Reflex, Instinkt, Wille, Ich.

[50] 1. Bevor wir unsere psycho-physiologischen Betrachtungen fortsetzen, bemerken wir, daß keine der Einzelwissenschaften, deren wir bedürfen, den wünschenswerten Grad der Entwicklung erreicht hat, um als sichere Grundlage für die andern zu gelten. Die beobachtende Psychologie bedarf gar sehr der Stütze der Physiologie oder Biologie. Letztere kann aber von physikalisch-chemischer Seite gegenwärtig nur sehr unvollkommen aufgeklärt werden. Unter diesen Umständen sind alle unsere Überlegungen nur als vorläufige, und deren Ergebnisse als problematische, durch künftige Untersuchungen vielfach zu korrigierende, anzusehen. Das Leben besteht aus Vorgängen, welche sich tatsächlich erhalten, fort und fort wiederholen und ausbreiten, d.h. successive größere Quantitäten von »Materie« in ihr Bereich ziehen. Die Lebensvorgänge gleichen also einem Brand, mit dem sie auch sonst verwandt, wenn auch nicht so einfach sind. Die meisten physikalisch-chemischen Prozesse hingegen kommen, wenn sie nicht durch besondere äußere Umstände immer wieder von neuem hervorgerufen oder im Gang erhalten werden, sehr bald zu einem Stillstand. Abgesehen von diesem Hauptunterschied im Charakter, weiß die heutige Physik und Chemie auch den Einzelheiten des Lebensprozesses nur sehr unvollkommen zu folgen. Dem Hauptzug der Selbsterhaltung entsprechend müssen wir erwarten, daß die Teile eines komplizierteren Organismus, einer Symbiose von Organen, auf die Erhaltung des Ganzen abgestimmt sein werden, welche ja sonst sich nicht ergeben könnte. Und auch an den psychischen Vorgängen, die jenen Teil der Lebensvorgänge vorstellen, welche sich im Großhirn abspielen, die somit ins Bewußtsein reichen, wird[50] uns diese Richtung auf Erhaltung des Organismus nicht überraschen können.

2. Betrachten wir zunächst einige Tatsachen, welche Goltz45 genau studiert hat. Ein gesunder unverletzter Frosch benimmt sich derart, daß man demselben eine gewisse »Intelligenz« und »willkürliche« Bewegung zuschreiben muß. Er bewegt sich aus eigenem Antrieb in unberechenbarer Weise, entflieht dem Feinde, sucht einen neuen Sumpf auf, wenn der alte vertrocknet, entweicht eingefangen durch eine Lücke des Behälters u.s.w. Die Intelligenz ist allerdings nach menschlichem Maß eine sehr beschränkte. Der Frosch schnappt sehr geschickt nach sich bewegenden Fliegen, gelegentlich aber auch nach einem Stückchen roten Tuches und wiederholt erfolglos auch etwa nach den Fühlhörnern einer Schnecke, verhungert aber lieber, statt frisch getötete Fliegen anzunehmen. Das Benehmen des Frosches ist eng begrenzten Lebensumständen angepaßt. Wird der Frosch des Großhirns beraubt, so bewegt er sich nur mehr auf einen äußeren Anlaß. Ohne denselben sitzt er ruhig da. Er schnappt nicht nach Fliegen, nicht nach dem roten Tuch und reagiert nicht auf Knall. Eine über ihn kriechende Fliege streift er bloß ab. Die in das Maul gebrachte Fliege verschluckt er jedoch. Auf schwachen Hautreiz kriecht er fort, durch starken wird er zu einem Sprunge veranlaßt, wobei er Hindernissen ausweicht, die er also sieht. Wird ein Bein festgenäht, so gelingt es ihm dennoch, das Hindernis kriechend zu vermeiden. Der Frosch ohne Großhirn kompensiert die Drehung, die ihm auf einer horizontalen Drehscheibe erteilt wird. Setzt man ihn auf ein Brett, das man vorn hebt, so kriecht er hinan, um nicht hinabzufallen, und überkriecht sogar die obere Kante, wenn das Brett noch in demselben Sinne weiter gedreht wird. Unverletzte Frösche springen bei diesem Versuch davon. So wird das, was man Seele oder Intelligenz nennen könnte, durch Abtragung von Hirnteilen auf eine kleinere Sphäre eingeschränkt. Der Frosch mit bloßem Rückenmark, auf den Rücken gelegt, weiß sich nicht aufzurichten. Die Seele – sagt Goltzist nichts Einfaches; sie ist teilbar, wie deren Organ.

Ein Frosch ohne Großhirn quakt nie spontan. Streicht man[51] aber demselben einmal mit dem feuchten Finger über die Rückenhaut zwischen den Armen, so quakt er ganz regelmäßig reflektorisch einmal. Er verhält sich wie ein Mechanismus. Daß geköpfte Frösche die aufgetropfte Säure mit den Hinterbeinen ganz mechanisch abwischen, ist schon nach älteren Versuchen bekannt. Solche Reflexmechanismen sind für die Lebensführung von Bedeutung. Wie vielfach wichtige Lebensfunktionen, wie die Begattung der Frösche, durch diese Mechanismen gesichert sind, hat Goltz durch ausführliche Untersuchungen gezeigt.46

3. Wenden wir unsere Betrachtung gleich anderen Lebewesen zu, welchen wohl, wenigstens instinktiv, niemand Intelligenz und Willen zuschreibt – den Pflanzen. Auch hier finden wir zweckmäßige, die Erhaltung des Ganzen fördernde Bewegungsreaktionen. Unter diesen fallen uns zunächst auf die durch Licht und Temperatur bestimmten Schlafbewegungen der Blätter und Blüten, die durch Erschütterungen ausgelösten Reizbewegungen der insektenfressenden Pflanzen. Solche Bewegungen könnten aber als Ausnahmen erscheinen. Ein allgemeines Verhalten liegt dagegen darin, daß der Stamm der Pflanzen der Schwere entgegen nach oben wächst, wo Licht und Luft ihm die Assimilation ermöglichen, während die Wurzel, das Wasser und die darin gelösten Stoffe aufsuchend, nach unten in den Boden eindringt. Wird ein Teil des Stammes aus seiner vertikalen Richtung gebracht, so krümmen sich die noch im Wachstum befindlichen Teile desselben sofort aufwärts, kehren ihre konvexe Seite der Erde zu, indem die unteren Teile stärker wachsen als die oberen. Hierin spricht sich der »negative Geotropismus« des Stammes aus, im Gegensatze zu dem umgekehrten Verhalten der Wurzel, die wir als »positiv geotropisch« bezeichnen. Der Stamm wendet sich in der Regel dem Lichte zu, wobei die noch wachsenden Teile desselben die konvexe Seite dem Dunkeln zuwenden, also an der beschatteten Seite stärker wachsen. Wir nennen den sich so verhaltenden Stamm »positiv heliotropisch«, während die Wurzel in der Regel das entgegengesetzte »negativ heliotropische« Verhalten zeigt. Nach älteren und neueren Untersuchungen (Knight, J. v. Sachs) kann kein[52] Zweifel bestehen, daß die Richtung der Massenbeschleunigung (der Schwere) und die Richtung des Lichtes das geotropische, bezw. heliotropische Verhalten bestimmt. Das entgegengesetzte Verhalten von Stamm und Wurzel deutet auf Teilung der Arbeit im Interesse des Ganzen. Sehen wir die Wurzel steinzerklüftend in die Tiefe dringen, so können wir noch glauben, daß sie dies im eigenen Interesse tut. Dieser Eindruck verschwindet aber, wenn wir die Wurzel auch im Quecksilber, wo sie nichts zu suchen hat, abwärts dringen sehen. Die Vorstellung absichtlicher Zweckmäßigkeit muß hier weichen und jener eines physikalisch-chemisch bestimmten Geschehens Platz machen. Die bestimmenden Umstände müssen wir aber aus der Verbindung von Wurzel und Stamm zu einem Ganzen hervorgehend denken.47

4. J. Loeb48 hat in einer Reihe von Arbeiten nachgewiesen, daß sich die Begriffe: Geotropismus, Heliotropismus u.s.w., welche sich auf dem Gebiete der Pflanzenphysiologie ergeben haben, auf die Tierphysiologie übertragen lassen. Selbstverständlich werden sich die betreffenden Erscheinungen dort am einfachsten und klarsten äußern, wo die Tiere unter so einfachen Verhältnissen leben, daß ein hoch entwickeltes psychisches Leben noch unnötig ist und daher nicht störend eingreifen kann. Der eben aus der Puppe geschlüpfte Schmetterling kriecht aufwärts und orientiert sich an der vertikalen Wand, welche er mit Vorliebe wählt, mit dem Kopfe nach oben. Eben ausgeschlüpfte Räupchen kriechen rastlos nach oben. Will man eine Eprouvette mit solchen Räupchen entleeren, so muß man dieselbe, wie ein Gefäß mit Wasserstoff, mit der Mündung nach oben kehren. Küchenschaben suchen mit Vorliebe vertikale Wände auf. Stubenfliegen, deren Schwingkolben oder Flügel man abgeschnitten hat, kriechen an einem vertikalen Brett vertikal aufwärts. Dreht man während dessen das Brett in seiner Ebene, so kompensiert die Fliege jede Drehung. Auf einem schiefen Brett kriecht sie[53] nach der Richtung der steilsten Linie aufwärts. Auch hoch entwickelte Tiere werden von der Richtung der Schwere beeinflußt, sind geotropisch, wie die neueren Untersuchungen über das Ohrlabyrinth und dessen Bedeutung für die Orientierung lehren; nur werden diese Erscheinungen durch das Eingreifen mannigfaltiger anderer überdeckt.

Ähnlich verhält es sich mit dem Heliotropismus. Wie bei den Pflanzen ist auch bei den Tieren die Richtung des Lichtes maßgebend. Unsymmetrische Reizung durch das Licht bewirkt Änderung der Orientierung des Tieres, welche mit der Einstellung der Lichtrichtung in die Symmetrieebene zur Ruhe kommt. Nun wendet das Tier entweder den oralen oder den aboralen Pol dem Lichte zu und bewegt sich entweder dem Lichte zu oder von diesem weg; es ist positiv oder negativ heliotropisch. Die Motte ist positiv, der Regenwurm, die Muscidenlarve ist negativ heliotropisch. Wenn eine positiv heliotropische Larve auf einer Ebene sich bewegt, so kriecht sie nach der Komponente der Lichtrichtung, welche in diese Ebene entfällt. Indem sie so dem einfallenden Lichte entgegen sich bewegt, kann sie ganz wohl von einer helleren in eine weniger helle Beleuchtung kommen. Ohne in weitere Einzelheiten einzugehen, bemerken wir, daß in Bezug auf die Tropismen volle Übereinstimmung zwischen den Ergebnissen der pflanzenphysiologischen Studien von J. v. Sachs und jenen der tierphysiologischen Versuche von Loeb besteht.49

5. In neuester Zeit hat sich in Bezug auf die Auffassung der Insekten ein starker Gegensatz herausgebildet. Manche Forscher wollen dieselben als reine Reflexmaschinen ansehen, während andere ihnen ein reiches psychisches Leben zuschreiben. Dieser Gegensatz beruht auf der Abneigung gegen bezw. Neigung für das Mystische, indem man, alles Psychische für ein Mystisches haltend, dieses womöglich ganz zu beseitigen oder zu retten strebt. Auf unserem Standpunkte ist das Psychische nicht mehr und nicht weniger rätselhaft als das Physische und überhaupt von letzterem nicht wesentlich verschieden. Wir haben daher gar keinen Grund, in dieser Frage parteiisch zu sein, und nehmen[54] eine neutrale Stellung ein, die etwa jener von A. Forel50 entspricht. Wenn wir z.B. eine Spinne sehr oft durch Berührung ihres Netzes mit einer schwingenden Stimmgabel irre führen können, so beweist dies die Stärke ihres Reflexmechanismus. Wenn sie aber endlich dennoch den Betrug merkt und nicht mehr erscheint, so dürfen wir ihr doch Erinnerung nicht mehr absprechen. Die am halb offenen Fenster ratlos an der Glasscheibe summenden, dem Licht und der Luft zustrebenden Stallfliegen, welche dennoch durch den schmalen Rahmen der Glasscheibe verhindert werden, ihren Weg hinaus zu finden, machen in der Tat den Eindruck von Automaten. Wenn aber ein denselben so nahestehendes Wesen, wie die grazilere Stubenfliege, sich weitaus klüger benimmt, so müssen wir doch bei beiden, wenn auch in geringem Grade, die Fähigkeit voraussetzen, bescheidene Erfahrungen zu machen. So scheinen mir der topochemische Geruchsinn der Ameisen und das topochemische Gedächtnis, welches ihnen Forel zuschreibt, doch glücklichere Annahmen, als die polarisierte Geruchsspur Bethes.51 Forel will sogar einen Wasserkäfer, der sonst nur im Wasser frißt, zum Fressen außer dem Wasser dressiert haben. Der kann also kein reiner Automat im gewöhnlichen engeren Sinne sein. Die Unterscheidung und das Gedächtnis für Farbe und Geschmack bei Wespen und Bienen hat Forel in den zitierten Schriften nachgewiesen.

6. Es ist nicht wertlos, die großen gemeinsamen Züge des organischen Lebens durch die Tier- und Pflanzenwelt zu verfolgen. Bei den Pflanzen ist alles einfacher, der Untersuchung zugänglicher, für die Beobachtung offen daliegend und geht langsamer vor sich. Was wir am Tier als Bewegung, Instinktäußerung,[55] Willkürhandlung wahrnehmen, tritt uns bei den Pflanzen als Wachstumserscheinung in einer Folge von Formen entgegen oder erscheint in den Gestalten der Blätter, Blüten, Früchte, Samen für die dauernde Betrachtung fixiert. Der Unterschied liegt auch großenteils nur in unserem subjektiven Zeitmaß. Denken wir uns die langsamen Bewegungen des Chamäleons noch weiter verlangsamt, hingegen die langsamen Greifbewegungen der Lianen sehr beschleunigt,52 so verwischt sich für den Beobachter durch beide Prozeduren der Unterschied zwischen den tierischen Bewegungen und den pflanzlichen Wachstumserscheinungen ganz bedeutend. Die Versuchung, Vorgänge der Pflanzenwelt psychologisch zu interpretieren, ist nur sehr gering, dagegen der Trieb, dieselben physikalisch aufzufassen, desto stärker. Bei Betrachtung der Tiere verhält es sich gerade umgekehrt. Bei der engen Verwandtschaft beider Erscheinungsgebiete ist aber der Wechsel dieser verschiedenen Betrachtungsweisen sehr lehrreich und ergiebig. Endlich ist auch die Wechselbeziehung von Pflanzen und Tieren, sowohl in chemisch-physikalischer als in morphologisch-biologischer Beziehung unerschöpflich reich an Anregungen. Man denke z.B. an die von Sprengel 1787 entdeckten, von Darwin in seinem Orchideenwerk zu neuem Leben erweckten Entdeckungen der gegenseitigen Anpassung von Blüten und Insekten.53 Hier sind es scheinbar voneinander unabhängige Lebewesen, welche dennoch in ihren Lebensäußerungen fast ebenso durcheinander bestimmt und aufeinander angewiesen sind, wie die Teile eines Tier- oder Pflanzenkörpers aufeinander.

7. Die Bewegungen, welche auf bestimmte Reize hin, ohne Mitwirkung des Großhirns, eintreten, nennen wir Reflexbewegungen. Dieselben sind durch die Verbindung der Organe und deren Stimmung vorbereitet. Die Tiere führen auch recht komplizierte Verrichtungen aus, die ein bestimmtes Ziel, einen Zweck anzustreben scheinen, dessen Kenntnis oder absichtliche Verfolgung wir aber denselben unmöglich zutrauen können. Wir nennen diese Verrichtungen Instinkthandlungen. Solche Instinkthandlungen[56] lassen sich am besten als eine Kette von Reflexbewegungen verstehen, von denen jedes folgende Glied durch das vorausgehende ausgelöst wird.54 Ein einfacher Fall dieser Art ist folgender. Der Frosch schnappt nach einer ihn umsummenden Fliege und verschluckt sie. Daß hier der erste Akt durch den optischen oder akustischen Reiz ausgelöst wird, liegt auf der Hand. Daß das Schlingen aber eine Folge des Schnappens ist, folgern wir, weil der Frosch ohne Großhirn, welcher nicht mehr schnappt, doch die Fliege verschlingt, sobald sie ihm ins Maul gesteckt wird. Ähnlich verhalten sich junge Nestvögel, welche ihre Nahrung noch nicht aufzunehmen wissen. Beim plötzlichen Herannahen ihrer Pfleger sperren sie aber schreiend, vielleicht auch erschreckt, den Schnabel auf und verschlingen die eingebrachte Nahrung. Das Picken und Schnappen kommt erst später hinzu. Das Sammeln der Wintervorräte durch den Hamster wird vielleicht verständlich, wenn man bedenkt, daß man es hier mit einem sehr gefräßigen, unverträglichen und zugleich scheuen Tier zu tun hat, das mehr aufnimmt als es verzehren kann und verscheucht den Überfluß in seinem Schlupfwinkel wieder ablegt. Die wiederholte Instinkthandlung, etwa im nächsten Jahr, brauchen wir nicht mehr als unbeeinflußt vom individuellen Gedächtnis aufzufassen. Im Gegenteil kann bei höherer psychischer Entwicklung die Instinkthandlung unter dem Einfluß des Intellektes modifiziert oder sogar die Wiederholung durch den Intellekt hervorgerufen werden.55 Nach dem Prinzip der Kettenreflexe[57] wird man wohl auch äußerst komplizierte Instinkthandlungen dem Verständnis näher bringen können. Bedenken wir, daß ein Instinkt die Erhaltung der Art sichert, wenn derselbe nur in der Mehrzahl der Fälle (also wahrscheinlich) zum Ziele führt, so werden wir nicht nötig haben, die Form des Instinktes im ganzen und in den einzelnen Gliedern für genau bestimmt und absolut unveränderlich zu halten. Vielmehr werden wir den Eintritt von Variationen desselben, welche durch zufällige Umstände bedingt sind, erwarten, sowohl bei der Art im Laufe der Zeit, als auch bei gleichzeitigen Individuen derselben Art.56

8. Das einige Monate alte Kind greift nach allem, was seine Sinne reizt und führt das Ergriffene in der Regel in den Mund, so wie das Hühnchen nach allem pickt. Es greift auch ebenso reflektorisch nach einer etwa durch eine Fliege gereizten Hautstelle, wie dies der Frosch tut. Der Reflexmechanismus ist nur bei dem neugeborenen Kinde noch weniger reif und entwickelt, als bei den genannten Tieren. Aber die unwillkürlich eintretenden Bewegungen unserer Glieder sind ebenso mit Empfindungen und zwar mit optischen und haptischen Empfindungen verknüpft, wie die Vorgänge in unserer Umgebung; sie hinterlassen Erinnerungsspuren, optische und haptische Bewegungsbilder. Diese Erinnerungsspuren der Bewegungen verknüpfen sich associativ mit andern zugleich auftretenden angenehmen oder unangenehmen Empfindungen. Wir merken uns, daß Lecken am Zucker mit der Empfindung »süß«, Greifen in die Flamme oder Stoßen gegen einen harten Körper oder gegen den eigenen Leib57 mit »Schmerzempfindung« verknüpft ist. So sammeln wir Erfahrungen sowohl[58] über die Vorgänge in unserer Umgebung, als auch über die Vorgänge in unserem Leibe, insbesondere über dessen Bewegungen. Die letzteren Vorgänge stehen uns am nächsten, sind für uns am wichtigsten und bieten sich der Beobachtung fortwährend dar. Es ist also natürlich, daß uns diese Erfahrungen schnell am geläufigsten werden. Ein Kind hat reflektorisch ein Stück Zucker ergriffen und in den Mund geführt, ein andres Mal aber nach einer Flamme gegriffen und ebenso reflektorisch die Hand zurückgezogen. Wenn das Kind später wieder den Zucker oder die Flamme erblickt, so ist dessen Verhalten schon durch die Erinnerung modifiziert. Im ersteren Falle wird die Greifbewegung gefördert, im zweiten durch die Erinnerung an den Schmerz gehemmt. Die Schmerzerinnerung wirkt nämlich ganz ähnlich wie der Schmerz selbst und erregt die zur Greifbewegung entgegengesetzte Bewegung. Die »willkürliche« Bewegung ist eine durch die Erinnerung beeinflußte Reflexbewegung. Wir können keine willkürliche Bewegung ausführen, welche nicht als Ganzes oder in ihren Teilen schon als Reflexbewegung oder Instinkthandlung aufgetreten und von uns als solche wäre erfahren worden. Wenn wir uns bei Bewegungen beobachten, merken wir, daß wir uns einer vorher schon ausgeführten Bewegung lebhaft erinnern und daß hierbei diese Bewegung wirklich erfolgt. Genauer gesagt: wir stellen uns den zu ergreifenden oder zu beseitigenden Körper, also auch dessen Ort und die optischen und haptischen Empfindungen beim Greifen dahin vor, welche Vorstellungen die Bewegung selbst sofort nach sich ziehen. Sehr geläufige Bewegungen kommen uns jedoch kaum mehr als besondere Vorstellungen zum Bewußtsein. Indem wir an den Laut eines Wortes denken, ist es schon ausgesprochen, indem wir das Schriftbild desselben uns vorstellen, ist es schon geschrieben, ohne daß uns die vermittelnden Sprach- und Schreibbewegungen deutlich vorgeschwebt hätten. Die lebhafte Vorstellung des Zieles oder Ergebnisses einer Bewegung löst hier in rascher Folge eine Reihe psycho-physiologischer Vorgänge aus, welche in der Bewegung selbst endigt.

9. Was wir Willen nennen, ist nur eine besondere Form des Eingreifens der temporär erworbenen Associationen in den voraus gebildeten festen Mechanismus des Leibes. Unter einfachen[59] Lebensumständen genügt der angeborene Mechanismus des Leibes fast allein, um die Zusammenwirkung der Teile zur Erhaltung des Lebens zu sichern. Bei größerer zeitlicher und räumlicher Variation der Lebensumstände sind aber die Reflexmechanismen nicht mehr zureichend. Ein gewisser Spielraum ihrer Funktion und eine gewisse Modifikation von Fall zu Fall wird nötig. Diese immerhin geringe Modifikation besorgt nun die Association, in welcher die relative Stabilität, die begrenzte Variation der Lebensumstände zum Ausdruck kommt. Die Modifikation der Reflexvorgänge, welche durch die im Bewußtsein auftretenden Erinnerungsspuren bestimmt ist, nennen wir Willen. Ohne Reflex und Instinkt gibt es auch keine Nuancierung derselben, keinen Willen. Erstere bleiben immer der Kern der Lebensäußerungen. Nur wo diese zur Lebenserhaltung nicht mehr ausreichen, tritt die Modifikation, ja auch die zeitweilige Unterdrückung dieser natürlichen Akte ein, und es wird auf einem oft langen Umwege erreicht, was unmittelbar nicht erlangt werden konnte. Ein solcher Fall ist es, wenn ein Tier eine Beute mit List anschleicht und im Sprunge hascht, die eben nicht anders zu gewinnen ist, wenn der Mensch Hütten baut und Feuer macht, um sich gegen Kältegrade zu schützen, die er vermöge seiner bloßen Organisation nicht mehr ertragen kann. Was der Mensch in seinem Vorstellungsleben und demnach auch im Handeln vor dem Tier, der kultivierte Mensch vor dem unkultivierten voraus hat, ist nur die Länge des Umweges zu demselben Ziel, die Fähigkeit, solche Umwege aufzufinden und einzuschlagen. Die ganze technische und wissenschaftliche Kultur kann als ein solcher Umweg angesehen werden. Wächst nun auch im Dienste der Kultur die Kraft des Intellektes (des Vorstellungslebens) so, daß dieser sich endlich seine eigenen Bedürfnisse schafft und die Wissenschaft um ihrer selbst willen treibt, so sieht man doch, daß diese Erscheinung nur ein Produkt der sozialen Kultur sein kann, welche eine so weit gehende Teilung der Arbeit ermöglicht. Außerhalb der Gesellschaft wäre der in seine Gedanken ganz vertiefte Forscher eine biologisch unhaltbare pathologische Erscheinung.

10. Joh. Müller58 hat noch als möglich angenommen, daß[60] die Bewegungsimpulse, Innervationen, welche vom Hirn aus zu den Muskeln abgehen, unmittelbar als solche empfunden werden, ebenso wie die peripherischen Nervenerregungen, sich zum Hirn fortpflanzend, Empfindungen bedingen. Diese Ansicht, welche bis in die neuere Zeit noch vertreten wurde, hat sich, gegenüber dem genaueren Studium der Willensfrage, von psychologischer Seite vorzüglich durch W. James59 und Münsterberg,60 von physiologischer Seite besonders durch Hering61 als nicht haltbar erwiesen. Der aufmerksame Beobachter muß zugeben, daß solche Innervationsempfindungen nicht wahrzunehmen sind, daß man nicht weiß, wie man eine Bewegung ausführt, welche Muskeln ins Spiel kommen, mit welchen Spannungen sich dieselben beteiligen u.s.w. Alles dies ist durch die Organisation bedingt. Wir stellen uns nur das Ziel der Bewegung vor und erfahren durch peripherische Empfindungen der Haut, der Muskel, Bänder u.s.w. erst von der ausgeführten Bewegung. So wie sich also Vorstellungen durch Vorstellungen associativ im Bewußtsein ergänzen, so können sich auch Erinnerungen an sinnliche Empfindungen durch die zugehörigen motorischen Prozesse associativ ergänzen, wobei aber diese letzteren nicht mehr ins Bewußtsein fallen, sondern nur wieder mit deren Folgen hineinreichen. Daß das Prinzip der Association, oder der Verbindung durch Gewohnheit, im ganzen Nervensystem wirksam ist, kann man nach der Gleichartigkeit des letzteren wohl annehmen. Auf die besonderen Nervenverbindungen mit dem Großhirn wird es ankommen, welche Glieder der Associationsketten ins Bewußtsein fallen. Als Beispiele der Erregung verschiedener leiblicher Prozesse durch Vorstellungen erwähnen wir, daß Erbrechen bei empfindlichen Personen leicht durch die Vorstellung des Erbrechens ausgelöst wird. Wer leicht an den Händen schwitzt, wer in der Verlegenheit leicht errötet, darf an diese Vorgänge nicht denken, ohne daß sie sofort eintreten. Die Speicheldrüsen des Feinschmeckers reagieren prompt auf dessen Geschmacksphantasien. Als ich einmal längere Zeit an Malaria[61] litt, erwarb ich mir die unangenehme Fertigkeit, durch den bloßen Gedanken an Schüttelfrost diesen selbst hervorzurufen, welche Fertigkeit mir viele Jahre verblieb. Die hier dargelegte Auffassung wird noch durch andere Tatsachen bestätigt. Wenn eine Muskelkontraktion nicht »zentral«, nicht durch den »Willen«, sondern durch den Induktionsstrom ausgelöst wird, so empfinden wir diese Kontraktion ganz ebenso als Anstrengung wie die willkürliche; diese Empfindung ist also peripherisch ausgelöst. Am interessantesten sind aber die Beobachtungen Strümpells62 über das Verhalten eines Knaben, der bloß mit dem rechten Auge sah und mit dem linken Ohre hörte, der aber sonst ganz empfindungslos war. Bei verbundenen Augen konnten dessen Glieder in die ungewöhnlichsten Stellungen gebracht werden, ohne daß er es merkte. Auch das Gefühl der Ermüdung fehlte gänzlich. Verlangte man, daß er den Arm erhebe und erhoben halte, so tat er dies, aber nach 1-2 Minuten begann dieser zu zittern und zu sinken, obgleich der Patient behauptete, denselben erhoben zu halten. Ebenso glaubte derselbe die Hand zu schließen und zu öffnen, während man diese fest hielt.63

11. Bewegung, Empfindung und Vorstellung stehen überhaupt in einem sehr innigen Zusammenhang. Wir dürfen uns über das Bestehen desselben durch die notwendigen Einteilungen und das Schematisieren der Psychologie nicht täuschen lassen. Wenn eine Wildkatze durch ein leises Geräusch erregt, sich des Tieres erinnert, welches dieses Geräusch bewirken könnte, so richtet sie die Augen auf den Ort des Geräusches und stellt sich sprungbereit. Die associierte Vorstellung hat hier Bewegungen ausgelöst, welche eine deutlichere optische Empfindung des erwarteten interessanten, zur Nahrung dienenden Objektes bedingen, das nun mit gut bemessenem Sprunge eingefangen werden kann.64 Dagegen sind die Augen der Katze jetzt ganz von der Beute[62] in Anspruch genommen und eben deshalb zur Aufnahme von anderwärts herkommenden Eindrücken wenig geeignet, weswegen das lauernde Tier dem Jäger leicht zum Opfer fällt. Wir sehen, wie hier Empfindung, Vorstellung und Bewegung ineinandergreifen, um den Zustand zu bestimmen, den wir Aufmerksamkeit nennen. Ähnlich jener Katze verhalten wir uns, wenn wir über etwas, das unmittelbar unsere Lebenserhaltung betrifft oder aus irgend einem andern Grunde für uns von Interesse ist, nachdenken.65 Wir überlassen uns da nicht beliebigen Einfällen. Zunächst wenden wir den Blick von allen gleichgültigen Vorkommnissen ab, achten nicht auf Geräusche in unserer Umgebung oder suchen dieselben abzuhalten. Wir setzen uns wohl gar an unseren Arbeitstisch und entwerfen eine Konstruktion oder fangen an, eine Formel zu entwickeln. Wir werfen den Blick wiederholt auf die Konstruktion oder die Formel. Nur jene Associationen, welche zur Aufgabe in Beziehung stehen, treten auf. Kommen andere zum Vorschein, so werden sie bald wieder von ersteren verdrängt. Bewegungen, Empfindungen und Associationen wirken im Falle des Nachdenkens gerade so zusammen, den Zustand der intellektuellen Aufmerksamkeit zu schaffen, wie sie in dem Fall der Katze die sinnliche Aufmerksamkeit hergestellt haben. Wir glauben unser Denken »willkürlich« zu leiten, aber in Wahrheit ist dasselbe bestimmt durch den immer wiederkehrenden Gedanken des Problems, das mit 1000 Associationsfäden unmittelbar oder mittelbar an den Interessen unseres Lebens hängt, die uns nicht los lassen.66 Wie in dem Fall der sinnlichen Aufmerksamkeit der auf ein bestimmtes Objekt eingestellte Sinn eben dadurch relativ blind oder taub wird für jedes andere Objekt, so werden auch durch die auf das Problem bezüglichen Associationen den andern die Bahnen verschlossen.67 Die Katze merkt das Herannahen des Jägers nicht, der spekulierende Sokrates überhört »zerstreut« die Fragen seiner Xanthippe und der konstruierende Archimedes büßt seine mangelhafte biologische[63] Anpassung an die augenblicklichen Umstände mit dem Leben.

12. Es gibt keinen Willen und keine Aufmerksamkeit als besondere psychische Mächte. Dieselbe Macht, die den Leib bildet, führt auch die besonderen Formen der Zusammenwirkung der Teile des Leibes herbei, für welche wir die Kollektivnamen »Wille« und »Aufmerksamkeit« angenommen haben. Wille und Aufmerksamkeit sind so nahe verwandt, daß es schwer ist, dieselben gegeneinander abzugrenzen.68 Im Willen und in der Aufmerksamkeit liegt eine »Wahl«, ebenso wie im Geotropismus und Heliotropismus der Pflanzen und in dem Fall des Steines zur Erde. Alle sind in gleicher Weise rätselhaft oder in gleicher Weise verständlich.69 Der Wille besteht in der Unterordnung der weniger wichtigen oder nur zeitweilig wichtigen Reflexakte unter die die Lebensfunktion leitenden Vorgänge. Diese leitenden Vorgänge sind aber die Empfindungen und Vorstellungen, welche die Lebensbedingungen registrieren.

13. Manche Bewegungen, deren unausgesetzte Fortdauer für die Erhaltung des Lebens notwendig ist, wie die Herzbewegung, die Atmung, die peristaltische Bewegung des Darms u.s.w., sind vom »Willen« unabhängig oder werden höchstens in sehr beschränktem Maße von psychischen Vorgängen (Gemütsbewegungen) beeinflußt. Die Grenze zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen ist aber keine absolut feststehende, sondern variiert etwas von Individuum zu Individuum. Bei einzelnen Menschen gehorchen manche Muskeln dem Willen, welche bei anderen dem Einfluß desselben ganz entzogen sind. So soll Fontana im stände gewesen sein, die Pupillen willkürlich zu verengern, und E. F. Weber hätte sogar die Fähigkeit gehabt, die Herzbewegung willkürlich zu unterdrücken.70 Wenn die Innervation eines Muskels zufällig gelingt, und man kann die hierbei auftretenden Empfindungen in der Erinnerung reproduzieren, so tritt hierbei die Kontraktion des Muskels in der Regel wieder ein, und derselbe bleibt der Herrschaft des Willens unterworfen.71[64] Die Grenze der Willkürbewegung kann also durch glückliche Versuche und Übung erweitert werden. – In krankhaften Zuständen kann die Beziehung zwischen dem Vorstellungsleben und der Bewegung bedeutende Veränderungen erfahren, was nur durch einige Beispiele erläutert werden soll.72 Th. de Quincey erfuhr nach seinem eigenen Geständnis durch den Gebrauch des Opiums eine solche Schwächung des Willens, daß er eingelangte wichtige Briefe durch Monate unbeantwortet liegen ließ und es dann noch schwer über sich gewann, eine Antwort von wenigen Worten zu schreiben. Ein kräftiger, intelligenter Mann, Notar, verfiel in Melancholie. Er sollte eine Reise nach Italien antreten, erklärte wiederholt, es sei ihm unmöglich, leistete aber seinem Begleiter nicht den geringsten Widerstand. Eine Vollmacht, die er ausstellte, unterzeichnete er, konnte aber durch drei Viertelstunden nicht dazu gelangen, den Namen durch den üblichen Zug zu ergänzen. Nachdem sich noch in vielen ähnlichen Fällen seine Willensschwäche geäußert hatte, gewann er seine Energie wieder beim Anblick einer von den Pferden zu Boden geworfenen Frau. Er sprang rasch aus dem Wagen, um ihr Hilfe zu leisten. Die »Abulie« wurde also hier durch einen starken Affekt überwunden. Anderseits können bloße Vorstellungen so impulsiv werden, daß sie drohen in die Tat auszubrechen. Ein Mensch wird z.B. von dem Gedanken beherrscht, eine bestimmte Person oder sich selbst ermorden zu müssen, und läßt sich freiwillig fesseln, um sich vor den Folgen dieses furchtbaren Triebes zu schützen.

14. Schon eine vorausgehende Überlegung hat gezeigt, daß die Abgrenzung des Ich gegen die Welt etwas schwierig und von Willkürlichkeit nicht frei ist. Betrachten wir die Gesamtheit der miteinander zusammenhängenden Vorstellungen, also dasjenige, was nur für uns allein unmittelbar vorhanden ist, als das Ich. Dann besteht das Ich aus den Erinnerungen unserer Erlebnisse, mit den durch diese selbst bedingten Associationen. Dieses ganze Vorstellungsleben ist aber an die historischen Schicksale des Großhirns gebunden, welches ein Teil der physischen Welt ist, den wir nicht ausscheiden können. Nun haben wir aber kein[65] Recht, die Empfindungen aus der Reihe der psychischen Elemente auszuschalten. Beschränken wir uns zunächst auf die Organempfindungen (Gemeingefühle), welche von dem Lebensprozeß aller Körperteile herrühren, der in das Großhirn ausstrahlt und als Hunger, Durst u.s.w. die Grundlage der Triebe wird, die vermöge eines im embryonalen Leben erworbenen Mechanismus unsere Bewegungen, Reflexe und Instinkthandlungen auslösen, die durch das später entwickelte Vorstellungsleben nur modifiziert werden können. Dieses weitere Ich hängt schon mit unserem ganzen Leib, ja nicht minder mit dem Leib unserer Eltern untrennbar zusammen. Endlich können wir auch die von der gesamten physischen Umgebung ausgelösten Sinnesempfindungen zum Ich im weitesten Sinn rechnen, und dieses ist dann von der ganzen Welt nicht mehr trennbar. Dem erwachsenen denkenden Menschen, welcher sein Ich analysiert, fällt das Vorstellungsleben vermöge seiner Stärke und Klarheit als der wichtigste Inhalt des Ich auf. Anders ist es, wenn wir ein Individuum in der Entwicklung betrachten. Das einige Monate alte Kind wird noch ganz von seinen Organempfindungen beherrscht. Der Ernährungstrieb ist am mächtigsten wirksam. Sehr allmählich entwickelt sich das Sinnesleben und später das Vorstellungsleben. Erst spät kommt der Geschlechtstrieb hinzu und wandelt bei gleichzeitigem Wachstum des Vorstellungslebens die ganze Persönlichkeit um. So entwickelt sich ein Weltbild, in dem als deutlich abgegrenztes und wichtigstes Zentralglied der eigene Leib sich abhebt; die stärksten Vorstellungen zielen mit ihren Associationen auf Befriedigung der Triebe ab, sind auf dieselbe abgestimmt, sozusagen nur Zwischenmittel zur Befriedigung derselben. Das Zentralglied dieses Weltbildes hat der Mensch mit den höheren Tieren gemein, nur tritt das Vorstellungsleben desto mehr zurück, je einfachere Organismen wir betrachten. Beim sozialen Menschen, dessen Leben teilweise entlastet ist, können die Vorstellungen, welche mit dessen Beruf, Stellung, Lebensaufgabe u.s.w. zusammenhängen, obgleich sie ursprünglich nur Zwischenmittel zur Befriedigung zunächst der eigenen und nebenher und mittelbar der fremden Triebe waren, doch eine solche Stärke und einen solchen Wert gewinnen, daß alles übrige daneben unbedeutend erscheint. So entsteht das,[66] was Meynert73 das sekundäre Ich genannt hat im Gegensatz zum primären Ich, in welchem letzteren vor allem das animale Leben des Leibes sich hervorhebt.

15. Bei dem wichtigen Beitrag, den die Organempfindungen zur Bildung des Ich liefern, ist es begreiflich, daß Störungen dieser Organempfindungen auch das Ich alterieren. Ribot74 hat die interessantesten Fälle dieser Art beschrieben. Ein in der Schlacht von Austerlitz schwer verwundeter Soldat hielt sich seither für tot. Wurde er um sein Befinden gefragt, so antwortete er: Ihr wollt wissen, wie es Vater Lambert geht? Er ist nicht mehr, eine Kanonenkugel hat ihn mitgenommen. Das, was ihr hier seht, ist eine schlechte Maschine, die ihm ähnlich ist. Man sollte eine andere machen. Indem er von sich sprach, sagte er nie »ich«, sondern »dieses da«. Seine Haut war empfindungslos, und oft verfiel er in vollständige Bewußtlosigkeit und Unbeweglichkeit, welche mehrere Tage währte. – Die monströsen Zwillinge mit teilweise gemeinschaftlichem Leib, wie die bekannten siamesischen Zwillinge oder die zu Szongy in Ungarn geborenen Schwestern Helene und Judith, haben auch ein teilweise gemeinschaftliches Ich und fallen, wie natürlich, durch Ähnlichkeit, ja Identität des Charakters auf. Dies geht so weit, daß im Gespräch oft die von einem Teil begonnene Phrase von dem andern vollendet wird.75 Übrigens zeigen organisch zusammenhängende Zwillinge nur in gesteigertem Maß die physische und psychische Ähnlichkeit der organisch getrennten Zwillinge, welche in antiker und moderner Zeit dankbare Lustspielstoffe geliefert hat.76 – Wenn die Organisation für das primäre Ich bestimmend ist, so haben die Erlebnisse auf das sekundäre Ich bedeutenden Einfluß. In der Tat kann plötzlicher oder dauernder Wechsel der Umgebung das sekundäre Ich mächtig alterieren. Dies wird in treffender Weise illustriert[67] durch die Erzählung »vom Schlafenden und Wachenden« in der arabischen Märchenerzählung »Tausend und eine Nacht«, sowie in dem bekannten Zwischenspiel Shakespeares in »Zähmung einer Widerspenstigen«.

16. Merkwürdig sind die Fälle, in welchen sich zugleich zwei verschiedene Persönlichkeiten in einem Körper äußern. Ein Mann, welcher bewußtlos im Typhus liegt, erwacht eines Tages, glaubt aber zwei Körper zu haben, die in zwei verschiedenen Betten liegen, von denen der eine genesen ist und einer köstlichen Ruhe genießt, während der andere sich elend befindet. – Ein Polizeisoldat, welcher durch mehrere Schläge auf den Kopf eine Gedächtnisschwächung erfuhr, glaubte aus zwei Personen von verschiedenem Charakter und Willen zu bestehen, welche beziehungsweise in der rechten und linken Körperhälfte ihren Sitz hatten. – Die Fälle von sogenannter Besessenheit, in welchen sich in dem Leib einer Person eine zweite, kontrollierende oder befehlende, oft mit fremder Stimme herausschreiende breit zu machen scheint, gehören auch hierher. Es ist nicht zu verwundern, daß der furchtbare unheimliche Eindruck solcher Vorkommnisse eine dämonologische Auffassung derselben veranlaßt hat.77 – Häufiger äußern sich verschiedene Persönlichkeiten in einem Leib nacheinander oder alternieren miteinander. Eine bekehrte Prostituierte wurde in ein Kloster aufgenommen, verfiel in religiösen Wahnsinn, worauf Stupidität folgte. Dann folgt eine Zeit, in welcher sie abwechselnd Nonne und Prostituierte zu sein glaubt und sich dementsprechend benimmt. Es sind sogar Fälle des Wechsels von drei verschiedenen Persönlichkeiten beobachtet worden.

Wenn man sich mit Berücksichtigung sämtlicher Momente, die bei der Bildung des Ich mitwirken, über die angeführten[68] Fälle eine naturwissenschaftliche Ansicht bilden will, so hat man sich etwa zu denken, daß an die wechselnden Organgefühle sich mit diesen fest verbundene Associationskreise knüpfen, die untereinander nicht zusammenhängen. Mit dem Wechsel der Organempfindungen, etwa durch Krankheit, wechseln dann auch die Erinnerungen und die ganze Persönlichkeit. Im Übergangszustande aber, wenn derselbe von genügender Dauer ist, tritt die doppelte Persönlichkeit auf. Wer im Traume im stande ist, sich zu beobachten, dem sind solche Zustände nicht ganz fremd und keineswegs unvorstellbar.

17. Die Teile des menschlichen Leibes stehen in einem sehr engen Zusammenhang, und fast alle Lebensvorgänge ragen in irgend einer Weise ins Großhirn, also ins Bewußtsein hinein. Dies ist keineswegs bei allen Organismen der Fall. Wenn wir eine Raupe beobachten, welche, am Hinterteil verwundet, sich von rückwärts aufzufressen beginnt,78 wenn eine Wespe sich durch Abschneiden des Abdomens nicht im Honigsaugen stören läßt, wenn ein Regenwurm, mitten entzwei geschnitten, nach Verbindung beider Teile durch einen Faden fast wie ein unverletzter weiterkriecht, so müssen wir annehmen, daß bei diesen Tieren nicht unmittelbar sich berührende Teile in keiner so innigen Wechselbeziehung stehen wie beim Menschen. Es wirkt z.B. beim Wurm ein Leibesring erregend auf den folgenden, weshalb er auch fortkriecht, wenn der vorhergehende Ring durch den Faden den folgenden reizt. Aber von einer Zentralisierung des ganzen Lebens in einem Hirn und einer entsprechenden Ich-Bildung kann kaum die Rede sein.[69]

45

Goltz, Die Nervenzentren des Frosches. Berlin 1869.

46

Goltz, a. a. O. S. 20 u. f.

47

J. v. Sachs, Vorlesungen über Pflanzen-Physiologie. Leipzig 1887.

48

Loeb, Orientierung der Tiere gegen das Licht. SB. d. Würzburger ph.-med. Gesellschaft. 1888. – Orient. d. Tiere gegen d. Schwerkraft. Ebenda. 1888. – Heliotropismus d. Tiere. Würzburg 1890. – Geotropismus d. Tiere. Pflügers Archiv. 1891.

49

Vgl. die oben zitierten Schriften von Sachs und Loeb.

50

A. Forel, Psychische Fähigkeiten der Ameisen. Verh. d. 5. internat. Zoologenkongresses. Jena 1902. – Geruchsinn bei den Insekten. Ebenda. 1902. – Expériences et remarques critiques sur les sensations des Insectes, 1-5 partie. Rivista di scienze biologiche. Como 1900-1901.

51

Durch das topochemische Gedächtnis soll eine Art räumlichen Geruchsbildes der durchwanderten Gegend zu stande kommen, wie dies dem Hunde kaum abzusprechen sein wird. An der polarisierten Geruchsspur soll die Ameise erkennen, ob der Weg zum Nest oder vom Nest führt. Es müßte also an der Spur rechts und links durch den Geruch unterscheidbar sein.

52

Vgl. Haberlandt, Über den tropischen Urwald. Schr. d. Vereins z. Verbr. naturw. Kenntnisse. Wien 1898.

53

H. Müller, Befruchtung der Blumen durch Insekten. Leipzig 1873.

54

Loeb, Vergleichende Gehirnphysiologie. Leipzig 1899.

55

Die ersten Male treten bei dem Gefühl von Hunger oder Durst Reflexbewegungen ein, welche unter geeigneten Umständen zur Befriedigung des Bedürfnisses führen. Man denke an das Verhalten der Säuglinge. Je reifer der Mensch ist, desto klarere und deutlichere Erinnerungen helfen bei Befriedigung der Bedürfnisse mit, sich an die Empfindungen vor und nach der Befriedigung knüpfend und ihm die Wege weisend. Die Mischung des Bewußten und Instinktiven kann übrigens in den verschiedensten Verhältnissen eintreten. Vor einigen Jahren litt ich an einer heftigen Neuralgie im Bein, welche pünktlich um 3 Uhr nachts einsetzte und mich bis zum Morgen quälte. Da bemerkte ich einmal, daß es mir sehr schwer wurde, den Morgenkaffee zu erwarten. Ich kam auf den Einfall, um 3 Uhr nachts Kaffee zu nehmen, und unterdrückte so in der Tat die Neuralgie. Dieser Erfolg, der nahe an die für wunderbar gehaltene Selbstordination hypersensibler somnambuler Personen streift, überraschte mich anfangs selbst. Der aufmerksamen Erwägung kann aber die Mystik nicht standhalten. Die Schmerzen hatten eben bald nach dem Frühstück sich regelmäßig sehr gemildert, und das hierauf eintretende Gefühl der Behaglichkeit hatte sich mit der Vorstellung »Kaffee« associiert, ohne daß es mir noch klar bewußt war.

56

Variationen in den geschlechtlichen Instinkten beruhen wohl auf zufälligen Umständen der erstmaligen Erregung. Es wird kaum gerechtfertigt sein, aus jeder »Perversität« eine besondere Species der »psychopathia sexualis« (!) zu machen und dieselbe sogar für anatomisch begründet zu halten. Man denke nur an die antiken Gymnasien, die relative Abgeschlossenheit der Frauen und die Päderastie.

57

Preyer, Die Seele des Kindes. Leipzig 1882.

58

J. Müller, Handbuch der Physiologie. Koblenz 1840. II. S. 500.

59

W. James, The feeling of effort. Boston 1880. – Principles of Psychology. New York 1890. II. S. 486 u. f.

60

Münsterberg, Die Willenshandlung. Freiburg i. B. 1888.

61

Hering in Hermanns Handb. d. Physiol. III, 1. S. 547, 548.

62

Strümpell, Deutsch. Archiv f. klin. Medic. XXII. S. 321.

63

Ich selbst konnte mich einige Zeit von der Müllerschen Ansicht nicht losmachen. Die Beobachtungen (Analyse 4. Aufl. S. 135) an meiner eigenen apoplektisch gelähmten, aber sensiblen Hand, an welcher keine Bewegung zu sehen ist, während ich doch ein Schließen und Öffnen in geringem Ausmaß zu fühlen glaube, weiß ich auch in den Rahmen der neuen Theorie nicht recht einzupassen.

64

Groos, Die Spiele der Tiere. Jena 1896. S. 210 u. f.

65

Vgl. S. 40.

66

Vgl. Popul. Vorlesungen, 3. Aufl. S. 287 u. f.

67

Vgl. Zur Theorie des Gehörorgans. Sitzb. d. Wiener Akademie. Bd. 48, Juli 1863. Daselbst schon eine mehr biologische Auffassung der Aufmerksamkeit.

68

Vgl. J. C. Kreibig, Die Aufmerksamkeit als Willenserscheinung. Wien 1897.

69

Vgl. Schopenhauer, Über den Willen in der Natur.

70

Ribot, Maladies de la volonté. Paris 1888. S. 27.

71

Hering, Die Lehre vom binocularen Sehen. Leipzig 1868. S. 27.

72

Ribot, a. a. O. S. 40-48.

73

Meynert, Populäre Vorträge. Wien 1892. S. 36 u. f.

74

Ribot, Les maladies de la personnalité. Paris 1888.

75

Vaschide et Vurpas, Essai sur la Psycho-Physiologie des Monstres humains. Paris (ohne Jahreszahl).

76

Man vergleiche des Plautus »Menaechmi« oder Shakespeares »Komödie der Irrungen«. – Galtons »History of Twins« ist in Bezug auf die Tatsachen lehrreich.

77

In Bezug auf die dämonologische Auffassung vergleiche man: Ennemoser, Geschichte der Magie. Leipzig 1844. – Roskoff, Geschichte des Teufels. Leipzig 1869. – Hecker, Die großen Volkskrankheiten des Mittelalters. Berlin 1865. – Pathologische Erscheinungen, psychische Störungen, insbesondere Hallucinationen, seien sie nun dauernd (wie z.B. im Verfolgungswahn) oder temporär durch Gifte (Hexensalbe) hervorgebracht, stützen, bei mangelhafter wissenschaftlicher Kritik, den Dämonen- und Hexenglauben, sowohl bei den Betroffenen wie bei den Beobachtern. Vgl. P. Max Simon, Le Monde des Rêves. Paris 1888. – Interessante Daten auch bei Walter Scott, Letters on Demonology and Witchcraft, 4th edit, London 1898.

78

Dieser Vorgang wird in biologischen Schriften erwähnt. Meine Schwester, welche sich viele Jahre mit der Aufzucht von Yama Mai im freien Eichenwald beschäftigt hat, wo häufig genug Verletzungen von Raupen, aber auch Heilungen vorkamen, bestreitet die Richtigkeit der Beobachtung. Die Raupen scheinen die Wunde zu untersuchen und bestreben sieh vielleicht, dieselbe zu schließen.

Quelle:
Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Leipzig 31917, S. 50-70.
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