b) Belohnung und Strafe. Die doppelte Justiz, nebst Tabelle

[199] Held Rudolph enthüllt die neue Theorie, welche die Gesellschaft durch Belohnung der Guten und Bestrafung der Bösen aufrechterhält. Unkritisch betrachtet, ist diese Theorie keine andre als die Theorie der heutigen Gesellschaft. Wie wenig läßt sie es an Belohnungen für die Guten und an Strafen für die Bösen fehlen! Gegen dies enthüllte Geheimnis, wie unkritisch ist nicht der massenhafte Kommunist Owen, der in der Strafe und Belohnung die Heiligung der gesellschaftlichen Rangunterschiede und den vollkommnen Ausdruck einer knechtischen Verworfenheit erblickt.

Als neue Enthüllung könnte es erscheinen, daß Eugen Sue von der Justiz von einem Pendant zur Kriminaljustiz die Belohnungen ausgehn läßt und, unzufrieden mit einer Gerichtsbarkeit, zwei erfindet. Leider ist auch dies enthüllte Geheimnis die Wiederholung einer alten, von Bentham in seinem oben angeführten Buche weitläufig entwickelten Lehre. Dagegen soll Herrn Eugen Sue die Ehre nicht streitig gemacht werden, auf eine ungleich kritischere Weise wie Bentham seinen Vorschlag motiviert und entwickelt zu haben. Während der massenhafte Engländer ganz auf ebener Erde stehenbleibt, erhebt sich die Suesche Deduktion in die kritische Region des Himmels. Herr Sue entwickelt wie folgt:

»Um die Bösen zu schrecken, materialisiert man die vorweggenommenen Wirkungen des himmlischen Zorns. Warum sollte man nicht die Wirkung der göttlichen[199] Belohnung in bezug auf die Guten in ähnlicher Weise materialisieren und auf Erden antizipieren?«

Nach unkritischer Ansicht hat man umgekehrt in der himmlischen Kriminaltheorie nur die irdische idealisiert, wie man in der göttlichen Belohnung nur die menschliche Lohndienerei idealisiert hat. Wenn die Gesellschaft nicht alle Guten belohnt, so ist dies unumgänglich nötig, damit die göttliche Gerechtigkeit doch irgend etwas vor der menschlichen voraus habe.

Herr Sue gibt nun in der Ausmalung seiner kritisch belohnenden Justiz »ein Beispiel jenes weiblichen«, von Herrn Edgar an der Flora Tristan mit aller »Ruhe des Erkennens« gerügten »Dogmatismus, der eine Formel haben will und sich dieselbe nach den Kategorien des Bestehenden bildet.« Herr Eugen Sue entwirft zu jedem Stück der bestehenden Kriminaljustiz, die er bestehen läßt, ein bis ins Detail kopierendes Gegenbild der belohnenden Justiz, die et hinzufügt. Wir wollen, zur leichteren Übersicht des Lesers, seine Schilderung von Bild und Gegenbild in eine Tabelle zusammenbringen.

Herr Sue, von dem Anblick dieses Gemäldes ergriffen, ruft aus:

»Hélas, c'est une utopie, mais supposez qu'une société soit organisée de telle sorte!«

Das wäre also die kritische Organisation der Gesellschaft. Wir müssen diese Organisation gegen den Vorwurf Eugen Sues, daß sie bisher noch ein Utopien geblieben sei, förmlich in Schutz nehmen. Sue hat den »Tugendpreis«, der jährlich in Paris ausgeteilt wird und den er selbst erwähnt, wieder vergessen. Dieser Preis ist sogar doppelt organisiert, der materielle prix Montyon für edle Handlungen der Männer und Frauen, und der prix rosière für die sittsamsten Mädchen. Hier fehlt sogar die von Eugen Sue verlangte Rosen-Krone nicht.

Was die espionnage de vertu wie die surveillance de haute charité morale betrifft, so ist sie von den Jesuiten längst organisiert. Überdem signalisieren und denunzieren das »Journal des Débats«, der »Siècle«, die »Petites Affiches de Paris« etc. die Tugenden, edlen Handlungen und Verdienste sämtlicher Pariser Stockjobbers täglich zu kostenden Preisen, abgesehen vom Signalisieren und Denunzieren der politischen edlen Handlungen, für welche jede Partei ihr eignes Organ besitzt.

Schon der alte Voß hat bemerkt, daß Homer besser ist als seine Götter. Das »enthüllte Geheimnis aller Geheimnisse«, Rudolph, können wir daher für Eugen Sues Ideen verantwortlich machen.


Tabelle der kritisch vollständigen Justiz

[200] Bestehende Justiz

Kritisch ergänzende Justiz


Namen: Justice Criminelle

Namen: Justice Vertueuse


Signalement: hält in der Hand

ein Schwert, um die Bösen

um einen Kopf zu verkürzen.

Signalement: hält in der Hand eine Krone, um die Guten um einen Kopf zu erhöhen.


Zweck: Bestrafung des Bösen,

Gefangenschaft, Infamie, Lebensberaubung.

Das Volk erfährt die schreckliche

Züchtigung für den Bösen.

Zweck: Belohnung des Guten, Freitisch, Ehre, Lebenserhaltung.

Das Volk erfährt den eklatanten Triumph für den Guten.


Mittel, um die Bösen zu entdecken:

Polizeiliche Spionage, Mouchards,

um den Bösen aufzulauern.

Mittel, um die Guten zu entdecken: Espionage de vertu, Mouchards, um den Tugendhaften aufzulauern.


Entscheidung, ob einer ein Böser sei:

Les assises du crime, Assisen für das

Verbrechen. Das öffentliche Ministerium

signalisiert die Verbrechen des Angeklagten

und denunziert sie der öffentlichen Rache.

Entscheidung, ob einer ein Guter sei: Assises de la vertu, Assisen für die Tugend. Das öffentliche Ministerium signalisiert die edlen Handlungen des Angeklagten und denunziert sie der öffentlichen Erkenntlichkeit.


Zustand des Verbrechers nach dem Urteil:

Er steht unter der surveillance de la haute

police. Er wird ernährt im Gefängnis. Der

Staat macht Ausgaben für ihn.

Zustand des Tugendhaften nach dem Urteil: Er steht unter der surveillance de la haute charité morale. Er wird ernährt in seinem Hause. Der Staat macht Ausgaben für ihn.


Exekution: Der Verbrecher steht auf

dem Schafott.

Exekution: Grade gegenüber dem Schafott des Verbrechers erhebt sich ein Piedestal, worauf der grand homme de bien steigt – ein Tugendpranger.[201]


Überdem berichtet Herr Szeliga:

»Außerdem sind der Stellen, mit denen Eugen Sue die Erzählung unterbricht, Episoden einleitet und schließt, sehr viele, und alle sind Kritik«

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957, Band 2, S. 199-202.
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