IX. Das Kleinseitner Gymnasium.

[85] So hatte mir der Krieg zugleich zum Besuche des Kleinseitner Gymnasiums und zu dem Gewinne nationaldeutscher Stimmungen verholfen. Ich trat mit sehr guten und mit sehr ernsten Absichten in das Gymnasium ein, wo deutscher Geist herrschen sollte. Der Ordinarius der sechsten Klasse, der bis zur Maturitätsprüfung mein Ordinarius blieb, war sogar einer aus dem Reich, ein Rheinländer. »Ein Rheinländer«, dachte ich andächtig und fühlte mich gehoben. Burgruinen, Lorelei, Rote Erde, Kölner Dom, überhaupt der Vater Rhein. Geographisch war die Sache nicht ganz klar, aber ich, der ich den Mann noch nicht kannte, war begeistert.

Der Ruf der Schule hatte nicht gelogen; ich kam in den Unterricht (leider wieder nicht unter die individuell erziehende Leitung) braver und tüchtiger Lehrer, vor deren Wissen wir Achtung haben mußten. Von diesem dankbaren Lobe muß ich leider gerade den Ordinarius ausnehmen, den schwärmerisch begrüßten Rheinländer. Wir hatten uns während des Sommers in den preußischen Landwehrmann verliebt; jetzt empörte der preußische Oberlehrer unsere besten österreichischen Gefühle. Ich glaube, es wäre uns schwer gefallen, uns auch unter einem vorzüglichen norddeutschen Oberlehrer an die preußische Zucht zu gewöhnen; unsere österreichische Schlamperei, dieses behagliche[85] und erquickliche Sichgehenlassen, hätte unter den strengen Ansprüchen der deutschen Gelehrtenschule gelitten; aber wir wären froh gewesen, etwas Gründliches zu lernen, und hätten uns für die Übertreibung der Schuldisziplin durch irgendwelche Schülerstreiche schon schadlos gehalten. Unser preußischer Ordinarius aber war ein gewissenloser Lehrer, unglaublich arbeitsscheu und eine boshafte Kröte dazu; wir waren so unerfahren, alle diese Eigenschaften auf den reichsdeutschen Oberlehrer zu übertragen, weil unser Ordinarius sich durch sein immer gerühmtes Fachwissen – uns hat er fast niemals etwas davon mitgeteilt – und durch einen Anzug nach der neuesten Mode von den einheimischen Lehrern unterschied.

Über die Charaktereigentümlichkeit dieses unwahrscheinlichen Lehrers möchte ich lieber kurz hinweggehen. Er hat uns einzig und allein in Bosheit unterrichtet; er kannte kein größeres Vergnügen als seinen unbeträchtlichen Witz auf Kosten einiger Sündenböcke leuchten zu lassen. Diese Sündenböcke waren einige Tschechen, meistens tüchtige Burschen, die auf dem Kleinseitner Gymnasium deutsch lernen wollten und vorläufig noch allerlei Sprachfehler begingen. Wegen solcher Fehler zog der Ordinarius sie auf und quälte sie bis aufs Blut. Gar manche Stunde verging von der ersten bis zu der letzten Minute mit solcher Schrauberei, wir andern hatten die Aufgabe, jeden Witz des Lehrers mit schallender Heiterkeit zu begleiten. Wer junge Leute kennt und weiß, wie schadenfroh sie sind und wie gern sie sich um ernste Arbeit herumdrücken, der wird es freundlich anerkennen, daß wir diesem Unfug endlich in der siebenten Klasse (Unterprima) aus eigener Kraft ein Ende machten. Es wurde ein Klassenbeschluß[86] gefaßt, über solche Witze des Ordinarius nicht mehr zu lachen. Unbezahlbar war sein Gesicht, als er am nächsten Tage einen der Unglücklichen wieder zu schrauben anfing und kein Gelächter ihn belohnte; er versuchte es mit stärkern und stärkern Späßen; aber wir blieben ernst und da verstand er endlich. Er machte keine Witze mehr, er begann die ganze Klasse zu quälen und sich an den Rädelsführern zu rächen, die zu erraten nicht schwer war. Schließlich scheute er auch diese Arbeit, kehrte zu seinen Gewohnheiten zurück und machte nur immer ein betrübtes Gesicht, wenn nicht gelacht wurde. Übrigens wurde die Schülerehre in meiner Klasse streng aufrechterhalten. Petzen wurde nicht geduldet. Ich weiß nicht, ob es auch in andern Schulen üblich ist, die Petzer so zu bestrafen, wie wir es einmal taten. Der Schuldige wurde an dem Henkel seines Überrocks an einen Kleiderriegel gehenkt und in dieser Lage ermahnt, ein anständiges, männliches Betragen zu versprechen.

Alle unsere andern Lehrer waren Österreicher und unterschieden sich in vielen Dingen von dem Preußen, den der Haß der guten Katholiken unter uns überdies für einen Protestanten ausgab. Mit Unrecht; die boshafte Kröte war katholisch.

Besonders auffallend war der Gegensatz zwischen diesem Preußen und unserem Geschichtsprofessor, unserem lieben Ulrich, einem behäbigen dicklichen Herrn, dem man es wohl ansah, daß er sein abendliches Schöppchen liebte. Er trat jedesmal mit einem gemütlichen Worte in die Klasse, lehnte jede Feierlichkeit und Pedanterie ab und behandelte uns mit einer Ironie, hinter welcher sich Herzensgüte verbarg. Er erkundigte sich nicht ohne Neugier nach dem oder jenem Ärger, den[87] wir mit andern Lehrern gehabt hatten, tröstete uns und ließ wohl eine ganze Viertelstunde mit Privatmitteilungen verstreichen. Bald hatte er Rheumatismus, nannte uns die Mittel, die er dagegen anwandte und erzählte bei dieser Gelegenheit allerlei aus der Chemie; bald erwähnte er irgendein Tagesereignis und erklärte es uns auf seine Weise. Wir glaubten, er vertrödelte die Zeit; in Wahrheit lernten wir so die Gedankengänge eines erfahrenen und klugen Menschen kennen. In seiner Kleidung war er von einer Nachlässigkeit, deren sich an einem Berliner Gymnasium kein Schüler, geschweige denn ein Lehrer schuldig machen würde. Ganz unmöglich waren seine Westen. Sooft er die alte rotkarierte anhatte, entschuldigte er sich mit seinem guten Schmunzeln: »Ich trag' sie seit zwanzig Jahren; vielleicht wird sie wieder einmal modern. Das ist auch Geschichte.« Das Schulbuch mußten wir einfach seitenweise auswendig lernen. Er gab sich nicht damit ab, den Stoff mit andern Worten vorzutragen; das wäre Zeitvergeudung. Auch auf Prüfungen ließ er sich nicht ein; nur dann und wann stellte er durch kurze Fragen fest, ob wir die Jahreszahlen aus unserm »Gindely« ordentlich gebüffelt hätten. An diese kurzen Fragen knüpfte er dann an, um uns, immer interessant, irgend etwas zu erzählen, was mit dem historischen Ereignisse in Verbindung gebracht werden konnte. Wagte er auch Abstecher auf das Gebiet der Nationalökonomie und auf die Geschichte der Prager Baukunst, brachte ihn einmal sogar Gustav Adolf darauf, die Geschichte der Einführung des Tabaks zu erzählen und uns vor übermäßigem Tabakschnupfen zu warnen, so hatten wir doch alle das Gefühl, dem freundlichen Manne dankbar sein zu müssen. Aus Dankbarkeit und Liebe lernten wir[88] den »Gindely« ganz ordentlich; denn wenn wir nichts wußten, drohte er immer, nichts mehr zu erzählen.

Auch die andern Lehrer waren trotz individueller Wunderlichkeiten ganz kenntnisreich in ihrem Fache, wenn auch fast keiner ein Spezialist war, wie das jetzt von einem deutschen Oberlehrer verlangt wird. Der Lehrer des Griechischen, der feine Jahn, war ernstlich nervenkrank; wir behandelten ihn rücksichtsvoll; er war aber auch ein feiner Geist und wir hätten bei ihm Homer und Sophokles lieben lernen können, wenn die Lektüre nicht ohne Gnade auf die unabwendbare Wiederholung der grammatischen Regeln herausgelaufen wäre. Die Schuld lag aber nicht am Lehrer, sondern an den Bestimmungen des Schulregulativs: Grammatik sollten wir lernen, nicht den Glanz der antiken Welt begreifen.

Für die Naturgeschichte hatten wir einen heimlichen Darwinisten zum Lehrer, der uns mit großer Kühnheit all den Gedächtniskram schenkte, welcher vom Lehrplan verlangt wurde. Philosophische Propädeutik wurde von einem Kreuzherrnordenspriester vorgetragen; der Mann war nicht ohne Scharfsinn und führte uns ganz geschickt in die Spielregeln der alten Logik ein.

Unser Mathematiker Nacke gar war ein genialischer Herr und soll ein hervorragender Fachmann gewesen sein. Er liebte es aber, jede zweite oder dritte Stunde mit einer Philippika auszufüllen, die gegen die Mißstände der Zeit, gegen die Fehler der österreichischen Politik oder gegen die Schülergemeinheit gerichtet war. Er war ein leidenschaftlicher Redner. Wir waren wirklich so gemein, ihn zu solchen Standreden zu verleiten, wenn wir kein neues Pensum aufbekommen wollten. Es gab ein unfehlbares Mittel, ihn die Schleusen seiner Beredsamkeit aufziehen zu lassen; wir waren nur zu[89] schüchtern, von diesem lustigen Mittel oft Gebrauch zu machen. Der Mathematiker war nämlich derjenige Lehrer, der – auch wenn er die erste Stunde des Tages hatte – den Unterricht ohne Gebet begann; wir wußten, er war ein Freigeist. Wollten wir also keine Mathematikstunde haben, so brauchte sich bloß einer der Schüler zu erheben und im Auftrage der Klasse für irgendeine Versäumnis um Entschuldigung zu bitten: wir hätten zuviel aus »Religion« aufbekommen. Dann ging es gleich los. Und ich hätte dem wilden Kritiker nicht gewünscht, daß er denunziert worden wäre; er liebte mitunter starke Ausdrücke. Sonst hätten wir viel bei ihm lernen können, wenn ... ja wenn in der ganzen Klasse mehr als zwei Schüler gewesen wären, die mathematische Begabung besaßen; aber nach dem Lehrplan hatten wir Trigonometrie und analytische Geometrie, Logarithmen und Gleichungen zu erlernen, das Pensum mußte den unbegabtesten Schülern eingepaukt werden, und so wurde die Mathematikstunde auch bei diesem Lehrer und auch für die beiden mathematischen Talente langweilig.

Das Gegenstück zu diesem Manne war der Physiklehrer; ohne ein komisches Original wären Schulerinnerungen ja unvollständig. Es war ein alter ausrangierter Herr, der vielleicht das bißchen Physik der vormärzlichen Zeit ganz gut vorgetragen hatte und jedenfalls hübsch experimentierte. Nun hatte aber ein neuer Lehrplan vorgeschrieben, Physik müßte mit mathematischen Begründungen wissenschaftlich gemacht werden. Unser armer Lehrer hatte keinen mathematischen Sinn. So lernte er denn die langen Berechnungen wie Verse einer unverstandenen Sprache auswendig und schrieb sie keuchend und schwitzend auf die Tafel, den großen[90] nassen Schwamm immer in der linken Hand; fing er eine neue Zeile an, so wischte er die obere Zeile immer schnell fort, damit der Unsinn nicht nachweisbar wäre, den er zustande gebracht hatte. Es herrschte ein freundliches Verhältnis zwischen diesem Lehrer und uns: er gab nur gute Zensuren und wir lachten ihn nicht aus. Daß wir einmal vor der Mittagspause Schwefelwasserstoffgas unter seinem Katheder entwickelten und das mit seinen eigenen Chemikalien – mea culpa, mea maxima culpa, das wird man uns verzeihen. Es war ein wundervoller Frühlingstag und wir wollten einen Bierausflug machen. Der Streich gelang vortrefflich. Das Klassenzimmer war um zwei Uhr nicht zu benützen, die Quelle des furchtbaren Geruches wurde nicht entdeckt und wir wurden entlassen. Noch am folgenden Morgen stank es entsetzlich.

Auch der Lehrer der tschechischen Sprache war nicht ohne Narretei; doch auch mit ihm hatten wir Mitleid und behandelten ihn mit Schülerwohlwollen.

Nun wußten wir ganz genau, daß unser Ordinarius, bei dem wir hätten Latein und Deutsch lernen sollen, für unser Fortkommen auf der Schule wichtiger war als alle anderen Lehrer zusammen. Von ihm hing es ab, welche »Klassen« wir aus den beiden wichtigsten Schulgegenständen erhielten, von ihm hing es ab, ob wir ein Vorzugszeugnis bekamen oder nicht. Und dieser Ordinarius war, wie ich ihn geschildert habe. Es war kindisch von uns, daß wir auch an seiner modischen Kleidung Anstoß nahmen und an dem Taschenkämmchen, mit dem er immer wieder seinen Scheitel ordnete. Aber wir waren in unserm Rechte, wenn wir Bosheit mit Haß erwiderten. Der Mann war aus Anlaß der letzten österreichischen Gymnasialreform (durch Bonitz, der[91] 1849 nach Wien berufen worden war) aus dem Reiche geholt worden, fühlte sich dem Österreichertum unendlich überlegen und ließ uns seine Verachtung fühlen, anstatt uns zu unterrichten. Vielleicht besaß er wirklich einiges Fachwissen; er hatte einmal sogar einen Horaz herausgegeben, keine Schulausgabe, eine wirkliche Edition. Das rieb er uns unter die Nase, wenn er einmal davon ausruhte, ein paar Unglückliche zu quälen. So saß er täglich zwei Stunden vor uns, seufzte über sein Schicksal wie eine unverstandene Frau und klagte über unsere mangelhafte Vorbildung. Höchstens mit fünfen oder sechsen von uns werde er den Horaz lesen können; diese Selekta werde er in den Vorhof der wahren Philologie einführen. Aber es blieb bei solchen Versprechungen, er leistete nichts. Auch am Horaz wurden nur grammatische Regeln wiedergekäut, vielleicht wirklich darum, weil die Mehrheit der Schüler zu wenig Latein gelernt hatte. Und ab und zu trug er uns, eitel und selbstbewußt, eine seiner Konjekturen vor; Schüler, die nicht zehn lateinische Zeilen ohne Anstoß lesen konnten, die von lateinischer Prosodie keine Ahnung hatten, bekamen wie zum Naschen vorzeitig einige Spielereien der höhern Kritik. Wir ließen uns damals einreden, so wäre jeder preußische Oberlehrer: ein mißlungener Privatdozent und darum zum Gymnasiallehrer verdorben; ich habe später dem preußischen Oberlehrer Abbitte geleistet: unser Ordinarius war ein Jugendverderber auf eigene Faust.

Ich werde noch darauf zurückkommen, in welcher Weise ich, der ich mich schon zu fünfzehn Jahren der deutschen Literatur zugeschworen hatte, der ich ein deutscher Dichter sein wollte, im Gebrauche der deutschen Sprache ausgebildet worden bin. Auf dem Kleinseitner[92] Gymnasium war auch dieser Unterricht in den Händen des Ordinarius. Er beschränkte seine Tätigkeit darauf, sich über unsere Prager Idiotismen lustig zu machen, was ganz nützlich gewesen wäre; nur daß er so unwissend war, auch gute Formen der österreichischen Mundart zu bekämpfen. Ich erinnere mich nicht, sonst von ihm gefördert worden zu sein. Seine Faulheit war so groß wie seine Gewissenlosigkeit. Er ließ in der Stunde deutsche Gedichte vorlesen und erklären und machte seine schlechten Witze über die Vorlesung und über die Erklärung der Schüler. Literaturgeschichte stand auf dem Programm; aber niemals haben wir von ihm ein Wort über das Leben oder über den Charakter eines Dichters vernommen. Unser trefflicher Schulrat soll einmal mit einem Donnerwetter drein gefahren sein, als er bei einem Besuche unserer Klasse festgestellt hatte, daß unser Lehrer selbst Schelling und Schlegel verwechselte und daß uns der Name Walter von der Vogelweide nicht genannt worden war; der Ordinarius spöttelte in der nächsten Stunde über den lyrischen Tenor des Landestheaters, der auch als Walter im Tannhäuser eine Brille trug; sonst wurde an der gottsträflichen Unterrichtsweise nichts geändert. Unsere deutschen Aufsätze arbeiteten wir so, wie sie an allen Gymnasien gearbeitet werden; ein blödsinniges Thema wird gegeben und über dieses Thema wird nach einem blödsinnigen Rezepte allerlei Schulschwatz zusammengeredet, heute wie in den alten Rhetorenschulen. De-Schulschwatz wird in ein System gebracht. Aber anders, wo wird so ein deutscher Aufsatz wenigstens korrigiert und der Schüler könnte, wenn der Lehrer danach wäre, die gröbsten Stilfehler bessern. Wir haben von unserm Ordinarius niemals auch nur einen einzigen Aufsatz[93] korrigiert zurückerhalten; es ist mir doch unverständlich, wie eine solche Nachlässigkeit von der Aufsichtsbehörde geduldet werden konnte. Der Lehrer brachte irgend einmal den ganzen Stoß verschmierten Papiers in die Klasse zurück, ohne vorher auch nur einen Blick hineingeworfen zu haben; dann griff er in den Wust, holte irgendeine Arbeit heraus, las einige Zeilen und riß schale Witze, die weder mit dem Inhalt noch mit der Form des Aufsatzes irgend etwas zu tun hatten.

Ich weiß, daß ein besserer Kritiker als dieser Lehrer auch den Stil dieser Niederschrift tadeln könnte; einen Schrei der Empörung wollte ich ausstoßen, eine Anklageschrift verfassen, und habe mich doch immer wieder verleiten lassen, mit einiger Heiterkeit der dummen Schülerzeit zu gedenken. Aber ich hätte lügen müssen, hätte ich völlig die Erinnerung unterdrücken wollen an manche gute Stimmung der Schulzeit, welche ja eben immer die schöne Jugendzeit ist. Was immer an Schönheit aus jener Periode der mir gestohlenen Zeit herüberstrahlt, was mir das Durchdenken jener alten Erinnerungen oft zu einer Freude macht, was mich mit wehmütiger Dankbarkeit an einige Kommilitonen jener Tage zurückdenken läßt, besonders an einen, meinen lieben alten Freund Viktor Lenk, das war nicht die Schule, das war die Jugendzeit. Man war achtzehn Jahre alt. Da war die Welt noch schön, die Welt jenseits der Schule. Und wenn ich versichern kann, daß auch damals das Betreten der Schulklasse fast täglich eine Qual bedeutete, so wird man mir zugestehen, daß etwas krank gewesen sein muß in der Einrichtung des Schulwesens.

Der Kardinalfehler schien mir und scheint mir noch heute eine tiefe Verlogenheit des Systems, eine offenbare Kluft zwischen dem Schulprogramm und der[94] Schulleistung. Die Kenntnisse der Lehrer wie der Schüler am Kleinseitner Gymnasium waren bedeutender als am Klostergymnasium. Aber der wesentliche Fehler blieb sich gleich. Im Schulprogramm – wie heute noch in den Reden, die an Philologentagen beim Essen und im Landtage von Ministern und von humanistisch gebildeten Abgeordneten gehalten werden, – hieß es immer, man werde durch das Studium des Lateinischen und des Griechischen in den Geist der antiken Welt eingeführt. Und auch moderne Bildung sei ohne diesen Geist nicht zu erwerben. Beides ist eine Lüge. Der antike Geist ist freilich, historisch betrachtet, die Grundlage der gegenwärtigen Bildung im Abendlande geworden; doch es ist töricht und gefährlich zugleich, von andern als von Historikern zu verlangen, daß sie die Geschichte ihres eigenen geistigen Wachstums studieren. Das Ende der Renaissance ist gekommen; wir können auf eigenen Füßen stehen und müssen die lateinische und die griechische Krücke, meinetwegen mit dankbarer Pietät, beiseitelegen und sie den Philologen für ihre Künste überlassen. Unsere jungen Leute können moderne Bildung, die von der Zeit geforderte Bildung, nicht freudig in sich aufnehmen, solange ihnen die lateinische und die griechische Sprache aufgezwungen werden. Die künstliche Aufrechterhaltung der alten Lateinschule macht uns zu seltsamen Geschöpfen; als ob eine Schlange alle Häute, die sie abgestreift hat, mit sich weiter schleppen müßte; als ob jedermann die Leichen seiner Ahnen auf seinem Rücken durchs Leben tragen müßte.

Aber auch das Versprechen war und ist eine Lüge, man würde auf der Gelehrtenschule den Glanz der antiken Welt erblicken. Ist ja nicht wahr. In den antiken Geist dringen vielleicht die besten Philologen ein wenig[95] während ihrer Universitätsjahre. Von uns Schülern – wir waren jetzt ungefähr vierzig in der Klasse – wurden nur drei oder vier so weit gefördert, daß sie mit knapper Not einen alten Klassiker silbengetreu übersetzen konnten; auch schablonenhafte Begeisterung für Homer und für Sophokles fehlte bei diesen Auserwählten nicht; aber von einem Verständnis für die besondere Art, für die Unvergleichlichkeit und Unnachahmlichkeit, also auch für die Fremdheit antiken Geistes fehlte es durchaus. Und gar die anderen Schüler, neun Zehntel der Klasse, gingen mit gutem Erfolge durch das Abiturientenexamen und hatten doch in den alten Sprachen nie etwas anderes gesehen als Zuchtruten. Sie hatten von den alten Sprachen weder ein Vergnügen noch einen Nutzen und lernten ein paar Brocken nur, um sie gleich nach dem Examen wieder zu vergessen. Die Zeit ist hoffentlich nicht mehr fern, daß man über den lateinischen Moloch, dem heute die besten Jugendjahre geopfert werden, so grimmig lachen wird, wie man seit einiger Zeit über die Geltung des Hexenhammers lacht, daß man allgemein anerkennen wird: die Renaissance hat ausgelebt, das Griechentum ist zum zweiten Male gestorbenII.[96]

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 85-97.
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