, wenn sie nicht wirklich erfasst sind, so bedeutet dieses Zurücklegen der Vorstellungen in die Gedächtniss-Niederlage nur, dass die Seele eine Kraft hat, in gewissen Fällen Vorstellungen[152] wieder zu erwecken, die sie früher gehabt hat, mit dem zusätzlichen Wissen, dass sie dieselben schon gehabt habe. In diesem Sinne ist es gemeint, wenn man sagt, die Vorstellungen seien im Gedächtniss; da sie doch in Wahrheit nirgends sind, und die Seele nur die Fähigkeit hat, sie mach Belieben zu erwecken, als wenn sie von Neuem in sie eingedrückt wären, und zwar bald schwerer, bald, leichter; einzelne lebhafter, andere dunkler. So beruht es auf diesem Vermögen, dass man alle jene Gedanken in der Seele hat, die, wenn man sie auch nicht gegenwärtig hat, man doch immer in Sicht bringen und wieder erscheinen lassen und zu Gegenständen des Denkens machen kann; und zwar ohne Hülfe der sinnlichen Eigenschaften, welche diese Vorstellungen zuerst uns eingeprägt haben.

§ 3. (Aufmerksamkeit, Wiederholung, Schmerz und Lust befestigen die Vorstellungen.) Aufmerksamkeit und Wiederholung dienen sehr zur Befestigung der Vorstellungen in dem Gedächtnis; den tiefsten und dauerndsten Eindruck machen jedoch von Natur die mit Schmerz oder Lust verbundenen Vorstellungen. Da es das Hauptgeschäft der Sinne ist, uns von dem dem Körper Schädlichen oder Nützlichen Kenntniss zu geben, so ist es (wie ich gezeigt habe) ein weise Anordnung, dass manche Vorstellungen mit Schmerz begleitet sind; er ersetzt bei den Kindern die Betrachtung und das Nachdenken und wirkt bei Erwachsenen schneller als Betrachtung, lässt Jung und Alt schmerzerregende Gegenstände mit der Eile vermeiden, die ihre eigene Erhaltung erfordert, und befestigt in dem Gedächtniss Beider die Vorsicht für die Zukunft.

§ 4. (Die Vorstellungen erbleichen, in dem Gedächtniss.) In Betreff der Dauer der dem Gedächtniss eingeprägten Vorstellungen zeigt sich, dass manche der Seele nur durch einen, bloss die Sinne erregenden Gegenstand, und zwar nur einmal zugeführt worden sind; andere haben sich den Sinnen öfters dargeboten, aber sind wenig beachtet worden, entweder aus Leichtsinn bei den Kindern, oder wegen anderweiter Beschäftigung, wie z.B. bei Menschen, die nur auf einen Gegenstand ihren Sinn gerichtet haben, der Eindruck sich nicht tief festsetzt. Auch da, wo die Eindrücke sorgfältig aufgenommen und wiederholt worden sind, ist bei Manchen doch das[153] Gedächtniss entweder in Folge körperlicher Zustande oder eines Mangels im Gedächtniss selbst schwach. In all diesen Fällen erbleichen die Vorstellungen in der Seele schnell und verschwinden oft ganz aus dem Verstande, ohne mehr Spuren und Zeichen von sich, wie die über Kornfelder hinfliegenden Wolkenschatten, zu hinter lassen; die Seele ist dann so leer an ihnen, als hätte sie dieselben nie gehabt.

§ 5. So gehen bei Kindern Vorstellungen aus dem Anfange ihres Wahrnehmens (bei Manchen mit Schmerz oder Lust verknüpften vielleicht schon aus der Zeit vor ihrer Geburt, bei andern aus ihrer frühesten Kindheit), wenn sie nicht später wiederholt werden, gänzlich verloren und lassen keine Spur von sich zurück. Man kann dies bei Personen beobachten, die ihr Gesicht in früher Jugend verloren haben; die Vorstellungen der Farben, die sie nur leichthin aufgenommen hatten, und die nicht wiederholt werden konnten, sind bei ihnen ganz verschwunden; sie haben nach einigen Jahren gleich den Blind-Gebornen keinen Begriff noch Erinnerung von Farben mehr. Bei manchem Menschen ist allerdings das Gedächtniss wunderbar stark; allein dennoch scheint ein allgemeines Nachlassen unserer Vorstellungen, selbst der am tiefsten eingeprägten und selbst bei Menschen von gutem Gedächtniss, Statt zu finden. Wenn daher die Vorstellungen nicht mitunter dadurch erneuert werden, dass die Sinne oder die Selbstwahrnehmung auf die sie zuerst veranlassenden Gegenstände gerichtet werden, so verwischen sich allmählich die Eindrücke, und es bleibt zuletzt nichts übrig. So sterben die Vorstellungen unserer Jugend, gleich unseren Kindern, oft vor uns, und die Seele gleicht Gräbern, wo, wenn man ihnen nahe tritt, zwar das Erz und der Marmor geblieben ist, aber die Inschrift vor der Zeit verlöscht und die Bildnerei vermodert ist. Die Bilder in unserer Seele sind nur mit schwachen Farben gemalt; wenn sie nicht aufgefrischt werden, erbleichen und verlöschen sie. Ich will hier nicht untersuchen, wie weit die Verfassung unsers Körpers und der Zustand unserer Lebensgeister dabei Einfluss haben, und ob die Eigenschaften des Gehirns es bewirken, dass manche Menschen die Eindrücke behalten, als wären sie in Marmor, Andere, als wären sie nur in Thon und wieder[154] Andere, als wären sie nur in Sand eingegraben. Der Zustand des Körpers mag allerdings das Gedächtniss beeinflussen; oft beraubt eine Krankheit die Seele ganz ihrer Vorstellungen, und die Fieberhitze verbrennt in wenig Tagen alle Bilder zu Staub und Dunst, die so dauernd schienen, als wären sie in Marmor eingegraben.

§ 6. (Häufig wiederholte Vorstellungen können kaum verloren gehen.) In Betreff der Vorstellungen selbst bemerkt man leicht, dass die, welche durch eine häufige Wiederkehr der sie erweckenden Gegenstände oder Handlungen am häufigsten erneuert werden (wozu die der Seele durch mehr als einen Sinn zugeführten gehören), sich am besten in dem Gedächtniss befestigen und am längsten darin klar bleiben: deshalb gehen die ursprünglichen Eigenschaften der Körper, also Dichtheit, Ausdehnung, Gestalt, Bewegung und Ruhe, und die, welche beinah beständig ungern Körper erregen, wie Hitze und Kälte, und die, welche Zustände sind, die allen Wesen gemein sind, wie Dasein, Zahl, Dauer, und welche beinah Jeder sinnliche Gegenstand und jeder Gedanke unsrer Seele mit sich führt, deshalb, sage ich, gehen diese und ähnliche Vorstellungen selten ganz verloren, so lange die Seele überhaupt noch Vorstellungen festhält.

§ 7. (Bei dem Erinnern ist die Seele oft thätig.) In diesem zweiten Wahrnehmen, wie ich es nennen möchte, oder in diesem Wiedersehen der in dem Gedächtniss bewahrten Vorstellungen verhält sich die Seele nicht immer unthätig; vielmehr hängt das Erscheinen dieser schlafenden Bilder mitunter von dem Willen ab. Oft unternimmt die Seele selbst die Aufsuchung einer verborgenen Vorstellung und wendet gleichsam ihre Augen dahin. Mitunter springen sie aber auch in unsrer Seele von selbst hervor und zeigen sich dem Verstande; oft sind es drängende und heftige Leidenschaften, die sie aufwecken und aus ihren dunklen Zellen an das offene Tageslicht treiben; die Gemüthsbewegungen bringen Vorstellungen zur Erinnerung, die sonst ruhig und unbeachtet geblieben wären. Bei diesen in dem Gedächtniss enthaltenen und von der Seele gelegentlich erweckten Vorstellungen muss man indess festhalten, dass keine derselben eine neue ist (wie das Wort »erwecken« andeuten könnte), vielmehr erfasst die Seele sie als[155] frühere Eindrücke und erneuert nur ihre Bekanntschaft mit ihnen, als schon vorher gehabten Vorstellungen. Früher empfangene Vorstellungen sind deshalb nicht immer gegenwärtig, aber wenn sie wieder hervortreten, werden sie von dem Verstande immer als solche erkannt, die früher einmal gegenwärtig gewesen und gewusst worden sind.

§ 8. (Zwei Mängel des Gedächtnisses; das Vergessen und die Langsamkeit.) Das Gedächtniss ist nach dem Wahrnehmen das Unentbehrlichste für ein geistiges Wesen. Seine Bedeutung ist so gross, dass, wo es fehlt, die übrigen Seelenvermögen zum grossen Theile nutzlos werden, und man könnte ohne Gedächtniss beim Denken, Urtheilen und Wissen nicht über die den Sinnen gegenwärtigen Dinge hinausgehen. In dem Gedächtniss zeigen sich indess zwei Mängel; erstens, dass es eine Vorstellung ganz verliert und soweit vollkommenes Nicht-Wissen erzeugt; man kann nämlich die Dinge nur durch die Vorstellungen derselben kennen, und ist daher diese dahin, so ist man vollkommen unwissend; zweitens, dass es sich zu langsam bewegt und die Vorstellungen, die es bat und die in ihm aufgehäuft sind, in dem einzelnen Falle der Seele nicht schnell genug herbeischafft. Findet dies in einem hohem Maasse statt, so ist es Dummheit. Wer wegen dieses Fehlers die in seinem Gedächtnisse aufbewahrten Vorstellungen nicht schnell bei der Hand hat, wenn er deren bei Gelegenheit bedarf, ist nicht besser daran, als hätte er sie gar nicht, da sie ihm nichts nutzen können. Ein dummer Mensch, der über das Suchen nach diesen Vorstellungen, die er braucht, die Gelegenheit versäumt, ist in Bezug auf sein Wissen nicht besser daran als ein ganz Unwissender. Das Gedächtniss hat deshalb die Aufgabe, der Seele jene schlafenden Vorstellungen, die sie braucht, zuzuführen; insofern es dieselben jederzeit bei der Hand hat, besteht darin das, was man Erfindung, Phantasie und Geistesgegenwart nennt.

§ 9. Diese Mängel kann man schon bemerken, wenn man mehrere Personen mit einander vergleicht; dagegen mag wohl in dem menschlichen Gedächtniss, wenn es mit höheren Wesen verglichen wird, noch ein allgemeiner Mangel enthalten sein; jene übertreffen vielleicht den[156] Menschen so sehr, dass sie die ganze Scene ihres früheren Handelns vollständig gegenwärtig haben, und dass keiner ihrer Gedanken, die sie je gehabt, aus diesem gegenwärtigen Wissen verschwindet. Die Allwissenheit Gottes, welcher alle Dinge, die vergangenen wie die gegenwärtigen und zukünftigen weiss, und vor dem die Herzen der Menschen offen da liegen, zeigt, dass dergleichen möglich ist. Offenbar kann Gott jenen hohen Geistern, seinen unmittelbaren Dienern, von seinen Vollkommenheiten so viel mitteilen, als ihm gefällt, und als die Natur endlicher Wesen gestattet. Von Herrn Pascal erzählt man, er habe eine solche Natur des Gedächtnisses besessen, dass er, ehe nicht seine erschütterte Gesundheit sein Gedächtniss geschwächt hatte, er nichts von Allem vergessen habe, was er zu irgend einer Zeit seit seiner Knabenzeit gethan, gelesen oder gedacht gehabt. Dieser Vorzug ist den meisten Menschen so unbekannt, dass er beinah unglaublich erscheint, weil sie Alle nur nach sich selbst zu urtheilen pflegen; indess können solche Fälle uns helfen für Wesen hohem Ranges, von deren grösseren Vollkommenheiten einen ohngefähren Begriff zu bekommen. Bei Herrn Pascal blieb immer die Schranke, wonach die menschliche Seele viele Gedanken nur nach einander, aber nicht gleichzeitig haben kann; die Engel in ihren verschiedenen Abstufungen haben aber vielleicht ein weiteres gegenwärtiges Wissen, und manche von ihnen vermögen vielleicht alle ihr früheres Wissen auf einmal als gegenwärtiges festzuhalten und immer sich vorzustellen. Für einen denkenden Menschen wurde dergleichen kein geringer Vortheil sein, und man kann daraus abnehmen, dass dies eine von den Arten sein mag, in denen, das Wissen der höheren Geister das unsrige weit übertrifft.

§ 10. (Auch die Thiere haben Gedächtniss.) Viele Thiere scheinen so gut wie der Mensch das Vermögen, empfangene Vorstellungen aufzubewahren und festzuhalten, bis zu einem ziemlich hohen Maasse zu besitzen. Um andere Fälle nicht zu erwähnen, führe ich nur an, dass Vögel, welche Töne lernen, sich bestreben, die rechten Noten zu treffen, und dies zeigt unzweifelhaft, dass sie wahrnehmen, die Vorstellungen im Gedächtniss behalten und als Muster benutzen; ohnedem wäre es unmöglich, dass sie ihre Stimme den Noten anpassen könnten[157] (wie sie doch thun), wenn sie keine Vorstellungen davon hätten. Ich gebe zwar zu, dass die Töne eine Art mechanischer Bewegung der Lebensgeister in dem Gehirn dieser Vögel bewirken, so lange der Ton angeschlagen wird; diese Bewegung mag sich zu den Muskeln der Flügel fortsetzen, und so der Vogel durch manches Geräusch mechanisch fortgescheucht werden, weil dies zu seiner Erhaltung dient; allein dies kann nicht erklären, dass während des Tones und noch weniger nach seinem Aufhören mechanisch eine solche Bewegung in des Vogels Stimmorganen bewirkt werde, die den Tönen einer fremden Stimme entspricht, zumal diese Nachahmung für die Erhaltung des Vogels nichts beiträgt. Aber mit noch weniger Schein kann angenommen (und noch weniger bewiesen) werden, dass der Vogel ohne Wahrnehmung und Gedächtniss seine Töne den Tags zuvor gehörten Tönen allmählich mehr annähern könne; hätten sie keine Vorstellung davon in ihrem Gedächtnisse, so bestände diese Vorstellung nirgends und könnte ihnen nicht zu einem Muster dienen, das sie nachahmen, und dem sie durch wiederholte Versuche mehr und mehr sich annähern könnten. Es ist kein Grund vorhanden, dass die Töne einer Pfeife in ihrem Gehirn Spuren zurücklassen sollten, welche nicht sogleich, sondern nach späterem Versuchen, die gleichen Töne hervorbrächten, und es wäre dann unbegreiflich, weshalb die eigenen Töne der Vögel nicht Spuren zurücklassen sollten, denen sie ebenso zu folgen hätten, wie den Tönen der Pfeife.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 152-158.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die geschwätzigen Kleinode oder die Verräter. (Les Bijoux indiscrets)

Die geschwätzigen Kleinode oder die Verräter. (Les Bijoux indiscrets)

Die frivole Erzählung schildert die skandalösen Bekenntnisse der Damen am Hofe des gelangweilten Sultans Mangogul, der sie mit seinem Zauberring zur unfreiwilligen Preisgabe ihrer Liebesabenteuer nötigt.

180 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon