a) Der maître d'école oder die neue Straftheorie. Das enthüllte Geheimnis des Zellularsystems. Medizinische Geheimnisse

[187] Der maître d'école ist ein Verbrecher von herkulischer Körperkraft und großer geistiger Energie. Er ist von Haus aus ein gebildeter und unterrichteter Mann. Er, der leidenschaftliche Athlet, gerät in Kollision mit den Gesetzen und Gewohnheiten der bürgerlichen Gesellschaft, deren allgemeines Maß die Mittelmäßigkeit, die zarte Moral und der stille Handel ist. Er wird zum Mörder und überläßt sich allen Ausschweifungen eines gewaltigen Temperaments, das nirgends eine angemessene menschliche Tätigkeit findet.

Rudolph hat diesen Verbrecher eingefangen. Er will ihn kritisch reformieren, er will an ihm ein Exempel für die juristische Welt statuieren. Er hadert mit der juristischen Welt nicht über die »Strafe« selbst, sondern über [187] die Art und Weise der Strafe. Er entdeckt nach dem bezeichnenden Ausdruck des Negerarztes David eine Straftheorie, die des »größten deutschen Kriminalisten« würdig wäre und die seither sogar das Glück gehabt hat, von einem deutschen Kriminalisten mit deutschem Ernst und deutscher Gründlichkeit verteidigt zu werden. Rudolph ahnt nicht einmal, daß man sich über die Kriminalisten erheben könne, sein Ehrgeiz geht darauf, »der größte Kriminalist«, primus inter pares, zu sein. Er läßt den maître d'école von dem Negerarzt David blenden.

Rudolph wiederholt zuerst alle trivialen Einwürfe gegen die Todesstrafe, sie sei wirkungslos auf den Verbrecher, sie sei wirkungslos auf das Volk, dem sie als ein unterhaltendes Schauspiel erscheine.

Rudolph statuiert ferner einen Unterschied zwischen dem maître d'école und der Seele des maître d'école. Nicht den Menschen, nicht den wirklichen maître d'école will er retten, sondern seiner Seelen Seelenheil.

»Das Heil einer Seele«, doziert er, »ist eine heilige Sache... Jedes Verbrechen büßt sich und läßt sich zurückerkaufen, hat der Erlöser gesagt, aber nur für den, der ernsthaft die Buße und die Reue will. Der Übergang vom Tribunal zum Schafott ist zu kurz... Du« (der maître d'école) »hast verbrecherisch deine Kraft mißbraucht. Ich werde deine Kraft paralysieren... du wirst vor dem Schwächsten zittern, deine Strafe wird deinem Verbrechen gleichkommen... aber diese fürchterliche Strafe wird dir wenigstens den grenzenlosen Horizont der Buße lassen... Ich trenne dich nur von der Außenwelt, um dich, allein mit der Erinnerung deiner Schandtaten, in eine undurchdringliche Nacht zu versenken... Du wirst gezwungen sein, in dich zu blicken... deine Intelligenz, die du degradiert hast, wird erwachen und dich zur Buße führen.«

Da Rudolph die Seele für heilig, den Leib des Menschen aber für profan hält, da er also nur die Seele als das wahre, weil dem Himmel – nach Herrn Szeligas kritischer Umschreibung der Menschheit – angehörige Wesen betrachtet, so gehört der Leib, die Kraft des maître d'école nicht der Menschheit an, ihre Wesensäußerung ist nicht menschlich zu bilden und der Menschheit zu vindizieren, sie ist nicht als ein selbstmenschliches Wesen zu behandeln. Der maître d'école hat seine Kraft mißbraucht, Rudolph paralysiert, lahmt, vernichtet diese Kraft. Es gibt kein kritischeres Mittel, um die verkehrten Äußerungen einer menschlichen Wesenskraft loszuwerden, als die Vernichtung dieser Wesenskraft. Es ist dies das christliche Mittel, welches das Auge ausreißt, wenn das Auge Ärgernis gibt, die Hand abschlägt, wenn die Hand Ärgernis gibt, mit einem Wort, den Leib tötet, wenn der Leib Ärgernis gibt, denn Auge, Hand, Leib sind eigentlich bloß überflüssige,[188] sündige Zutaten des Menschen. Man muß die menschliche Natur totschlagen, um ihre Krankheiten zu heilen. Auch die massenhafte Jurisprudenz, mit der kritischen hierin übereinstimmend, findet in der Lähmung, im Paralysieren der menschlichen Kräfte das Gegengift gegen die störenden Äußerungen dieser Kräfte.

Was Rudolph, den Mann der reinen Kritik, an der profanen Kriminalistik geniert, ist der zu rasche Übergang von dem Tribunal auf das Schafott. Er hingegen will die Rache am Verbrecher mit der Buße und dem Sündenbewußtsein des Verbrechers, die körperliche Strafe mit der geistlichen Strafe, die sinnliche Marter mit der unsinnlichen Marter der Reue verbinden. Die profane Strafe soll zugleich ein christlich-moralisches Erziehungsmittel sein.

Diese Straftheorie, welche die Jurisprudenz mit der Theologie verbindet, dies »enthüllte Geheimnis des Geheimnisses«, ist durchaus keine andere als die Straftheorie der katholischen Kirche, wie schon Bentham in seinem Werk »Theorie der Strafen und Belohnungen« weitläufig auseinandergesetzt hat. Ebenso hat Bentham in der angeführten Schrift die moralische Nichtigkeit der jetzigen Strafen bewiesen. Er nennt die gesetzlichen Züchtigungen »gerichtliche Parodien.«

Die Strafe, die Rudolph am maître d'école vollzieht. Ist dieselbe Strafe, die Origenes an sich selbst vollzog. Er entmannt ihn, er beraubt ihn eines Zeugungsgliedes, des Auges. »Das Auge ist des Leibes Licht.« Daß Rudolph gerade auf die Blendung verfällt, macht seinem religiösen Instinkt alle Ehre. Es ist die Strafe, die in dem ganz christlichen Reich von Byzanz an der Tagesordnung war und in der kräftigen Jugendperiode der christlich-germanischen Reiche von England und Frankreich blühte. Die Trennung des Menschen von der sinnlichen Außenwelt, das Zurückschleudern in sein abstraktes Innere, um ihn zu bessern – die Blendung – ist eine notwendige Konsequenz der christlichen Doktrin, nach welcher die vollendete Durchführung dieser Trennung, die reine Isolierung des Menschen auf sein spiritualistisches »Ich«, das Gute selbst ist. Wenn Rudolph nicht, wie es in Byzanz und im Frankenreiche geschah, den maître d'école in ein wirkliches Kloster steckt, so steckt er ihn wenigstens in ein ideales Kloster, in das Kloster einer undurchdringlichen, von dem Licht der Außenwelt nicht unterbrochenen Nacht, in das Kloster eines tatlosen Gewissens und eines Sündenbewußtseins, das nur mit gespenstischen Erinnerungen bevölkert ist.

Eine gewisse spekulative Scham erlaubt dem Herrn Szeliga nicht, offenherzig auf die Straftheorie seines Helden Rudolph, auf die Verbindung der weltlichen Strafe mit der christlichen Reue und Buße, einzugehen. Er schiebt ihm dagegen, versteht sich auch als der Welt erst zu enthüllendes Geheimnis,[189] die Theorie unter, wonach der Verbrecher in der Strafe zum »Richter« über sein »eignes« Verbrechen erhoben werden soll.

Das Geheimnis dieses enthüllten Geheimnisses ist die Hegelsche Straftheorie. Nach Hegel fällt der Verbrecher in der Strafe über sich selbst das Urteil. Gans hat diese Theorie weitläufiger ausgeführt. Sie ist bei Hegel das spekulative Schönpflaster des alten jus talionis, das Kant als die einzig rechtliche Straftheorie entwickelt hatte. Bei Hegel bleibt die Selbstrichtung des Verbrechers eine bloße »Idee«, eine bloß spekulative Interpretation der gangbaren empirischen Kriminalstrafen. Er überläßt daher ihren Modus der jedesmaligen Bildungsstufe des Staats, d.h., er läßt die Strafe bestehen, wie sie besteht. Eben hierin zeigt er sich kritischer als sein kritischer Nachbeter. Eine Straftheorie, welche zugleich im Verbrecher den Menschen anerkennt, kann dies nur in der Abstraktion, in der Einbildung tun, eben weil die Strafe, der Zwang dem menschlichen Verhalten widersprächen. In der Ausführung wäre die Sache zudem unmöglich. An die Stelle des abstrakten Gesetzes würde die rein subjektive Willkür treten, da es jedesmal von den offiziellen, »ehrbaren und anständigen« Männern abhängen müßte, die Strafe nach der Individualität des Verbrechers einzurichten. Schon Plato hat die Einsicht besessen, daß das Gesetz einseitig sein und von der Individualität abstrahieren muß. Unter menschlichen Verhältnissen dagegen wird die Strafe wirklich nichts anderes sein als das Urteil des Fehlenden über sich selbst. Man wird ihn nicht überreden wollen, daß eine äußere, ihm von andern angetane Gewalt eine Gewalt sei, die er sich selbst angetan habe. In den andern Menschen wird er vielmehr die natürlichen Erlöser von der Strafe finden, die er über sich selbst verhängt hat, d.h. das Verhältnis wird sich geradezu umkehren.

Rudolph spricht seinen innersten Gedanken – den Zweck der Blendung – aus, wenn er dem maître d'école sagt:

»Chacune de tes paroles sera une prière

Er will ihn beten lehren. Er will den herkulischen Räuber in einen Mönch verwandeln, dessen ganze Arbeit das Beten ist. Wie human ist gegen diese christliche Grausamkeit die gewöhnliche Straftheorie, welche einem Menschen einfach den Kopf abschlägt, wenn sie ihn vernichten will. Es versteht sich endlich von selbst, daß die wirkliche massenhafte Gesetzgebung, sooft es ihr ernstlich um die Besserung der Verbrecher zu tun war, ungleich verständiger und humaner verfuhr als der deutsche Harun al Raschid. Die vier holländischen Agrikulturkolonien, die Verbrecherkolonie Ostwald im Elsaß sind wahrhaft menschliche Versuche gegenüber der Blendung des maître[190] d'école. Wie Rudolph die Fleur de Marie entleibt, indem er sie dem Pfaffen und dem Sündenbewußtsein überliefert, wie er den Chourineur entleibt, indem er ihm seine menschliche Selbständigkeit raubt und ihn zum Bulldoggen herabwürdigt, so entleibt er den maître d'école, indem er ihm die Augen aussticht, damit er »beten« lerne.

Dies ist allerdings die Weise, wie alle Wirklichkeit »einfach« aus der »reinen Kritik« hervorgeht, nämlich als Entstellung und sinnlose Abstraktion von der Wirklichkeit.

Herr Szeliga läßt sogleich nach der Blendung des maître d'école ein moralisches Wunder sich ereignen.

»Der furchtbare Schulmeister erkennt« nach seinem Bericht »›plötzlich‹ die Macht der Ehrlichkeit und Redlichkeit an, er sagt zum Schurimann: Ja, dir kann ich verhauen, du hast niemals gestohlen

Unglücklicherweise hat Eugen Sue eine Äußerung des maître d'école über Chourineur aufbewahrt, welche dieselbe Anerkennung enthält und keine Wirkung der Blendung sein kann, weil sie vor derselben stattgefunden hat. Der maître d'école äußert sich nämlich in seinem tête-à-tête mit Rudolph über Chourineur dahin:

»Du reste il n'est pas capable de vendre un ami. Non: il a du bon... il a toujours eu des idées singuliéres.«

Das moralische Wunder des Herrn Szeliga wäre hiermit vernichtet. Wir betrachten nun die wirklichen Ergebnisse von Rudolphs kritischer Kur.

Wir finden den maître d'école zunächst auf einer Expedition mit der Chouette nach dem Gut zu Bouqueval, um der Fleur de Marie einen schlechten Streich zu spielen. Der Gedanke, der ihn beherrscht. Ist natürlich der Gedanke der Rache gegen Rudolph, und er weiß sich nur metaphysisch an ihm zu rächen, indem er ihm zum Trotz, »das Böse« denkt und ausheckt.

»Il m'a ôté la vue, il ne m'a pas ôté la pensée du mal.«

Er erzählt der Chouette, warum er sie aufsuchen ließ:

»Ich langweilte mich, ich ganz allein mit diesen honetten Leuten.«

Wenn Eugen Sue seine mönchische, seine bestialische Wollust an der Selbsterniedrigung des Menschen so weit befriedigt, daß er den maître d'école auf den Knien vor der alten Hexe Chouette und dem kleinen Kobold[191] Tortillard flehen läßt, ihn nicht zu verlassen, so vergißt der große Moralist, daß er der Chouette die Blume eines teuflischen Selbstgenusses reicht. Wie Rudolph dem Verbrecher die Macht der physischen Gewalt, die er ihm als nichtig darstellen will, eben durch die gewalttätige Blendung bewies, so lehrt hier Eugen Sueden maître d'école die Macht der vollen Sinnlichkeit erst recht anerkennen. Er lehrt ihn einsehen, daß ohne sie der Mensch entmannt ist und zur widerstandslosen Zielscheibe des Kinderspottes wird. Er überzeugt ihn, daß die Welt seine Verbrechen verdient hat, weil er nur die Augen zu verlieren braucht, um von ihr mißhandelt zu werden. Er raubt ihm seine letzte menschliche Illusion, denn der maître d'école glaubt an die Anhänglichkeit der Chouette. Er hatte zu Rudolph geäußert: »Sie würde sich für mich ins Feuer werfen lassen.« Dagegen genießt Eugen Sue die Satisfaktion, daß der maître d'école in höchster Verzweiflung ausruft:

»Mon dieu! mon dieu! mon dieu!«

Er hat »beten« gelernt! Und Herr Sue findet in diesem »appel involontaire de la commisération divine, quelque chose de providentiel.«

Die erste Folge der Rudolphschen Kritik ist dies unwillkürliche Gebet. Ihm folgt auf dem Fuße eine unfreiwillige Buße im Pachthof zu Bouqueval, wo dem maître d'école im Traum die Gespenster der Gemordeten erscheinen.

Wir überschlagen die weitläufige Schilderung dieses Traums, um den kritisch-reformierten maître d'école im Keller des Bras rouge, angeschmiedet an Ketten, von Ratten halb zerfressen, halb verhungert, von den Quälereien der Chouette und des Tortillard halb verrückt, brüllend wie ein Vieh, wiederzufinden. Tortillard hat die Chouette in seine Hände geliefert. Betrachten wir ihn während der Operation, die er mit ihr vornimmt. Er kopiert den Helden Rudolph nicht nur äußerlich, indem er der Chouette die Augen auskratzt, sondern auch moralisch, indem er Rudolphs Heuchelei wiederholt und seine grausame Handlung mit devoten Redensarten ausschmückt. Sobald der maître d'école die Chouette in seiner Gewalt hat, äußert er »une joie effrayante«, seine Stimme zittert vor Wut.

»Tu sens bien«, sagt er, »que je ne veux pas en finir tout de suite... torture pour torture... il faut que je te parle longuement avant de te tuer ... ça va être affreux pour toi. D'abord, vois-tu... depuis ce rêve de la ferme de Bouqueval, qui m'a remis sous les yeux tous nos crimes, depuis ce rêve, qui à manqué de me rendre fou... qui me rendra fou... il s'est passe en mol un changement étrange... J'ai eu horreur de ma férocité passée... d'abord je ne t'ai pas permis de martyriser la goualeuse, cela[192] n'était rien encore... en m'entraînant ici dans cette cave, en m'y faisant souffrir le froid et la faim... tu m'as laisse tout à l'épouvante de mes réflexions... Oh! tu ne sais pas ce que c'est que d'être seul... l'isolement m'a purifié. Je ne l'aurais pas cru possible... une preuve que je suis peut-être moins scélérat qu'autrefois... ce que j'éprouve une joie infinie à ternir là...monstre... non pour me venger, mais... mais pour venger nos victimes... oui, j'aurai accompli un devoir quand de ma propre main j'aurai puni ma complice... j'ai maintenant horreur de mes meurtres passés, et pourtant... trouves-tu pas cela bizarre? c'est sans crainte, c'est avec sécurité que je vais commettre sur toi un meurtre affreux avec des raffinements affreux... dis... dis... conçois-tu cela?«

Der maître d'école durchläuft in diesen wenigen Worten eine ganze Tonleiter moralischer Kasuistik.

Seine erste Äußerung ist eine offenherzige Äußerung der Rachelust. Er will Tortur für Tortur geben. Er will die Chouette morden, er will ihre Todesangst durch einen langen Sermon verlängern, und – köstliche Sophistik! – diese Rede, womit er sie peinigt, ist ein moralischer Sermon. Er behauptet, der Traum zu Bouqueval habe ihn gebessert. Er offenbart zugleich die eigentliche wahre Wirkung dieses Traums, indem er gesteht, daß er ihn fast verrückt gemacht habe, daß er ihn verrückt machen wird. Als einen Beweis seiner Besserung führt er an, daß er die Peinigung der Fleur de Marie verhindert habe. Bei Eugen Sue müssen die Personen, früher der Chourineur, hier der maître d'école, seine eigene schriftstellerische Absicht, welche ihn bestimmt, sie so und nicht anders handeln zu lassen, als ihre Reflexion, als das bewußte Motiv ihrer Handlung aussprechen. Sie müssen beständig sagen: Hierin hab' ich mich gebessert, darin, darin etc. Da sie zu keinem wirklich[193] inhaltsvollen Leben kommen, so müssen sie unbedeutenden Zügen, wie hier der Beschützung der Fleur de Marie, durch ihre Zunge starke Töne verleihen.

Nachdem der maître d'école die wohltätige Wirkung des Traumes zu Bouqueval berichtet hat, muß er erklären, warum Eugen Sue ihn in einen Keller einsperren ließ. Er muß das Verfahren des Romanschreibers vernünftig finden. Er muß der Chouette sagen: Dadurch, daß du mich in einen Keller einsperrtest, mich von Ratten benagen, mich Hunger und Durst leiden ließest, hast du meine Besserung vollendet. Die Einsamkeit hat mich gereinigt.

Das tierische Gebrüll, die rasende Wut, die furchtbare Rachelust, womit der maître d'école die Chouette empfängt, schlagen dieser moralischen Phraseologie ins Gesicht. Sie verraten den Charakter der Reflexionen, die er in seinem Kerker anstellte.

Der maître d'école scheint dies selbst zu empfinden, aber als ein kritischer Moralist wird er die Widersprüche zu vereinigen wissen.

Eben die »grenzenlose Freude«, die Chouette in seiner Gewalt zu haben, erklärt er für ein Zeichen seiner Besserung. Seine Rachlust ist nämlich keine natürliche, sondern eine moralische Rachlust. Nicht sich, sondern seine und Chouettes gemeinschaftliche Opfer will er rächen. Wenn er sie mordet, so begeht er keinen Mord, er erfüllt eine Pflicht. Er rächt sich nicht an ihr, er bestraft als ein unparteiischer Richter seine Mitschuldige. Er hat einen Schauder vor seinen vergangenen Mordtaten, und dennoch – er selbst ist über seine Kasuistik verwundert – und dennoch fragt er die Chouette, findest du es nicht bizarr? furchtlos, sorglos will ich dich töten! Aus nicht angegebenen moralischen Gründen weidet er sich zugleich an dem Gemälde des Mords, den er begehen will, als eines meurtre affreux, als eines meurtre avec des raffinements affreux.

Daß der maître d'école die Chouette mordet, entspricht seinem Charakter, namentlich nach der Grausamkeit, womit sie ihn mißhandelt hat. Daß er aber aus moralischen Motiven mordet, daß er seine barbarische Freude an dem meurtre affreux, an den raffinements affreux moralisch interpretiert, daß er die Reue über die vergangenen Mordtaten eben in der Vollbringung einer neuen Mordtat bewährt, daß er aus einem einfachen ein doppelsinniger, ein moralischer Mörder geworden ist – das ist das glorreiche Resultat von Rudolphs kritischer Kur.

Die Chouette sucht sich dem maître d'école zu entziehen. Er bemerkt es und hält sie fest.

[194] »Tiens-toi donc, la chouette, il faut que je finisse de t'expliquer comment peu à peu j'en suis venu à me repentir... cette révélation te sera odieuse... et ellete prouvera aussi combien je dois être impitoyable dans la vengeance, que je veux exercer sur toi au nom de nos victimes... Il faut que je me hâte... la joie de te tenir là me fait boudir le sang... j'aurai le temps de te rendre les approches de la mort effroyables en te forçant de m'entendre... Je suis aveugle... et ma pensée prend une forme, un corps pour me représenter incessamment d'une manière visible, presque palpable... les traits de mes victimes... les idées s'imagent presque matériellement dans le cerveau. Quand au repentir se joint une expiation d'une effrayante sévérité... une expiation qui change notre vie en une longue insomnie remplie d'hallucinations vengeresses ou de réflexions désespérées... peut-être alors le pardon des hommes succède au remords et à l'expiation.«

Der maître d'école fährt fort in seiner Heuchelei, die sich jeden Augenblick als Heuchelei verrät. Chouette soll hören, wie er nach und nach zur Reue gekommen ist. Diese Enthüllung wird ihr gehässig sein, denn sie wird beweisen, daß es seine Pflicht ist, eine unbarmherzige Rache nicht in seinem eignen Namen, sondern im Namen ihrer gemeinschaftlichen Opfer an ihr zu vollziehen. Plötzlich unterbricht der maître d'école seine didaktische Vorlesung. Er muß, wie er sagt, »eilen« mit seiner Lektion, denn: die Freude, sie zu halten, macht das Blut in seinen Adern springen; moralischer Grund, die Vorlesung abzukürzen! Dann beschwichtigt er wieder sein Blut. Die lange Zeit, während welcher er ihr Moral predigt, ist ja nicht für seine Rache verloren. Sie wird ihr »die Annäherung des Todes fürchterlich machen.« Anderer moralischer Grund, seinen Sermon auszuspinnen! Und nun, nach diesen moralischen Gründen, kann er getrost seinen moralischen Text wieder da aufnehmen, wo er ihn hat fallenlassen.

Der maître d'école beschreibt richtig den Zustand, worin die Isolierung von der Außenwelt den Menschen stürzt. Der Mensch, dem die sinnliche Welt zu einer bloßen Idee wird. Ihm verwandeln sich dagegen bloße Ideen in sinnliche Wesen. Die Gespinste seines Gehirns nehmen körperliche Form an.[195] Innerhalb seines Geistes erzeugt sich eine Welt von greifbaren, fühlbaren Gespenstern. Das ist das Geheimnis aller frommen Visionen, das ist zugleich die allgemeine Form der Verrücktheit. Der maître d'école, der die Phrasen Rudolphs über die »Macht der Reue und Buße, verbunden mit schrecklichen Martern« wiederholt, wiederholt sie daher sehen als ein halb Verrückter und bewährt so tatsächlich den Zusammenhang des christlichen Sündenbewußtseins mit dem Wahnsinn. Ebenso, wenn der maître d'école die Verwandlung des Lebens in eine Traumnacht, die von Blendwerken erfüllt wird, als das wahre Ergebnis der Reue und Buße betrachtet, so spricht er das wahre Geheimnis der reinen Kritik und der christlichen Besserung aus. Sie besteht eben dann, den Menschen in ein Gespenst und sein Leben in ein Traumleben zu verwandeln.

Eugen Sue empfindet an diesem Punkt, wie sehr die heilsamen Gedanken, die er den blinden Räuber dem Rudolph nachplaudern läßt, durch dessen Verfahren gegen die Chouette blamiert werden. Er legt daher dem maître d'école in den Mund:

»La salutaire influence de ces pensées est telle que ma fureur s'apaise.«

Der maître d'école gesteht also nun, daß sein moralischer Zorn nichts anders als eine profane Wut war.

»Le courage... la force... la volonté me manquent pour te tuer... non, ce n'est pas à moi de verser ton sang... ce serait... un meurtre«, er nennt die Sache bei ihrem Namen... »meurtre excusable peut-être... mais ce serait toujours un meurtre.«

Zu rechter Zeit verwundet die Chouette den maître d'école mit ihrem Stilett. Eugen Sue kann ihn nun ohne weitere moralische Kasuistik die Chouette töten lassen.

»Il poussa un cri de douleur... les ardeurs féroces de sa vengeance, de ses rages, ses instincts sanguinaires, brusquement réveillés et exasperés par cette attaque, firent une explosion soudaine, terrible, où s'abîma sa raison déjà fortement ébranlée... Ah vipère!... j'ai sentita dent... tu seras comme moi sans yeux

Er kratzt ihr die Augen aus.[196]

In dem Augenblick, wo die durch Rudolphs Kur nur heuchlerisch, nur sophistisch verbrämte, nur asketisch übermannte Natur des maître d'école hervorbricht, ist die Explosion um so gewaltsamer und fürchterlicher. Eugen Sues Geständnis, wonach die Vernunft des maître d'école, durch alle Ereignisse, die Rudolph vorbereitet hatte, schon stark erschüttert war, ist dankenswert.

»Der letzte Strahl seiner Vernunft erlosch in diesem Schrei des Entsetzens, in diesem Schrei eines Verdammten« (er sieht die Gespenster der Ermordeten)... »der maître d'école tobt und brüllt wie ein rasendes Tier... Er schleift die Chouette zu Tode.«

Herr Szeliga murmelt in seinen Bart:

»Mit dem Schulmeister kann nicht eine so schnelle (!) und glückliche (!) Umwandlung (!) als mit dem Schurimann vorgehen.«

Wie Rudolph die Fleur de Marie zur Bewohnerin des Klosters, so macht er den maître d'école zum Bewohner des Irrenhauses, des Bicêtre. Er hat nicht nur seine physische, er hat auch seine geistige Kraft paralysiert. Und mit Recht. Denn nicht nur mit der physischen, auch mit der geistigen Kraft hat er gesündigt, und nach der Straftheorie Rudolphs muß man die sündigenden Kräfte vernichten.

Aber noch hat Herr Eugen Sue »die Buße und Reue, verbunden mit einer schrecklichen Rache«, nicht vollendet. Der maître d'école kommt wieder zu Verstand, bleibt aber aus Furcht, der Justiz ausgeliefert zu werden. Im Bicêtre und spielt den Verrückten. Herr Sue vergißt, daß »jedes seiner Worte ein Gebet sein sollte« und daß es schließlich vielmehr das unartikulierte Heulen und Rasen eines Wahnsinnigen ist, oder stellt etwa ironischerweise Herr Sue diese Lebensäußerung mit dem Beten auf eine Rangstufe?

Die Idee der Strafe, welche Rudolph in der Blendung des maître d'école anwendet, diese Isolierung des Menschen auf seine Seele und von der Außenwelt, die Verbindung der juristischen Strafe mit der theologischen Quälerei, hat ihre entschiedenste Ausführung – im Zellularsystem. Herr Sue feiert daher auch das Zellularsystem.

»Wie vieler Jahrhunderte bedurfte es, um zu erkennen, daß es nur ein Mittel gibt, um den reißend um sich greifenden Aussatz, welcher den sozialen Körper bedroht« (nämlich die Verdorbenheit in den Gefängnissen), »zu tilgen – die Isolierung.«

Herr Sue teilt die Ansicht der honetten Leute, Welche die Ausbreitung der Verbrechen aus der Einrichtung der Gefängnisse erklären. Um den Verbrecher der schlechten Gesellschaft zu entziehen, überlassen sie ihn seiner eignen Gesellschaft.[197]

Herr Eugen Sue erklärt:

»Ich würde mich glücklich schätzen, wenn meine schwache Stimme unter all denen gehört werden könnte, welche mit so großem Recht und so großer Beharrlichkeit auf die vollständige, absolute Anwendung des Zellularsystems dringen.«

Herrn Sues Wunsch ist nur teilweise in Erfüllung gegangen. In den diesjährigen Verhandlungen der Deputiertenkammer über das Zellularsystem mußten sogar die offiziellen Verteidiger dieses Systems zugestehn, daß es früher oder später die Verrücktheit der Verbrecher zur Folge habe. Alle Gefängnisstrafe über 10 Jahre mußte daher in Deportation verwandelt werden.

Hätten Herr Tocqueville und Herr Beaumont den Roman Eugen Sues gründlich studiert, sie hätten unfehlbar die absolute, vollständige Anwendung des Zellularsystems durchgesetzt.

Wenn Eugen Sue nämlich den Verbrechern bei gesundem Verstande die Gesellschaft entzieht, um sie verrückt zu machen, so gibt er den Verrückten Gesellschaft, um sie zu Verstand zu bringen.

»L'expérience prouve que pour les aliénés l'isolement est aussi funeste qu'il est salutaire pour les détenus criminels.«

Wenn nun Herr Sue und sein kritischer Held Rudolph weder mit der katholischen Straftheorie noch mit dem methodistischen Zellularsystem das Recht um irgendein Geheimnis ärmer gemacht haben, so haben sie dagegen die Medizin mit neuen Geheimnissen bereichert, und am Ende ist es ebenso verdienstvoll, neue Geheimnisse zu entdecken, als alte Geheimnisse zu enthüllen. Die kritische Kritik berichtet mit Herrn Sue übereinstimmend über die Blendung des maître d'école:

»Er glaubt nicht einmal, wenn man ihm sagt, er sei des Lichts seiner Augen beraubt.«

Der maître d'école konnte nicht an den Verlust des Augenlichts glauben, weil er wirklich noch sah, Herr Sue beschreibt einen neuen Star, er teilt ein wirkliches Geheimnis für die massenhafte, unkritische Ophthalmologie mit.

Die Pupille ist weiß nach der Operation. Es handelt sich also um einen Linsenstar. Diesen hat man freilich bis jetzt wohl durch Verletzung der Linsenkapsel herbeiführen können, auch ziemlich schmerzlos, wenn auch nicht völlig ohne Schmerz. Da aber die Mediziner nur auf naturgemäßem, nicht auf kritischem Wege dies Resultat erreichen, so blieb nichts übrig, als nach der[198] Verletzung die Entzündung mit ihrer plastischen Ausschwitzung abzuwarten, um eine Trübung der Linse zu erhalten.

Ein noch größeres Wunder und Geheimnis trägt sich im 3. Kapitel des 3. Bandes mit dem maître d'école zu.

Der Erblindete sieht wieder:

»La chouette, le maître d'école et Tortillard virent le prêtre et Fleur de Marie.«

Wollen wir dieses Sehen des maître d'école nun nicht nachdem Vorgang der »Kritik der Synoptiker« als ein schriftstellerisches Wunder deuten, so wird der maître d'école sich seinen Star wieder haben operieren lassen. Später ist er wieder erblindet. Er hat also sein Auge zu früh gebraucht, durch Lichtreiz ist eine Entzündung herbeigeführt worden, welche mit einer Lähmung der Retina endete und eine unheilbare Amaurose bewirkte. Daß dieser Prozeß hier in einer Sekunde vor sich geht. Ist ein neues mystère für die unkritische Ophthalmologie.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957, Band 2, S. 187-199.
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