4. Die Eigenheit

[282] »Sich eine eigne Welt gründen, das heißt sich einen Himmel erbauen.« p. 89 »des Buchs«.62

Wir haben bereits das innerste Heiligtum dieses Himmels »durchschaut«. Wir werden uns jetzt bestreben, »mehr Dinge« von ihm kennenzulernen. Wir werden indes im Neuen Testament dieselbe Heuchelei wiederfinden, die bereits im Alten durchging. Wie in diesem die geschichtlichen Data nur Namen für ein paar einfache Kategorien waren, so sind auch hier im Neuen Bunde alle weltlichen Verhältnisse nur Verkleidungen, andre Benennungen[282] für den magern Inhalt, den wir in der Phänomenologie und Logik zusammengestellt haben. Unter dem Scheine, als spräche er von der wirklichen Welt, spricht Sankt Sancho immer nur von diesen magern Kategorien.

»Du willst nicht die Freiheit, alle diese schönen Sachen zu haben... Du willst sie wirklich haben... als Dein Eigentum besitzen... Du müßtest nicht nur ein Freier. Du müßtest auch ein Eigner sein.« p. 205.

Hier wird eine der ältesten Formeln, zu denen die anfangende soziale Bewegung kam, der Gegensatz des Sozialismus in seiner miserabelsten Gestalt gegen den Liberalismus, zu einem Ausspruch des »mit sich einigen Egoisten« erhoben. Wie alt dieser Gegensatz selbst für Berlin ist, kann unser Heiliger schon daraus ersehen, daß bereits in Rankes »Historisch-politischer Zeitschrift«, Berlin 1831, mit Schrecken darauf hingewiesen wird.

»Wie Ich sie« (die Freiheit) »benutze, das hängt von Meiner Eigenheit ab.« p. 205.

Der große Dialektiker kann das auch umdrehen und sagen: Wie Ich Meine Eigenheit benutze, das hängt von Meiner Freiheit ab. – Nun fährt er fort:

»Frei – wovon?«

Hier verwandelt sich also durch einen Gedankenstrich die Freiheit schon in die Freiheit von Etwas, per apposit[ionem] von »Allem«. Diesmal wird indes die Apposition in Form eines scheinbar näher bestimmenden Satzes gegeben. Nachdem er nämlich dies große Resultat erreicht hat, wird Sancho sentimental:

»O was läßt sich nicht Alles abschütteln!« Zuerst »das Joch der Leibeigenschaft«, dann eine ganze Reihe andrer Joche, die endlich unvermerkt dahin führen, daß »die vollkommenste Selbstverleugnung nichts als Freiheit, Freiheit... vom eignen Selbst ist und der Drang nach Freiheit als etwas Absolutem... Uns um die Eigenheit brachte.«

Durch eine höchst kunstlose Reihe von Jochen wird hier die Befreiung von der Leibeigenschaft, die die Geltendmachung der Individualität der Leibeignen und zugleich die Niederreißung einer bestimmten empirischen Schranke war, mit der viel früheren christlich-idealistischen Freiheit aus den Briefen an die Römer und Korinther identifiziert und damit die Freiheit überhaupt in die Selbstverleugnung verwandelt. Hiermit wären wir schon mit der Freiheit fertig, da sie jetzt unbestritten »das Heilige« ist. Ein bestimmter historischer Akt der Selbstbefreiung wird von Sankt Max in die abstrakte Kategorie »der Freiheit« verwandelt und diese Kategorie dann wieder aus einer ganz andern historischen Erscheinung, die ebenfalls unter »die Freiheit« subsumiert werden kann, näher bestimmt. Das ist das ganze Kunststück,[283] die Abschüttelung der Leibeigenschaft in die Selbstverleugnung zu verwandeln.

Um dem deutschen Bürger seine Freiheitstheorie sonnenklar zu machen, fängt Sancho jetzt an, in der eignen Sprache des Bürgers, speziell des Berliner Bürgers, zu deklamieren:

»Je freier Ich indes werde, desto mehr Zwang türmt sich vor Meinen Augen auf, desto ohnmächtiger fühle Ich Mich. Der unfreie Sohn der Wildnis empfindet noch nichts von all den Schranken, die einen jebildeten Menschen bedrän[gen]: er dünkt sich freier als dieser. In dem Maße, als Ich Mir Freiheit erringe, schaffe Ich Mir neue Grenzen und neue Aufgaben; habe Ich die Eisenbahnen erfunden, so fühle Ich Mich wieder schwach, weil Ich noch nicht, dem Vogel gleich, die Lüfte durchsegeln kann, und habe Ich ein Problem, dessen Dunkelheit Meinen Geist beängstigte, gelöst, so erwarten Mich schon unzählige andere« pp. p. 205, 206.

O »unbeholfener« Belletrist für Bürger und Landmann!

Nicht »der unfreie Sohn der Wildnis«, sondern »die gebildeten Menschen« »dünken« sich den Wilden freier als den Gebildeten. Daß der »Sohn der Wildniß« (den F. Halm in Szene gesetzt hat) die Schranken des Gebildeten nicht kennt, weil er sie nicht erfahren kann. Ist ebenso klar, als daß der »gebildete« Berliner Bürger, der den »Sohn der Wildniß« nur vom Theater kennt, von den Schranken des Wilden nichts weiß. Die einfache Tatsache ist diese: die Schranken des Wilden sind nicht die des Zivilisierten. Die Vergleichung, die unser Heiliger zwischen Beiden anstellt. Ist die phantastische eines »gebildeten« Berliners, dessen Bildung darin besteht, von Beiden nichts zu wissen. Daß er von den Schranken des Wilden nichts weiß. Ist erklärlich, obgleich etwas davon zu wissen nach den vielen neueren Reisebeschreibungen eben keine Kunst ist; daß er auch die des Gebildeten nicht kennt, beweist sein Exempel von den Eisenbahnen und dem Fliegen. Der tatlose Kleinbürger, dem die Eisenbahnen vom Himmel gefallen sind und der eben deswegen glaubt, sie selbst erfunden zu haben, phantasiert sogleich vom Luftflug, nachdem er einmal auf der Eisenbahn gefahren ist. In der Wirklichkeit kam erst der Luftballon und dann die Eisenbahnen. Sankt Sancho mußte dies umdrehen, weil sonst jedermann gesehen hätte, daß mit der Erfindung des Luftballons das Postulat der Eisenbahnen noch lange nicht da war, während man sich das Umgekehrte leicht vorstellen kann. Er stellt überhaupt das empirische Verhältnis auf den Kopf. Als der Hauderer und Frachtwagen den entwickelten Bedürfnissen des Verkehrs nicht mehr genügte, als u. a. die Zentralisation der Produktion durch die große Industrie neue Mittel zum[284] rascheren und massenweisen Transport ihrer Massen von Produkten nötig machte, erfand man die Lokomotive und damit die Anwendung der Eisenbahn auf den großen Verkehr. Dem Erfinder und den Aktionären war es um ihren Profit, dem Commerce überhaupt um die Verminderung der Produktionskosten zu tun; die Möglichkeit, ja die absolute Notwendigkeit der Erfindung lag in den empirischen Verhältnissen. Die Anwendung der neuen Erfindung in verschiednen Ländern beruhte auf verschiednen empirischen Verhältnissen, z.B. in Amerika auf der Notwendigkeit, die einzelnen Staaten des ungeheuren Gebietes zu vereinigen und die halbzivilisierten Distrikte des Innern mit dem Meere und den Stapelplätzen ihrer Produkte zu verbinden. (Vgl. u.a.M. Chevalier, »Lettres sur l'Amérique du Nord«.) In andern Ländern, wo man bei jeder neuen Erfindung nur bedauert, daß sie nicht das Reich der Erfindungen vollendet, wie z.B. in Deutschland – in solchen Ländern wird man endlich nach vielem Widerstreben gegen die verwerflichen, keine Flügel verleihenden Eisenbahnen durch die Konkurrenz gezwungen, sie zu adoptieren und den Hauderer und Frachtwagen wie das altehrwürdige, sittsame Spinnrad fahrenzulassen. Der Mangel an andrer gewinnreicher Anlegung des Kapitals machte das Eisenbahnbauen zum dominierenden Industriezweig in Deutschland. Die Entwicklung seiner Eisenbahnbauten und seine Schlappen auf dem Weltmarkt gingen gleichen Schritt. Nirgend aber baut man Eisenbahnen der Kategorie »der Freiheit von« zulieb, wie Sankt Max schon daraus ersehen konnte, daß Niemand Eisenbahnen baut, um frei von seinem Geldsack zu werden. Der positive Kern der ideologischen Verachtung des Bürgers gegen die Eisenbahnen aus Sehnsucht nach dem Vogelflug ist die Vorliebe für den Hauderer, den Frachtwagen und die Landstraße. Sancho sehnt sich nach der »eignen Welt«, die, wie wir oben sahen, der Himmel ist. Darum will er an die Stelle der Lokomotive den feurigen Wagen Eliä setzen und gen Himmel fahren.

Nachdem sich diesem tatlosen und unwissenden Zuschauer das wirkliche Niederreißen der Schranken, das zugleich eine sehr positive Entwicklung der Produktivkraft, reale Energie und Befriedigung unabweisbarer Bedürfnisse, Ausdehnung der Macht der Individuen ist, in das bloße Freiwerden von einer Schranke verwandelt hat – was er wieder sich logisch als Postulat des Freiwerdens von der Schranke schlechthin zurechtmachen kann – kommt jetzt am Schluß der ganzen Entwicklung heraus, was bereits am Anfang vorausgesetzt war:

»Freisein von Etwas – heißt nur: Ledig oder Los sein.« p. 206.

Er gibt gleich ein sehr unglückliches Exempel davon: »Er ist frei vom Kopfweh ist gleich: Er ist es los«, als ob nicht dies »Lossein« vom Kopfschmerz[285] gleich wäre einer ganz positiven Dispositionskraft über meinen Kopf, gleich einem Eigentum an meinen Kopf, während ich, solange Ich Kopfschmerzen hatte, das Eigentum meines kranken Kopfes war.

»Im ›Los‹ vollenden wir die vom Christentum empfohlene Freiheit, im Sündlos, Gottlos, Sittenlos usw.« p. 206.

Daher findet unser »vollendeter Christ« auch seine Eigenheit erst im »gedankenlos«, »bestimmungslos«, »berufslos«, »gesetzlos«, »verfassungslos« pp. und fordert seine Brüder in Christo auf, »sich nur wohlzufühlen im Auflösen«, d.h. im Produzieren des »Losseins«, der »vollendeten«, »christlichen Freiheit«.

Er fährt fort:

»Müssen wir etwa, weil die Freiheit als ein christliches Ideal sich verrät, sie aufgeben? Nein, Nichts soll verloren gehen« (voilà notre conservateur tout trouvé), »auch die Freiheit nicht; aber sie soll unser eigen werden, und das kann sie in der Form der Freiheit nicht.« p. 207.

Unser »mit sich« (toujours et partout) »einiger Egoist« vergißt hier, daß wir bereits im Alten Testament durch das christliche Ideal der Freiheit, d.h. durch die Einbildung der Freiheit, zu »Eignern« der »Welt der Dinge« wurden; er vergißt ebenfalls, daß wir danach nur noch die »Welt der Gedanken« loszuwerden brauchten, um auch ihre »Eigner« zu werden; daß sich hier die »Eigenheit« als Konsequenz der Freiheit, des Losseins für ihn ergab.

Nachdem unser Heiliger sich die Freiheit als Freisein von Etwas und dies wieder als »Lossein«, dies als christliches Ideal der Freiheit und damit der Freiheit »des Menschen« zurechtgemacht hat, kann er an diesem präparierten Material einen praktischen Kursus seiner Logik durchmachen. Die erste einfachste Antithese lautet:


Freiheit des Menschen

Freiheit Meiner,


wo in der Antithese die Freiheit aufhört, »in der Form der Freiheit« zu existieren. Oder:


Lossein im Interesse

Lossein im Interesse

des Menschen

Meiner.


Diese beiden Antithesen ziehen sich, mit einem zahlreichen Gefolge von Deklamationen, durch das ganze Kapitel von der Eigenheit durch, aber mit ihnen allein würde unser welterobernder Sancho noch zu sehr wenig, nicht einmal zur Insel Barataria, kommen. Er hat sich oben, wo er sich das Treiben der Menschen aus seiner »eignen Welt«, seinem »Himmel« betrachtete, bei[286] seiner Abstraktion der Freiheit zwei Momente der wirklichen Befreiung auf die Seite gebracht. Das erste war, daß die Individuen in ihrer Selbstbefreiung ein bestimmtes, wirklich empfundenes Bedürfnis befriedigen. An die Stelle der wirklichen Individuen trat durch Beseitigung dieses Momentes »der Mensch« und an die Stelle der Befriedigung des wirklichen Bedürfnisses das Streben nach einem phantastischen Ideal, der Freiheit als solcher, der »Freiheit des Menschen«.

Das Zweite war, daß ein in den sich befreienden Individuen bisher nur als Anlage existierendes Vermögen erst als wirkliche Macht betätigt oder eine bereits existierende Macht durch Abstreifung einer Schranke vergrößert wird. Allerdings kann man das Abstreifen der Schranke, das bloß eine Folge der neuen Machtschöpfung ist, als die Hauptsache betrachten. Zu dieser Illusion kommt man aber nur dann, wenn man entweder die Politik als die Basis der empirischen Geschichte annimmt oder wenn man, wie Hegel, überall die Negation der Negation nachzuweisen hat, oder endlich, wenn man, nachdem die neue Macht geschaffen ist, als unwissender Berliner Bürger über die neue Schöpfung reflektiert. – Indem Sankt Sancho dies zweite Moment zu seinem eignen Gebrauch auf Seite bringt, hat er nun eine Bestimmtheit, die er dem übrigbleibenden, abstrakten caput mortuum »der Freiheit« entgegensetzen kann. Hierdurch kommt er zu folgenden neuen Antithesen:


Freiheit, die

Eigenheit, das

inhaltslose Entfernung

wirkliche Innehaben

fremden Macht

der der eignen Macht.


Oder auch:


Freiheit,

Eigenheit,

Abwehr fremder Macht

Besitz eigner Macht.


Wie sehr Sankt Sancho seine eigne »Macht«, die er hier der Freiheit gegenüberstellt, aus derselben Freiheit heraus und in sich hinein eskamotiert hat, darüber wollen wir ihn nicht auf die Materialisten oder Kommunisten, sondern nur auf das »Dictionnaire de l'académie« verweisen, wo er finden kann, daß liberté am häufigsten im Sinne von puissance gebraucht wird. Sollte Sankt Sancho indes behaupten, daß er nicht gegen die »liberté«, sondern gegen die »Freiheit« kämpfe, so mag er sich bei Hegel über die negative und positive Freiheit Rats erholen. Als deutscher Kleinbürger mag er sich an der Schlußbemerkung dieses Kapitels delektieren.[287]

Die Antithese kann auch so ausgedrückt werden:


Freiheit, idealistisches

Eigenheit, wirkliches

Trachten nach Lossein und

Lossein und Genuß

Kampf gegen das Anderssein

am eignen Dasein.


Nachdem er so durch eine wohlfeile Abstraktion die Eigenheit von der Freiheit unterschieden hat, gibt er sich den Schein, als fange er jetzt erst an, diesen Unterschied zu entwickeln, und ruft aus:

»Welch ein Unterschied zwischen Freiheit und Eigenheit!« p. 207.

Daß er außer den allgemeinen Antithesen sich nichts auf die Seite gebracht hat, und daß neben dieser Bestimmung der Eigenheit auch noch fortwährend die Eigenheit »im gewöhnlichen Verstande« höchst ergötzlich mit unterläuft, wird sich zeigen.

»Innerlich kann man trotz des Zustandes der Sklaverei frei sein, obwohl auch wieder nur von Allerlei, nicht von Allem; aber von der Peitsche, der gebieterischen Laune pp. des Herrn wird man nicht frei

»Dagegen Eigenheit, das ist Mein ganzes Wesen und Dasein, das bin Ich selbst. Frei bin Ich von dem, was Ich los bin, Eigner von dem, was Ich in Meiner Macht habe oder dessen Ich mächtig bin. Mein eigen bin Ich jederzeit und unter allen Umständen, wenn Ich Mich zu haben verstehe und nicht an Andre wegwerfe. Das Freisein kann Ich nicht wahrhaft wollen, weil Ich's nicht machen... kann: Ich kann es nur wünschen und danach trachten, denn es bleibt ein Ideal, ein Spuk. Die Fesseln der Wirklichkeit schneiden jeden Augenblick in Mein Fleisch die schärfsten Striemen. Mein Eigen aber bleibe Ich. Einem Gebieter leibeigen hingegeben, denke Ich nur an Mich und Meinen Vorteil; seine Schläge treffen Mich zwar: Ich bin nicht davon frei; aber Ich erdulde sie nur zu Meinem Nutzen, etwa um ihn durch den Schein der Geduld zu täuschen und ihn sicher zu machen, oder auch, um nicht durch Widersetzlichkeit Ärgeres Mir zuzuziehen. Da Ich aber Mich und Meinen Eigennutz im Auge behalte« (während die Schläge ihn und seinen Rücken im Besitz behalten), »so fasse Ich die nächste gute Gelegenheit beim Schopfe« (d.h., er »wünscht«, er »trachtet« nach einer nächsten guten Gelegenheit, die aber »ein Ideal, ein Spuk bleibt«), »den Sklavenbesitzer zu zertreten. Daß Ich dann von ihm und seiner Peitsche frei werde, das ist nur die Folge Meines vorangegangenen Egoismus. Man sagt hier vielleicht: Ich sei auch im Stande der Sklaverei frei gewesen, nämlich ›an sich‹ oder ›innerlich‹; allein ›an sich frei‹ ist nicht ›wirklich frei‹, und ›innerlich‹ nicht ›äußerlich‹. Eigen hingegen, Mein eigen war Ich ganz und gar, innerlich und äußerlich. Von den Folterqualen und Geißelhieben ist Mein Leib nicht ›frei‹ unter der Herrschaft eines grausamen Gebieters; aber Meine Knochen sind es, welche unter der Tortur ächzen. Meine Fibern zucken unter den Schlägen, und Ich ächze, weil Mein Leib ächzt. Daß Ich seufze und erzittre, beweist, daß Ich noch bei Mir, daß Ich Mein eigen bin.« p. 207, 208.[288]

Unser Sancho, der hier wieder den Belletristen für Kleinbürger und Landmann spielt, beweist hier, daß er trotz der vielen Prügel, die er schon bei Cervantes erhielt, stets sein »Eigner« blieb und daß diese Prügel vielmehr zu seiner »Eigenheit« gehörten. Sein »eigen« ist er »jederzeit und unter allen Umständen«, wenn er sich zu haben versteht. Hier ist also die Eigenheit hypothetisch und hängt von seinem Verstande ab, unter dem er eine sklavische Kasuistik versteht. Dieser Verstand wird dann auch später zum Denken, wo er an sich und seinen »Vorteil« »denkt« – welches Denken und welcher gedachte »Vorteil« sein gedachtes »Eigentum« sind. Er wird weiter dahin erklärt, daß er die Schläge »zu seinem Nutzen« erduldet, wo die Eigenheit wiederum in der Vorstellung des »Nutzens« besteht und wo er das Arge »erduldet«, um nicht »Eigner« von »Ärgerem« zu werden. Später zeigt sich der Verstand auch als »Eigner« des Vorbehalts einer »nächsten guten Gelegenheit«, also einer bloßen reservatio mentalis, und endlich als »Zertreten« des »Sklavenbesitzers« in der Antizipation der Idee, wo er dann »Eigner« dieser Antizipation ist, während der Sklavenbesitzer ihn in der Gegenwart wirklich zertritt. Während er also hier sich mit seinem Bewußtsein Identifiziert, das sich durch allerlei Klugheitsmaximen zu beruhigen strebt. Identifiziert er sich am Schluß mit seinem Leibe, so daß er ganz und gar. Innerlich und äußerlich »sein eigen« ist, solange er noch einen Funken Leben und selbst nur noch bewußtloses Leben in sich hat. Erscheinungen wie Ächzen der »Knochen«, Zucken der Fibern usw., Erscheinungen, aus der Sprache der einzigen Naturwissenschaft in die pathologische übersetzt, die durch Galvanismus an seinem Kadaver, wenn man ihn frisch von dem Galgen abgeschnitten, an dem er sich oben erhing, die selbst an einem toten Frosch hervorgebracht werden können, gelten ihm hier für Beweise, daß er »ganz und gar«, »innerlich und äußerlich« noch »sein eigen«, seiner mächtig ist. Dasselbe, woran sich die Macht und Eigenheit des Sklavenbesitzers zeigt, daß gerade Er geprügelt wird und kein Anderer, daß gerade seine Knochen »ächzen«, seine Fibern zucken, ohne daß Er es ändern kann, das gilt unsrem Heiligen hier für einen Beweis seiner eignen Eigenheit und Macht. Also wenn er im surinamischen Spanso Bocho eingespannt liegt, wo er weder Arme noch Beine noch sonst ein Glied rühren kann und Alles über sich ergehen lassen muß, so besteht seine Macht und Eigenheit nicht darin, daß er über seine Glieder disponieren kann, sondern in dem Faktum, daß sie seine Glieder sind. Seine Eigenheit rettete er hier wieder dadurch, daß er sich immer als Anders-Bestimmten faßte, bald als bloßes Bewußtsein, bald als bewußtlosen Leib (siehe die Phänomenologie).[289]

Sankt Sancho »erduldet« seine Tracht Prügel allerdings mit mehr Würde als die wirklichen Sklaven. Die Missionäre mögen diesen noch so oft im Interesse der Sklavenbesitzer vorhalten, daß sie die Schläge »zu ihrem Nutzen erdulden«, die Sklaven lassen sich dergleichen Faseleien nicht einreden. Sie machen nicht die kühle und furchtsame Reflexion, daß sie sonst »Ärgeres sich zuziehen« würden, sie bilden sich auch nicht ein, »durch ihre Geduld den Sklavenbesitzer zu täuschen« – sie verhöhnen ihre Peiniger im Gegenteil, sie spotten ihrer Ohnmacht, die sie nicht einmal zur Demütigung zwingen kann, und unterdrücken jedes »Ächzen«, jede Klage, solange der physische Schmerz es ihnen noch erlaubt. (Siehe Charles Comte, »Traité de législation«.) Sie sind also weder »innerlich« noch »äußerlich« ihre »Eigner«, sondern bloß die »Eigner« ihres Trotzes, was ebensogut so ausgedrückt werden kann, daß sie weder »innerlich« noch »äußerlich« »frei«, sondern bloß in einer Beziehung frei, nämlich »innerlich« frei von der Selbstdemütigung sind, wie sie auch »äußerlich« zeigen. Insofern »Stirner« die Prügel erhält, ist er Eigner der Prügel und damit frei vom Nichtgeprügeltwerden, und diese Freiheit, dies Lossein gehört zu seiner Eigenheit.

Daraus, daß Sankt Sancho ein besonderes Kennzeichen der Eigenheit in den Vorbehalt setzt, bei »der nächsten guten Gelegenheit« wegzulaufen und in seinem dadurch bewerkstelligten »Freiwerden« »nur die Folge seines vorangegangenen Egoismus« (seines, d.h. des mit sich einigen Egoismus) sieht, geht hervor, daß er sich einbildet, die revolutionierenden Neger von Haiti und die weglaufenden Neger aller Kolonien hätten nicht sich, sondern »den Menschen« befreien wollen. Der Sklave, der den Entschluß faßt, sich zu befreien, muß schon darüber hinaus sein, daß die Sklaverei seine »Eigenheit« ist. Er muß »frei« von dieser »Eigenheit« sein. Die »Eigenheit« eines Individuums kann aber allerdings darin bestehen, daß es sich »wegwirft«. Es hieße »einen fremden Maßstab« an es legen, wenn »Man« das Gegenteil behaupten wollte.

Zum Schluß rächt sich Sankt Sancho für seine Prügel durch folgende Anrede an den »Eigner« seiner »Eigenheit«, den Sklavenbesitzer:

»Mein Bein ist nicht ›frei‹ von dem Prügel des Herrn, aber es ist Mein Bein und ist unentreißbar. Er reiße Mir's aus und sehe zu, ob er noch Mein Bein hat! Nichts behält er in der Hand, als den – Leichnam Meines Beines, der so wenig Mein Bein ist, als ein toter Hund noch ein Hund ist.« p. 208.

Er – Sancho, der hier glaubt, der Sklavenbesitzer wolle sein lebendiges Bein haben, wahrscheinlich zum eignen Gebrauch – »sehe zu«, was er von seinem »unentreißbaren« Beine noch an sich hat. Er behält nichts als den Verlust seines Beines und ist zum einbeinigen Eigner seines ausgerissenen[290] Beines geworden. Wenn er acht Stunden täglich die Tretmühle treten muß, so ist er es, der mit der Zeit zum Idioten wird, und der Idiotismus ist dann seine »Eigenheit«. Der Richter, der ihn dazu verdammt hat, »sehe zu«, ob er noch Sanchos Verstand »in der Hand hat«. Damit ist aber dem armen Sancho wenig geholfen.

»Das erste Eigentum, die erste Herrlichkeit ist erworben!« Nachdem unser Heiliger an diesen eines Asketen würdigen Exempeln den Unterschied zwischen Freiheit und Eigenheit mit bedeutenden belletristischen Produktionskosten enthüllt hat, erklärt er p. 209 ganz unerwartet, daß

»zwischen der Eigenheit und Freiheit noch eine tiefere Kluft liegt als die bloße Wortdifferenz«.

Diese »tiefere Kluft« besteht darin, daß die obige Bestimmung der Freiheit unter »mancherlei Wandlungen« und »Brechungen« und vielen »episodischen Einlagen« wiederholt wird. Aus der Bestimmung »der Freiheit« als »des Losseins« ergeben sich die Fragen: wovon die Menschen frei werden sollen (p. 209) pp., die Streitigkeiten über dies Wovon (ibid.) (er sieht hier wieder als deutscher Kleinbürger in dem Kampfe der wirklichen Interessen nur den Hader um die Bestimmung dieses »Wovon «, wobei es ihm dann natürlich sehr verwundersam ist, daß »der Bürger« nicht »vom Bürgertum« frei werden will, p. 210), dann die Wiederholung des Satzes, daß die Aufhebung einer Schranke die Position einer neuen Schranke ist in der Form, daß »der Drang nach einer bestimmten Freiheit stets die Absicht auf eine neue Herrschaft einschließt«, p. 210 (wobei wir erfahren, daß die Bourgeois in der Revolution nicht auf ihre eigne Herrschaft, sondern auf »die Herrschaft des Gesetzes« ausgingen – siehe oben über den Liberalismus), dann das Resultat, daß man von Dem nicht los werden will, was Einem »ganz recht ist, z.B. dem unwiderstehlichen Blick der Geliebten« (p. 211). Ferner ergibt sich, daß die Freiheit ein »Phantom« ist (p. 211), ein »Traum« (p. 212); dann erfahren wir nebenbei, daß »die Naturstimme« auch einmal zur »Eigenheit« (p. 213) wird, dagegen die »Gottes- und Gewissensstimme« für »Teufelswerk« zu halten sei, und dann renommiert er: »Solche heillose Menschen« (die das für Teufelswerk halten) »gibt es; wie werdet ihr mit ihnen fertig werden?« (p. 213, 214.) Aber nicht die Natur soll Mich, sondern Ich soll Meine Natur bestimmen, geht die Rede des mit sich einigen Egoisten. Und mein Gewissen ist auch eine »Naturstimme«.

Bei dieser Gelegenheit ergibt sich dann auch, daß das Tier »sehr richtige Schritte tut« (p. 213). Wir hören weiter, daß die »Freiheit darüber schweigt, was nun weiter geschehen soll, nachdem Ich frei geworden bin« (p. 215).[291] (Siehe »Das hohe Lied Salomonis«.) Die Exposition der obigen »tieferen Kluft« wird damit beschlossen, daß Sankt Sancho die Prügelszene wiederholt und sich diesmal etwas deutlicher über die Eigenheit ausspricht.

»Auch unfrei, auch in tausend Fesseln geschlagen, bin Ich doch, und Ich bin nicht etwa erst zukünftig und auf Hoffnung vorhanden, wie die Freiheit, sondern Ich bin auch als Verworfenster der Sklaven – gegenwärtig« (p. 215).

Hier stellt er also sich und »die Freiheit« als zwei Personen gegenüber, und die Eigenheit wird zum bloßen Vorhandensein, Gegenwart, und zwar der »verworfensten« Gegenwart. Hier ist die Eigenheit als bloße Konstatierung der persönlichen Identität. Stirner, der sich bereits oben als »Geheimer-Polizei-Staat« konstituierte, wirft sich hier zum Paßbüro auf. »Es sei ferne«, daß aus »der Welt des Menschen« »Etwas verlorengehe«! (Siehe »Das hohe Lied Salomonis«.)

Nach p. 218 kann man auch seine Eigenheit »aufgeben« durch die »Ergebenheit«, »Ergebung«, obwohl sie nach dem Obigen nicht aufhören kann, solange man überhaupt vorhanden ist, sei es auch in noch so »verworfner« oder »ergebner« Weise. Oder ist der »verworfenste« Sklave nicht der »ergebenste«? Nach einer der früheren Beschreibungen der Eigenheit kann man seine Eigenheit nur dadurch »aufgeben«, daß man sein Leben aufgibt.

p. 218 wird die Eigenheit einmal wieder als die eine Seite der Freiheit, als Macht, gegen die Freiheit als Lossein geltend gemacht und unter den Mitteln, durch die Sancho seine Eigenheit zu sichern vorgibt, »Heuchelei«, »Betrug« (Mittel, die Meine Eigenheit anwendet, weil sie sich den Weltverhältnissen »ergeben« mußte) usw. angeführt, »denn die Mittel, welche Ich anwende, richten sich nach dem, was Ich bin«. Wir haben schon gesehen, daß unter diesen Mitteln die Mittellosigkeit eine Hauptrolle spielt, wie sich auch wieder bei seinem Prozeß gegen den Mond zeigt (siehe oben, Logik). Dann wird die Freiheit zur Abwechslung als »Selbstbefreiung« gefaßt, »d.h., daß Ich nur so viel Freiheit haben kann, als Ich durch meine Eigenheit Mir verschaffe«, wo die bei allen, namentlich deutschen Ideologen vorkommende Bestimmung der Freiheit als Selbstbestimmung, als Eigenheit auftritt. Dies wird uns daran klargemacht, daß es »den Schafen« nichts »nützt«, »wenn ihnen die Redefreiheit gegeben wird« (p. 220). Wie trivial hier seine Auffassung der Eigenheit als Selbstbefreiung ist, sieht man schon aus seiner Wiederholung der bekanntesten Phrasen über oktroyierte Freiheit, Freilassung, Sich-Freimachen usw. (p. 220, 221). Der Gegensatz zwischen der[292] Freiheit als Lossein und der Eigenheit als Negation dieses Losseins wird nun auch poetisch ausgemalt:

»Die Freiheit weckt Euren Grimm gegen Alles, was ihr nicht seid« (sie ist also die grimmige Eigenheit, oder haben nach Sankt Sancho die bil[i]ösen Naturen, z.B. Guizot, keine »Eigenheit« ? Und genieße Ich Mich nicht im Grimm gegen Andre?), »der Egoismus ruft Euch zur Freude über Euch selbst, zum Selbstgenusse« (er ist also die sich freuende Freiheit; wir haben übrigens die Freude und den Selbstgenuß des >mit sich einigen Egoisten kennengelernt). »Die Freiheit ist und bleibt eine Sehnsucht« (als ob die Sehnsucht nicht auch eine Eigenheit, Selbstgenuß besonders geformter Individuen, namentlich der christlich-germanischen wäre – und soll die Sehnsucht »verlorengehen« ?). »Die Eigenheit ist eine Wirklichkeit, die von selbst so viel Unfreiheit beseitigt, als Euch hinderlich den eignen Weg versperrt«

(wo denn, ehe die Unfreiheit beseitigt ist, meine Eigenheit eine versperrte Eigenheit ist. Für den deutschen Kleinbürger ist es wieder bezeichnend, daß ihm alle Schränken und Hindernisse »von selbst« fallen, da er nie eine Hand dazu rührt und diejenigen Schranken, die nicht »von selbst« fallen, durch Gewohnheit zu seiner Eigenheit macht. Nebenbei bemerkt tritt hier die Eigenheit als handelnde Person auf, obwohl sie später zur bloßen Beschreibung des Eigners erniedrigt wird), p. 215.

Dieselbe Antithese erscheint uns wieder in folgender Form:

»Als Eigne seid ihr wirklich Alles los, und was Euch anhaftet, das habt ihr angenommen, das ist Eure Wahl und Belieben. Der Eigne ist der geborne Freie, der Freie dagegen nur der Freiheitssüchtige.«

Obgleich Sankt Sancho p. 252 »zugibt«, »daß jeder als Mensch geboren wird, mithin die Neugebornen darin gleich seien«.

Was ihr als Eigne nicht »los seid«, das ist »Eure Wahl und Belieben«, wie oben bei dem Sklaven die Prügel. – Abgeschmackte Paraphrase! – Die Eigenheit reduziert sich also hier auf die Einbildung, daß Sankt Sancho Alles, was er nicht »los« ist, aus freiem Willen angenommen und beibehalten habe, z.B. den Hunger, wenn er kein Geld hat. Abgesehen von den vielen Sachen, z.B. Dialekt, Skrofeln, Hämorrhoiden, Armut, Einbeinigkeit, Zwang zum Philosophieren durch die Teilung der Arbeit ihm aufgedrungen pp. – abgesehen davon, daß es keineswegs von ihm abhängt, ob er diese Sachen »annimmt« oder nicht, so hat er, selbst wenn wir uns für einen Augenblick auf seine Voraussetzungen einlassen, doch immer nur zwischen bestimmten, in seinem Bereiche liegenden und keineswegs durch seine Eigenheit gesetzten Dingen zu wählen. Als irischer Bauer hat er z.B. nur dazwischen zu wählen, ob er Kartoffeln essen oder verhungern will, und auch diese Wahl steht ihm nicht[293] immer frei. Zu bemerken ist noch in dem obigen Satze die schöne Apposition, wodurch, gerade wie im Recht, das »Annehmen« mit der »Wahl« und dem »Belieben« ohne weiteres Identifiziert wird. Was übrigens Sankt Sancho unter einem »geborenen Freien« versteht, ist weder in noch außer dem Zusammenhange zu sagen.

Und ist nicht auch ein ihm eingegebenes Gefühl sein von ihm angenommenes Gefühl? Und erfahren wir nicht p. 84, 85, daß die »eingegebnen« Gefühle nicht »eigne« Gefühle sind? Übrigens tritt hier, wie wir bei Klopstock (der hier als Beispiel angeführt wird) schon sahen, hervor, daß das »eigne« Verhalten keineswegs mit dem individuellen Verhalten zusammenfällt; obwohl dem Klopstock das Christentum »ganz recht« gewesen zu sein und ihm keineswegs »hinderlich den Weg versperrt zu haben« scheint.

»Der Eigner braucht sich nicht erst zu befreien, weil er von vornherein Alles außer sich verwirft... Befangen im kindlichen Respekt, arbeitet er gleichwohl schon daran, sich aus dieser Befangenheit zu ›befreien‹

Weil der Eigne sich nicht erst zu befreien braucht, arbeitet er schon als Kind daran, sich zu befreien, und das Alles, weil er, wie wir sahen, der »geborne Freie« ist. »Befangen im kindlichen Respekt«, reflektiert er bereits unbefangen, nämlich eigen, über diese seine eigne Befangenheit. Doch das darf uns nicht wundern – wir sahen schon im Anfang des Alten Testaments, welch ein Wunderkind der mit sich einige Egoist war.

»Die Eigenheit arbeitet in dem kleinen Egoisten und verschafft ihm die begehrte ›Freiheit‹.«

Nicht »Stirner« lebt, sondern die »Eigenheit« lebt, »arbeitet« und »verschafft« in ihm. Wir erfahren hier, daß nicht die Eigenheit die Beschreibung des Eigners, sondern der Eigner nur die Umschreibung der Eigenheit ist.

Das »Lossein« war, wie wir sahen, auf seiner höchsten Spitze das Lossein vom Eignen Selbst, Selbstverleugnung. Wir sahen ebenfalls, daß er hiergegen die Eigenheit als Behauptung seiner selbst, als Eigennutz geltend machte. Daß dieser Eigennutz aber selbst wieder Selbstverleugnung war, haben wir auch gesehen.

Wir vermißten seit einiger Zeit »das Heilige« schmerzlich. Wir finden es plötzlich auf p. 224 am Schluß der Eigenheit, ganz verschämt, wieder, wo es sich mit folgender neuen Wendung legitimiert:

»Zu einer Sache, die Ich eigennützig betreibe« (oder auch gar nicht betreibe), »habe Ich ein anderes Verhältnis als zu einer, welcher Ich uneigennützig diene« (oder auch welche Ich betreibe).[294]

Noch nicht zufrieden mit dieser merkwürdigen Tautologie, die Sankt Max aus »Wahl und Belieben« »angenommen« hat, tritt auf einmal der längst verschollene »Man« als die Identität des Heiligen konstatierender Nachtwächter wieder auf und meint, er

»könnte folgendes Erkennungszeichen anführen: Gegen Jene kann Ich Mich versündigen oder eine Sünde begehen« (sehenswerte Tautologie!), »die andre nur verscherzen, von Mir stoßen, Mich darum bringen, d.h. eine Unklugheit begehen«. (Wobei er sich verscherzen, sich um sich bringen, um sich gebracht – umgebracht werden kann.) »Beiderlei Betrachtungsweisen erfährt die Handelsfreiheit, indem sie« teils für das Heilige gehalten wird, teils nicht, oder wie Sancho selbst dies umständlicher ausdrückt, »indem sie teils für eine Freiheit angesehn wird, welche unter Umständen gewährt oder entzogen werden könne, teils für eine solche, die unter allen Umständen heilig zu halten sei.« p. 224, 225.

Sancho zeigt hier wieder eine »eigne« »Durchschauung« der Frage von der Handelsfreiheit und den Schutzzöllen. Ihm wird hiermit der »Beruf« gegeben, einen einzigen Fall aufzuweisen, wo die Handelsfreiheit 1. weil sie eine »Freiheit« ist und 2. »unter allen Umständen« »heilig« gehalten wurde. – Das Heilige ist zu allen Dingen nütze.

Nachdem, wie wir sahen, die Eigenheit vermittelst der logischen Antithesen und des phänomenologischen »Auch-anders-Bestimmtseins« aus der vorher zurechtgestutzten »Freiheit« konstruiert war, wobei Sankt Sancho Alles, was ihm gerade Recht war (z.B. die Prügel) in die Eigenheit, und alles, was ihm nicht recht war, in die Freiheit »verwarf«, erfahren wir schließlich, daß dies Alles noch nicht die wahre Eigenheit war.

»Die Eigenheit«, heißt es p. 225, »ist keine Idee, gleich der Freiheit pp., sie ist nur eine Beschreibung des – Eigners

Wir werden sehen, daß diese »Beschreibung des Eigners« darin besteht, die Freiheit in ihren drei von Sankt Sancho untergeschobenen Brechungen des Liberalismus, Kommunismus und Humanismus zu negieren, in ihrer Wahrheit zu fassen und diesen nach der entwickelten Logik höchst einfachen Gedankenprozeß die Beschreibung eines wirklichen Ich zu nennen.


Das ganze Kapitel von der Eigenheit reduziert sich auf die allertrivialsten Selbstbeschönigungen, mit denen sich der deutsche Kleinbürger über seine eigne Ohnmacht tröstet. Er glaubt gerade wie Sancho, in dem Kampfe der Bourgeoisinteressen gegen die Reste der Feudalität und absoluten Monarchie in andern Ländern handle es sich nur um die Prinzipienfrage, wovon »der[295] Mensch« frei werden solle. (Siehe auch oben den politischen Liberalismus.) Er sieht daher in der Handelsfreiheit nur eine Freiheit und kannegießert mit vieler Wichtigkeit und ganz wie Sancho darüber, ob »der Mensch« »unter allen Umständen« Handelsfreiheit haben müsse oder nicht. Und wenn, wie dies unter diesen Verhältnissen nicht anders möglich, seine Freiheitsbestrebungen ein jämmerliches Ende nehmen, so tröstet er sich, abermals wie Sancho, damit, daß »der Mensch« oder er selber doch nicht »von Altem frei werden« könne, daß die Freiheit ein sehr unbestimmter Begriff sei und selbst Metternich und Karl X. an die »wahre Freiheit« appellieren konnten (p. 210 »des Buchs«, wobei nur zu bemerken, daß gerade die Reaktionäre, namentlich die historische Schule und die Romantiker, ebenfalls ganz wie Sancho, die wahre Freiheit in die Eigenheit, z.B. der Tiroler Bauern, überhaupt in die eigentümliche Entwicklung der Individuen und weiter der Lokalitäten, Provinzen und Stände setzen) – und daß er als Deutscher, wenn er auch nicht frei sei, doch durch seine unbestreitbare Eigenheit für alle Leiden entschädigt werde. Er sieht, noch einmal wie Sancho, nicht in der Freiheit eine Macht, die er sich verschafft, und erklärt daher seine Ohnmacht für eine Macht.

Was der gewöhnliche deutsche Kleinbürger in aller Stille des Gemütes sich leise zum Troste sagt, posaunt der Berliner als geistreiche Wendung laut aus. Er ist stolz auf seine lumpige Eigenheit und eigne Lumperei.

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[Im Manuskript gestrichen:] Die Freiheit ist von den Philosophen bisher in doppelter Weise bestimmt worden; einerseits als Macht, als Herrschaft über die Umstände und Verhältnisse, in denen ein Individuum lebt, – von allen Materialisten; andrerseits als Selbstbestimmung, Lossein von der wirklichen Welt, als bloß imaginäre Freiheit des Geistes – von allen Idealisten, besonders den deutschen. – Nachdem wir vorhin in der »Phänomenologie« Sankt Maxens wahren Egoisten seinen Egoismus im Auflösen, im Produzieren des Losseins, der idealistischen Freiheit suchen sahen, nimmt es sich komisch aus, wie er im Kapitel von der Eigenheit die entgegengesetzte Bestimmung, die Macht über die ihn bestimmenden Umstände, die materialistische Freiheit gegenüber dem »Lossein« geltend macht.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1958, Band 3, S. 282-296.
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