Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Von den Beziehungen

[336] § 1. (Was Beziehung ist.) Ausser den einfachen und zusammengesetzten Vorstellungen, welche die Seele von den Dingen an sich selbst hat, giebt es andere, welche sie aus deren Vergleichung mit einander erlangt. Der Verstand ist bei Betrachtung eines Dinges nicht auf dasselbe streng beschränkt; er kann jede Vorstellung gleichsam über sie hinaus führen oder er kann wenigstens über sie hinaus blicken, um zu sehen, wie sie mit andern übereinkommt. Wenn die Seele in dieser Weise ein Ding betrachtet und dasselbe gleichsam zu einem andern trägt und daneben, stellt und ihren Blick von dem einen zu dem andern wendet, so ist dies, wie das Wort andeutet, das Beziehen oder Berücksichtigen, und die Worte, die man den seienden Dingen giebt, um diese Rücksicht anzuzeigen[336] und als Mittel zu dienen, was die Gedanken über das eine hinaus zu einem andern leitet, heissen Beziehungen und die so behandelten Dinge bezogene. Wenn die Seele z.B. den Cajus als ein solches seiendes Ding nimmt, so nimmt sie nichts in ihrer Vorstellung, was nicht in Cajus wirklich besteht; wenn ich ihn z.B. als einen Menschen betrachte, so habe ich nur die zusammengesetzte Vorstellung von der Gattung: Mensch; und wenn ich den Cajus einen weissen Menschen nenne, so denke ich nur an einen Menschen mit solcher weissen Farbe. Gebe ich aber dem Cajus den Namen: Gatte, so deute ich auf eine andere Person, und nenne ich ihn weisser, so deute ich auf ein anderes Ding; in beiden Fällen geht das Denken zu Etwas über Cajus hinaus und es werden zwei Dinge dabei in Betracht gezogen. Jede Vorstellung, die einfachen wie die zusammengesetzten, kann die Seele veranlassen, so zwei Dinge zusammenzubringen und sie gleichsam in Einem zu überblicken, obgleich sie als verschieden gelten; deshalb kann jede Vorstellung die Grundlage zu einer Beziehung abgeben. So ist in dem obigen Beispiel der Heirathsvertrag und die Trauung mit der Sempronia der Anlass, den Cajus Gatte zu nennen und so zu beziehen, und die weisse Farbe der Anlass, dass er weisser als Sandstein genannt wird.

§ 2. (Beziehungen werden ohne bezügliche Worte nicht leicht bemerkt.) Wenn diese und andere Beziehungen durch bezügliche Worte ausgedrückt werden, denen andere Worte entsprechen, und die so gegenseitig auf einander deuten, wie z.B.: Vater und Sohn, dicker und dünner, Ursache und Wirkung, so sind sie Jedermann verständlich, und man bemerkt sogleich die Beziehung. Vater und Sohn, Mann und Frau und andere dergleichen Beziehungen gehören so eng zu einander, harmoniren und entsprechen durch Gewohnheit so leicht einander im Gedächtniss, dass bei dem einen Wort das Denken sofort über das bezeichnete Ding hinausgeht und dass Niemand die Beziehung übersieht oder bezweifelt, wenn sie so deutlich angedeutet wird. Wo aber die Sprache keine solche bezügliche tarnen gebildet hat, wird die Beziehung nicht immer so leicht bemerkt. Die Beischläferin ist ebenso wie die Gattin ein bezügliches Wort, allein wo in der Sprache das entsprechende andere fehlt,[337] wird es nicht leicht so aufgefasst, weil ihm das klare Zeichen der zwischen den bezüglichen Dingen bestehenden Beziehung fehlt, wo eins das andere erklärt und beide nur gemeinsam bestehen zu können scheinen. Deshalb sind manche Worte, die näher betrachtet offenbar Beziehungen enthalten, als äusserliche Bezeichnungen genommen worden. Allein jedes Wort, das mehr als ein leerer Schall ist, muss eine Vorstellung bezeichnen, die entweder in dem betreffenden Dinge ist, wo sie dann als bejahend und als verbunden und in dem Dinge enthalten gut, oder das Wort entspringt aus einer Beziehung, welche die Seele zwischen diesem und einem andern Dinge bemerkt, und dann schliesst es eine Beziehung ein.

§ 3. (Manche anscheinend selbstständige Worte enthalten Beziehungen.) Andere bezügliche Worte nimmt man weder als Beziehungen noch als äusserliche Benennungen; allein unter dem Schein, als bezeichneten sie etwas Selbstständiges in dem Gegenstand, verhüllen sie doch stillschweigend eine, wenn auch weniger bemerkbare Beziehung. Der Art sind die anscheinend bejahenden Worte: alt, gross, unvollkommen u.s.w., von denen ich in dem folgenden Kapitel mehr sagen werde.

§ 4. (Die Beziehungen sind von den bezogenen Dingen verschieden.) Man beachte weiter, dass zwei Menschen dieselbe Beziehungs-Vorstellung und doch sehr verschiedene Vorstellungen von den so bezogenen oder verglichenen Dingen haben können; so können sie trotz verschiedener Vorstellungen über den Menschen, doch in dem Begriff des Vaters übereinstimmen, da dieser Begriff der Substanz oder dem Menschen nur übergezogen wird und sich nur auf eine Handlung des »Mensch« genannten Dinges bezieht, wodurch er ein Wesen seines Gleichen hervorbringen hilft, mag der Mensch an sich sein, was er will.

§ 5. (Man kann die Beziehungen wechseln, ohne die bezogenen Dinge zu wechseln.) Das Wesen der Beziehung liegt also in dem Berücksichtigen und Vergleichen zweier Dinge, wobei das eine oder beide nach dieser Vergleichung benannt werden. Hört eines dieser beiden auf oder wird es entfernt, so hört die Beziehung auf und ebenso auch die entsprechende Benennung, wenn auch das andere Ding an sich keine Veränderung[338] erleidet. So hört der heute als Vater geltende Cajus morgen als Vater auf, wenn sein Sohn stirbt, obgleich er selbst keine Veränderung erlitten hat. Deshalb kann durch die blosse Veränderung des Gegenstandes, mit dem im Denken die Vergleichung geschieht, dasselbe Ding entgegengesetzte Bezeichnungen gleichzeitig erhalten; wird z.B. Cajus mit mehreren Personen verglichen, so kann er in Wahrheit jünger und älter, stärker und auch schwächer u.s.w. genannt werden.

§ 6. (Die Beziehung besteht nur zwischen zwei Dingen.) Alles, was als ein Ding bestehen oder aufgefasst werden kann, ist bejahend; deshalb sind nicht blos einfache Vorstellungen und Substanzen, sondern auch Eigenschaften bejahende Dinge, wenn auch ihre Theile sich oft auf einander beziehen; allein das Ganze als ein Ding aufgefasst, erweckt in uns die zusammengesetzte Vorstellung eines Dinges, welche Vorstellung gleich einem Gemälde in der Seele besteht und trotz seiner Ansammlung vieler Theile doch ein, mit einem Namen bezeichnetes bejahtes und selbstständiges Ding oder solche Vorstellung ist. So ist das Dreieck als Ganzes eine bejahte und beziehungslose Vorstellung, wenn auch seine Theile durch die Vergleichung unter einander bezüglich werden. Dasselbe gilt von der »Familie«, dem »Ton« u.s.w.; denn nur wo zwei Dinge als zwei betrachtet werden, ist eine Beziehung möglich. Es müssen immer zwei Vorstellungen oder Dinge zur Beziehung gehören, die entweder wirklich besondere sind oder als solche vorgestellt werden, und daneben ein Grund oder ein Anlass zu ihrer Vergleichung.

§ 7. (Alles kann bezogen werden.) Rücksichtlich der Beziehung überhaupt ist Folgendes zu bemerken:

Erstens giebt es kein Ding, sei es einfache Vorstellung, Substanz, Eigenschaft oder Beziehung oder ein Wort davon, was nicht unzähliger Auffassungen in Beziehung zu andern Dingen fähig wäre; deshalb bilden die Beziehungen einen grossen Theil der Gedanken und Reden der Menschen. So kann ein einzelner Mensch bei allen folgenden Beziehungen und noch mehreren betheiligt sein, wie: Vater, Bruder, Sohn, Grossvater, Enkel, Schwiegervater, Schwiegersohn, Gatte, Freund, Feind, Subjekt, General, Richter, Beschützer, Beschützter, Professor, Europäer,[339] Engländer, Insulaner, Diener, Herr, Besitzer, Kapitain, Vorgesetzter, Unterbeamter, stärker, schwächer, älter, jünger, Zeitgenosse, gleich, ungleich u.s.w., beinah ohne Ende; da er so vieler Beziehungen fähig ist, als Anlass zur Vergleichung seiner mit andern Dingen nach Uebereinstimmung oder Unterschied oder sonst einer Rücksicht vorhanden ist. Denn das Beziehen ist wie gesagt nur eine Art Vergleichen und Betrachten von zwei Dingen zusammen, wo beide oder eines da nach benannt werden und auch die Beziehung selbst oft einen Namen erhält.

§ 8. (Die Beziehungs-Vorstellung ist oft klarer als die der Dinge selbst.) Zweitens sind zwar die Beziehungen nicht in dem wirklichen Sein der Dinge enthalten, sondern etwas von aussen Kommendes und darüber Gezogenes; aber dennoch sind die Beziehungsvorstellungen oft klarer und bestimmter, als die damit bezogenen Substanzen. So ist der Begriff des Vaters oder des Bruders viel klarer und bestimmter als der des Menschen, und von der Vaterschaft kann man leichter eine klare Vorstellung erlangen als von der Menschennatur, und ich begreife viel eher, was ein Freund, als was Gott ist; denn oft genügt die Kenntniss einer Thätigkeit oder einer einfachen Vorstellung, um die Beziehungsvorstellung zu gewähren, während zur Kenntniss einer Substanz eine sorgfältige Sammlung verschiedener Vorstellungen nöthig ist. Vergleicht man zwei Dinge, so muss man das, worin man sie vergleicht, kennen, und deshalb muss man bei solcher Vergleichung eine klare Vorstellung dieser Beziehung haben. Deshalb können wenigstens die Beziehungsvorstellungen vollkommener und klarer als die der Substanzen sein. Es ist meist schwer, alle in einer Substanz wirklich enthaltenen einzelnen Vorstellungen zu kennen, aber wohl kann man in der Regel die einfache Vorstellung kennen, welche zu einer Beziehung gehört oder danach genannt ist. Wenn ich so zwei Menschen auf ihren gemeinsamen Vater beziehe, so kann ich leicht die Vorstellung der Brüder bilden, ohne dass ich noch die volle Vorstellung des Menschen habe. Denn die bezüglichen Worte drücken ebenso, wie alle andern, nur Vorstellungen aus, und da diese entweder einfach oder aus einfachen gebildet sind, so genügt zur[340] genauen Kenntniss der Vorstellung, welche das beziehende Wort bezeichnet, die klare Vorstellung von der Grundlage der Beziehung. Dies kann Statt haben, ohne dass man eine klare und vollkommene Vorstellung von dem Dinge selbst hat, dem sie beigelegt wird. Wenn ich so den Begriff habe, dass das eine Ding das Ei gelegt hat, woraus das andere Ding ausgekrochen ist, so habe ich eine klare Vorstellung von der Beziehung zwischen der Henne und ihren Hühnchen in Bezug auf die beiden Kakadu's in St. James Park, obgleich ich von diesen Vögeln selbst nur eine dunkele und unvollständige Vorstellung habe.

§ 9. (Alle Beziehungen laufen auf einfache Vorstellungen hinaus.) Drittens ist zwar die Zahl der Auffassungen, wonach Dinge mit einander verglichen werden können, gross, und giebt es deshalb eine Menge von Beziehungen; allein sie enden oder betreffen sämmtlich die einfachen Vorstellungen aus der Sinnes- und Selbstwahrnemung, welche den ganzen Stoff unsers Wissens bilden. Um dies deutlicher zu machen, werde ich es an den wichtigsten Beziehungen, von denen wir einen Begriff haben, und ebenso an einigen, die von der Sinnes- und Selbstwahrnehmung scheinbar am meisten entfernt sind, darlegen. Dabei wird sich zeigen, dass auch diese Vorstellungen daher entspringen, und dass deren Begriffe nur gewisse einfache Vorstellungen und daher aus der Sinnes- und Selbstwahrnehmung abgeleitet sind.

§ 10. (Worte, welche die Seele über den bezeichneten Gegenstand hinausführen, sind bezügliche.) Viertens erhellt, dass, da das Beziehen nur das Betrachten eines Dinges mit einem andern ist, das ausserhalb seiner ist, alle Worte, welche die Seele zu andern, als den in dem bezeichneten Dinge wirklich enthaltenen Vorstellungen führen, bezügliche Worte sind. So sind z.B. die Worte: ein lustiger, strenger, gedankenvoller, durstiger, zorniger, grosser Mensch sämmtlich beziehungslos; denn sie bezeichnen und deuten nur das an, was wirklich in dem so bezeichneten Menschen besteht; dagegen befassen die Worte: Vater, Bruder, König, Gatte, schwärzer, lustiger u.s.w. neben dem bezeichneten Dinge noch ein anderes Besondere, was neben jenem besteht.

§ 11. (Schluss.) Nachdem ich so diese Grundsätze in Betreff der Beziehungen im Allgemeinen festgestellt[341] habe, werde ich an einigen Beispielen zeigen, wie alle Vorstellungen von Beziehungen ebenso wie andere Vorstellungen aus einfachen Vorstellungen gebildet werden, und dass sie alle darauf hinauslaufen, wenn sie auch noch so fein und den Sinnen fern zu stehen scheinen. Ich beginne mit der umfassendsten Beziehung, unter welche alle vorhandenen und möglichen Dinge befasst werden können, nämlich mit der Beziehung von Ursache und Wirkung. Ich werde im nächsten Kapitel darlegen, wie deren Vorstellung sich aus den beiden Quellen all unseres Wissens, aus der Sinnes- und Selbstwahrnehmung, ableitet.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 336-342.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1

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